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Jazz konnte nicht sagen, wie lange sie beide in dem Wagen saßen, der im Leerlauf auf dem Gehsteig stand. Er fühlte sich völlig benommen, und er wusste nicht, wieso.

Schon mal daran gedacht? Dass du vielleicht schlicht überfordert bist?

Du bist hier überfordert, Dear Old Dad. Du bist derjenige, um den sich die Schlinge zuzieht.

Aber er wusste, dass das nicht stimmte. Nicht einmal ansatzweise. Er war Billy jetzt eben nicht wirklich nähergekommen. Das Prepaidhandy, das er aus Belsamos Wohnung mitgenommen hatte, war aus gutem Grund so eines: damit man es wegwerfen und nie zurückverfolgen konnte. Billy hatte sicherlich ebenfalls eines gehabt und es in dem Moment, in dem er aufgelegt hatte, in den … den …

»Wie heißt der Fluss gleich noch?«, fragte er Hughes.

»Welcher Fluss?«

»Über den wir gefahren sind. Um nach Manhattan zu kommen.«

»Der East River.«

Jazz nickte. Er konnte sich gut vorstellen, wie Billys Handy in den East River sank, um in die endlose Anonymität des Atlantiks geschwemmt zu werden.

»Du hast ihn am Telefon gehalten, solange es ging«, tröstete Hughes. »Wahrscheinlich hätten wir den Anruf ohnehin nicht zurückverfolgen können. Wir hätten vielleicht ein Signal von einem Handymasten bekommen, aber Billy ist schlau – bis wir irgendwo hingekommen wären, wäre er vermutlich längst wieder fort gewesen.«

»Er sagte, ich soll dieses Telefon behalten«, sagte Jazz. »Wir würden uns wieder sprechen.«

Hughes schürzte die Lippen und nickte. »Okay. Dann bringen wir es zu den Jungs von der Technischen Unterstützung. Die können es so klonen, dass du mit ihm reden kannst und sie ihn gleichzeitig zurückverfolgen. Wir kriegen ihn, Jasper. Er spielt jetzt mit den großen Jungs, wir sind keine Stümper hier beim NYPD.«

Jazz schnaubte höhnisch, hielt aber sofort inne. Er hatte nicht respektlos klingen wollen, aber sie sprachen hier von Billy. Und Billy war auch kein Stümper. Billy hatte die Polizei von sechzehn verschiedenen Staaten, ganz zu schweigen vom FBI selbst, an der Nase herumgeführt. Eine Verbrecherlaufbahn, die sich über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckte. Da konnte die New Yorker Polizei so wenig stümperhaft sein, wie sie wollte.

Jazz’ Schnauben war nicht unbemerkt geblieben.

»Jeder Terrorist auf dieser Welt hat es seit 9/11 auf unsere Stadt abgesehen«, sagte Hughes kühl. »Willst du wissen, wie viele Erfolg hatten? Ich gebe dir einen Tipp: Es fängt mit einem N an und hört mit einem Doppel-L auf, so viele. Dein Dad ist nichts weiter als ein Terrorist mehr, mit einer Reihe von Anschlägen hinter sich und einer NYPD-Dienstmarke vor sich, die sein Ende besiegeln wird. Verlass dich drauf, Jasper, verlass dich drauf.«

Einen Moment lang glaubte ihm Jazz. Es war vielleicht der beste Augenblick seines Lebens.

Dann meldete sich die Realität zurück.

Billy war Realität, und die Realität war Billy. Die beiden waren unlöslich miteinander verbunden, sie umgaben Jazz’ Leben wie eine Kette und sandten ihre stählernen Fangarme zu jedem aus, der ihm nahekam.

»Wie hat er dir denn das Telefon zugespielt?«, wollte Hughes wissen. »Und was treibst du eigentlich ganz allein hier? Ein Glück, dass dich niemand erkannt hat.«

Jazz schluckte. Er hatte keine Wahl – er musste Hughes die Wahrheit sagen.

