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Connie war sich nicht einmal bewusst, dass sie immer noch auf die Geburtsurkunde starrte, als plötzlich eine Stimme hinter ihr ertönte.

»Hey! Hey, was tun Sie da?«

Sie blickte sich um und stellte fest, dass die Stimme hinter einer Hecke im Osten des Grundstücks hervorkam. Dort stand ein Mann mit einem Baseballschläger.

»Das ist Privatgrund!«, rief er.

Connie erstarrte. Wer zum Teufel war dieser Mann, dass er sie zu verscheuchen versuchte? Es war ja nicht sein Grundstück. Sie öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er verschwinden solle, aber ehe sie dazu kam, fügte er an: »Ich rufe die Polizei!« Und wie um das zu beweisen, hielt er ein Handy in die Höhe.

Oh … verdammt.

Unbefugtes Betreten. Verfälschung von Beweismittel. Beschädigung von Privateigentum … Und das waren nur die Vergehen, die Connie einfielen. Das Justizsystem kannte wahrscheinlich noch jede Menge andere.

Sie hob die Kassette und ihren Inhalt auf und lief in die entgegengesetzte Richtung davon. Schaufel und Spitzhacke ließ sie zurück. Jetzt schulde ich Howie mehr als zwanzig Mäuse, ging ihr absurderweise durch den Kopf.

»Hey!«, rief der Mann. »Hey! Hiergeblieben! Ich rufe die Polizei! Ich meine es ernst!«

Ich weiß, dass du es ernst meinst, du Blödmann, dachte Connie, während sie wie der Teufel zum Wald und zum Schutz, den er bot, lief. Was glaubst du, warum ich so renne?

Sie kannte sich im Wald und auf den Schleichwegen rund um Lobo’s Nod nicht so gut aus wie Jazz und Howie, aber Connies Handy war exzellent ausgerüstet. Ihr GPS führte sie aus dem Wald in eine Siedlung, wo sie hinter einem Schuppen versteckt stehen blieb, um zu verschnaufen und Howie eine SMS zu schreiben. Howie war zum Glück fertig in Jazz’ Haus und konnte sie ohne Probleme abholen, auch wenn er sich – natürlich – wegen der Schaufel und der Spitzhacke beschwerte.

Er hörte auf, sich zu beschweren, als ihm Connie die Kassette und ihren Inhalt zeigte.

Und die Geburtsurkunde.

»Das ist der Hammer«, sagte sie. »Das ändert alles.«

»Wieso? Das ist also Jazz’ Geburtsurkunde. Jetzt wissen wir, dass er nicht in Kenia zur Welt gekommen ist. Und wenn schon.«

Sie zeigte auf eine bestimmte Stelle der Urkunde. Howie riss die Augen auf und gab einen Laut von sich, als wäre er geschubst worden.

»O mein Gott.« Er starrte ungläubig auf das Papier. »Ist das wahr?«

»Ja.«

Die Geburtsurkunde war vollkommen normal und unauffällig. Bis auf eine Sache.

Das Kästchen für VATER.

Es war leer.

»Der Name seiner Mutter ist aufgeführt«, stieß Howie hervor, »aber von seinem Dad steht nichts da …«

»Und das bedeutet«, sprach es Connie endlich aus, »dass Jazz vielleicht gar nicht Billys Sohn ist.«

Howie fuhr Connie nach Hause, in Gedanken immer noch bei dem, was er von ihr erfahren hatte. »Sieht aus, als hättest du Schwein gehabt«, sagte er, als er vor ihrem Haus hielt. In der Einfahrt standen keine Autos.

»Mann, es fühlt sich an, als wäre ich tagelang weg gewesen«, sagte sie. »Dabei waren es nur ein paar Stunden.«

»Vielleicht hat deine Mom beschlossen, in der Mall zu bleiben. Erledigungen zu machen oder so, während dein Bruder im Kino ist.«

»Vielleicht. Ich hätte nichts gegen ein bisschen Dusel.« Sie stieg aus. »Kommst du ab jetzt allein klar?«

»Ich bin keine komplette Niete«, erwiderte Howie gekränkt. »Ich kriege meinen Teil schon hin. Du musst es nur auf jeden Fall schicken.«

Sie schwenkte ihr Handy. »Schon passiert. Sag mir Bescheid, was passiert. Und hey – sei vorsichtig.«

Howie setzte rückwärts aus der Einfahrt und fuhr zurück zum Dent-Haus. Er gab sich Mühe, auf die Straße zu achten, aber eigentlich konnte er sich nur auf diesen einen Gedanken konzentrieren, den er nie für möglich gehalten hätte: Was, wenn Jazz nicht Billy Dents Sohn war? Was würde das für seinen besten Freund bedeuten? Es kam ihm unmöglich vor, aber diese leere Zeile in der Geburtsurkunde … Warum sollte sie leer bleiben, wenn der Vater bekannt war? Hatte Jazz’ Mom eine Affäre gehabt? Oder vielleicht einen One-Night-Stand mit einem Mann, den sie nicht einmal kannte?