Als er Hughes alles – wirklich alles – erzählte, machte der Detective große Augen, und seine Miene wurde immer ungläubiger. Immer wenn Jazz dachte, jetzt hätte er das Schlimmste gebeichtet, kam der nächste Teil der Geschichte … Also habe ich mir seine Post angesehen, ach ja, und hier ist ein Foto von dem Kuvert Und der Gesichtsausdruck des Polizisten wurde noch ein wenig gequälter.

»Ach, du lieber Himmel«, sagte Hughes, dem sichtlich übel war. »Ich kann gar nicht aufzählen, wie viele Gesetze du gebrochen hast.«

»Ich glaube, neun«, sagte Jazz hilfreich und hoffte, Hughes ein Lächeln zu entlocken.

Damit hatte er kein Glück. »Eher ein Dutzend. Für den Anfang. Was ist in dich gefahren … Nein, nein egal. Sag es mir nicht. Ich will es gar nicht wissen …«

»Wir haben jetzt einen Decknamen von ihm. C. D. Williams. Wir haben die Bestätigung, dass er mit Billy in Verbindung steht.«

»Wir haben einen Scheißdreck. Du hast …«

»Ich bin kein Polizist«, stellte Jazz klar. »Sie können alles verwenden, was ich in der Wohnung gefunden habe. Es gibt keine unzulässig erworbenen Beweismittel. Keine Verletzung der Rechte aus dem Vierten Zusatzartikel. Verhaften Sie mich ruhig wegen Einbruchs und was ich sonst noch alles angestellt habe, als ich in der Wohnung war. Ich habe in seiner Post herumgestöbert und ein Foto gemacht. Das kostet wahrscheinlich nicht einmal fünfzig Dollar. Ich werde mich schuldig bekennen. Es ist mein erstes Vergehen – ich bleibe bestimmt straffrei oder kriege Bewährung. In der Zwischenzeit können Sie die Beweismittel gegen Belsamo verwenden.«

»Züchten sie bei euch da unten im Süden eine spezielle Sorte Idioten oder was?«, brauste Hughes auf. »Kein Richter, der seine Robe verdient, wird Billy Dents Sohn beim ersten Vergehen straffrei bleiben lassen, egal, worum es sich handelt. Kein Staatsanwalt, der seinen Job liebt – und glaub mir, Jasper, sie lieben ihn alle –, lässt sich auf irgendeinen Handel ein, bei dem du unter der Höchststrafe bleibst. Du wanderst ins Gefängnis, das steht fest.«

Jazz wollte protestieren, aber Hughes würgte ihn mit einer Drohgebärde ab. »Dazu«, fuhr der Detective fort, »kommt die Tatsache, dass du in offizieller Eigenschaft für das NYPD und die Task Force tätig warst. Von Montgomery bestätigt und alles. Jeder Strafverteidiger der Welt, selbst der am schlimmsten überlastete Pflichtverteidiger in der gottverdammten Bronx, würde jeden noch so dusseligen Richter in dieser Stadt davon überzeugen, dass du einen Durchsuchungsbefehl für diese Wohnung gebraucht hättest. Nichts von diesem Beweismaterial ist zulässig. Es ist wertlos. Schlimmer als wertlos, weil es dich außerdem noch in den Knast bringen wird, wo du uns nicht helfen kannst und wo sie dich fünf Minuten nach deiner Einlieferung vergewaltigen und abstechen werden.«

»Sie würden mich nicht in den allgemeinen Vollzug stecken«, sagte Jazz mit einigem Selbstbewusstsein.