Ein weiterer Gedanke ging Howie durch den Kopf, einer, bei dem sich seine Eingeweide so zusammenzogen, dass er kurz stehen bleiben musste, ehe er weiterfahren konnte. Was, wenn Billy Dent eins seiner … nun, wenn er eins seiner männlichen Opfer zur Vergewaltigung seiner eigenen Frau gezwungen hatte, und wenn Jazz auf diese Weise empfangen wurde?

Connie hatte Jazz auf der Stelle anrufen wollen. Um ihm die vielleicht beste Nachricht seines Lebens zu sagen. Und Howie konnte es verstehen. Nichts hätte ihm mehr Freude gemacht, als wenn er zu Jazz sagen könnte: Hey, Alter, du machst dir doch immer Sorgen, dass du als Billy Dents Sohn quasi genetisch zum Psycho disponiert sein könntest. Tja, da habe ich eine gute Neuigkeit für dich!

Doch er hatte Connie davon abgehalten anzurufen, denn … war es tatsächlich eine gute Nachricht? Egal wer der Samenspender war, Jazz war immer noch von William Cornelius Dent aufgezogen worden, und das war auf jeden Fall schlecht. Und wäre es wirklich besser zu wissen, dass Billy nicht der Vater war – aber womöglich mit der Waffe in der Hand an der Zeugung teilgenommen hatte? Howie schauderte bei dem Gedanken und hätte sich beinahe übergeben müssen.

Nachdem er seinen Magen und seine Nerven beruhigt hatte, fuhr er zum Dent-Haus zurück. Gramma lief in ihrer Unterwäsche umher, während Samantha sie mit einem Hauskleid verfolgte und anflehte, sich etwas anzuziehen. Howie wandte die Augen ab. Nicht aus Anstand, sondern um dem Anblick verrunzelter alter Haut zu entgehen. Igitt.

Oben sah er auf Jazz’ Computer nach seinen E-Mails. Wie versprochen, hatte Connie ein Bild der Geburtsurkunde geschickt. Howie druckte es aus, faltete es und steckte es in die Tasche, dann ging er nach unten, um Sam dabei zu helfen, Jazz’ Großmutter zu bändigen.

Etwas an Samanthas Gegenwart brachte das Kind in Gramma zum Vorschein, wodurch sie ein wenig leichter zu handhaben war, auch wenn es Howie immer noch mehr als verstörend fand, wenn eine über Siebzigjährige kichernd und das Haar zu Zöpfen geflochten durchs Haus tobte und ihn gelegentlich zu zwicken versuchte. – Wo es ihr gelungen war, hatte er blaue Flecken und Striemen an den Armen.

»Kann ich dir etwas zeigen?«, fragte er Sam, die dabei war, Gramma auf dem Sofa zur Ruhe zu bringen. Wie es schien, hatte sie ihr ein großes Fotoalbum in die Hand gedrückt.

»Jazz hat mich vor dir gewarnt, Howie. Er hat mir gesagt, wie ich mit dir umgehen muss. Auf diesen alten Trick falle ich nicht herein«, sagte Sam. »Wenn ich jetzt Ja sage, will ich nicht deinen Reißverschluss hören.«

»Das wäre mir ein bisschen zu offensichtlich.« Howie schniefte gekränkt. »Überhaupt liebe ich dich um deiner Seele willen.«

Sam war halb über Gramma gebeugt, die in dem Album blätterte, das Hinterteil sehr anziehend herausgestreckt. Sie fixierte Howie über die Schulter, zog die Augenbrauen hoch und richtete sich verärgert auf. »Ach wirklich? Dann hör auf, auf meine Seele zu starren, Junge.«

»Gut.« Er zog die Geburtsurkunde hervor und schwenkte sie in der Luft. »Ich muss dir aber wirklich etwas zeigen.«

»Wirst du ein braves Mädchen sein und dir eine Weile Bilder ansehen?«, fragte Samantha ihre Mutter, die den Atem anhielt und auf ein Bild zeigte.

»Ein schöner Mann!«, rief sie. »Schöner Daddy!«

Es war ein Bild von Billys Vater.

»Ja. Schöner Daddy.« Ein Schauder schien beim Anblick ihres Vaters über Sams Rücken zu laufen. »Schau doch mal, ob du alle Bilder von Daddy findest.«

»Du bist meine Lieblingsschwester«, sagte Gramma und umarmte Samantha mit einer Kraft, über die nur Verrückte verfügen.

»Und du meine.« Sam löste sich von ihr und kam zu Howie in die Küche. Wie er bemerkte, positionierte sie sich so, dass sie durch die Tür ein Auge auf Gramma haben konnte. »Was hast du da?«

Howie gab ihr die Kopie der Geburtsurkunde und erklärte, wie und wo Connie sie gefunden hatte.