Hughes sah ihn müde an. »Dann kommst du in Einzelhaft wie dein Alter. Hört sich das gut an für dich?«

Jazz zwang sich zu einem Lächeln. »Na ja, er ist immerhin ausgebrochen …«

Hughes schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »Spar dir die blöden Witze! Als dein Vater ausgebrochen ist, sind Leute gestorben!«

»Das weiß ich!«, schrie Jazz zurück. Obwohl er sich geschworen hatte, nie vor jemand anderem die Fassung zu verlieren, nie eine Schwäche zu zeigen, konnte er jetzt nicht anders. Es war, als hätte er seit Wochen ein Netz voll schwerer Steine in stoischem Schweigen mit sich herumgeschleppt und könnte es nicht länger tragen und ertragen. »Glauben Sie, ich weiß das nicht? Glauben Sie, ich weiß nicht, was auf meinem Gewissen lastet? Diese Wachleute sind wegen mir gestorben! Und Helen Myerson, Ginny Davis und Irene Heller sind tot, weil ich nicht schnell genug kapiert habe, wer der Impressionist ist. Und all die Menschen, die Billy getötet hat, seit ich ungefähr zehn war – seit der Zeit, als ich ihn hätte anzeigen oder selbst töten können –, diese siebenundvierzig Menschen sind wegen mir gestorben. Und Melissa Hoover«, fiel ihm ein. »Die können Sie auch noch mit dazuzählen, Hughes! Und setzen wir meine Mom ebenfalls auf die Liste, denn ich hätte in der Lage sein müssen, sie zu retten. Zählen Sie alles zusammen, nur zu. Das sind mehr als fünfzig Leute auf meiner Liste. Ich übertreffe Speck, Bundy und Dahmer zusammen. Ich bin einer der größten Mörder der US-Geschichte!« Er trat frustriert gegen das Armaturenbrett und hinterließ eine breite Spur.

Du bist ein Killer. Du hast nur noch niemanden getötet.

Billy hatte recht. Er hatte die ganze Zeit recht gehabt. Billy hatte immer recht.

Ich bin Ugly J.

»Willst du jetzt weinen?«, fragte Hughes sanft.

Stichelte Hughes wieder? Versuchte er, eine Reaktion zu provozieren? Oder war er tatsächlich besorgt?

Es spielte keine Rolle. Jazz strengte sich an, seine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, wie ein Ringer zwang er sie unter seine Kontrolle. Wie immer.

»Das war keine Schau«, sagte er gleichmütig. »Aber ich könnte es. Soll ich?«

Hughes seufzte und sah geradeaus. »Lieber nicht.« Er ließ den Wagen an. »Verdammt noch mal, Jasper. In was für eine Lage hast du mich gebracht?«

»Sie haben alles riskiert, um mich hierherzubringen. Das ist …«

»Das ist etwas anderes jetzt.« Hughes fuhr los, in Richtung Norden. »Das war ein kalkuliertes Risiko meinerseits. Geringe Gefahr, hoher Gewinn. Keine Gesetze verletzt. Und es war meine Entscheidung. Verstehst du das, Jasper? Es war meine Entscheidung. Ich habe sie getroffen. Diese Geschichte jetzt hast du mir aufgezwungen.«

»Tut mir leid.« Es war eine automatische Reaktion. Wenn Leute böse auf einen waren, entschuldigte man sich. Meistens funktionierte es.

»Ich weiß.« Hughes zuckte mit den Achseln. »Ich nehme es zumindest an. Auf jeden Fall bleibt das Ganze vorläufig unter uns. Du erzählst es nicht einmal deiner Freundin oder deiner Großmutter. Und ganz bestimmt erzählst du es niemandem aus der Task Force. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Ich bringe dich ins Hotel. Morgen kommst du nicht aufs Revier. Ich erzähle Montgomery und Morales irgendein Märchen. In der Zwischenzeit schaue ich, ob ich Belsamo überwachen lassen kann, ohne Verdacht zu erregen.«

»Sie glauben mir also?«

»Was bleibt mir anderes übrig? Unglücklicherweise muss ich die Sache jetzt auf die harte Tour machen. Schick mir dieses Bild. Sofort. Ich sehe zu, was ich darüber in Erfahrung bringe.«

Jazz blieb still, während Hughes ihn zum Hotel zurückkutschierte. »Danke«, sagte er, als der Detective vor dem Haus hielt.

»Dank mir nicht dafür«, sagte Hughes und fuhr davon.