Sam überflog sie rasch. »Du glaubst, das ist Billy, der sie darauf gebracht hat?« Sie senkte die Stimme, als sie den Namen aussprach, und ihr Blick huschte schnell zu ihrer Mutter. »Warum sollte er wollen, dass sie das findet?«

»Ich weiß es nicht. Aber hast du bemerkt, dass die Zeile für den Vater leer ist?«

»Ja. Wahrscheinlich ein Versehen.«

»Ein Versehen?« Howie bemühte sich, seine Stimme gesenkt zu halten. Gramma blätterte friedlich in dem Album. Besser, sie nicht zu reizen. »Einem Kerl, der mehr als hundert Leute ermordet, ehe man ihn erwischt, passiert so ein Versehen nicht. Es gibt einen Grund, warum da nichts steht.«

»Es könnte tausend Gründe geben, nicht nur einen. Vielleicht dachte Billy irgendwann, dass Jazz nicht von ihm ist. Er war am Anfang ziemlich wütend, als Janice schwanger wurde. Ich weiß noch, dass Mom das erzählt hat. Aber er hat es überwunden. Ich bin mir jedenfalls sicher, es gab irgendeinen Grund.«

»Zum Beispiel?«

Sam zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Weil mein Bruder komplett verrückt war?«

»War?«

»Ist. Du weißt, was ich meine.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, die Geburtsurkunde hing zwischen ihren Fingern wie etwas Totes oder Sterbendes. »Howie, du musst mir versprechen, dass du und Connie nicht weiter in dieser Sache herumstochert. Lasst die Polizei das machen.«

»Wir versuchen, Jazz zu helfen. Wenn sich herausstellt, dass er nicht Billys Sohn ist …«

»Was dann? Wird es ihm dann plötzlich viel besser gehen? Seine Kindheit wird sich wie von Zauberhand in einer Rauchwolke auflösen? Also bitte. Da ist die Wahrscheinlichkeit noch größer, dass du bei mir einen Stich machst.«

»Einen Stich habe ich bereits gemacht.«

Sam legte verwundert den Kopf schief.

»Ich habe neulich deinen Hintern berührt. Als du abgewaschen hast.«

»Du bist mit deiner Hüfte an mich gestoßen. Das zählt nicht, und einen Stich machst du damit sowieso nicht.«

Howie seufzte. »Es hat sich himmlisch angefühlt.«

Sam stöhnte und massierte sich mit den Daumen die Schläfen. »Hör zu, diese Geburtsurkunde bedeutet nicht das Geringste. Gut möglich, dass sie nicht einmal echt ist. Vielleicht hat Billy sie sich ausgedacht, um Jazz an der Nase herumzuführen. Oder Connie. Oder dich. Oder er hat es einfach zu seiner Unterhaltung getan. Er ist verrückt, Howie. Seine Beweggründe …«

»Sammy J!«, rief Gramma plötzlich. »Sammy J!« Sie kam in die Küche gehüpft, gerötet vor Aufregung, und das Fotoalbum flatterte wie ein riesiger Vogel in ihren verrunzelten Händen. »Ich habe ein Bild von dir gefunden, Sammy! Siehst du? Siehst du?«

»Sehr gut«, sagte Sam stolz. »Gut gemacht!« Und zu Howie sagte sie: »Es ist tatsächlich von mir. Zu meiner Überraschung.«

Howie beugte sich hinunter, um das Bild zu betrachten. Es zeigte ein kleines Mädchen von vielleicht vier oder fünf Jahren in einem Kleid und schmutzigen Turnschuhen, wie es aussah. Sie war sehr unscheinbar, kein Hinweis, dass sie zu der sexy Person heranwachsen würde, die Howie so begehrte. »Gesegnet sei die Pubertät, was?«, sagte er.

»Ach, du Schmeichler«, säuselte Sam sarkastisch. »Ich frage mich wirklich, wie du die Frauen davon abhältst, sich nackt an dich zu schmeißen.«

»Meistens, indem ich einfach nicht aufhöre zu reden«, gab Howie zu.

»Jedenfalls stimmt es, ich war eine Spätentwicklerin«, sagte Sam und blätterte eine neue Seite in dem Album auf. Weitere mittelmäßige Fotos einer präpubertären Samantha. »Bis zur Highschool ist es eigentlich nicht viel besser geworden. Puh …« Sie fing sich. »Du-weißt-schon-wer war derjenige von uns, der gut aussah – so ziemlich vom ersten Tag an.«

Wie aufs Stichwort enthielt die nächste Seite das Bild einer jüngeren Gramma, die müde, aber lächelnd ein Baby im Arm hielt. Howie wusste, ohne zu fragen, wer dieses Baby war.

Zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben sprach Howie nicht sofort aus, was ihm in den Sinn kam. Es war: O Mann. Der Antichrist als Baby