8

»Kann nicht behaupten, dass mir die Idee gefällt«, sagte G. William zu Jazz, seufzte und nahm in seinem Schreibtischsessel Platz. Der Sessel ächzte und quietschte, und Jazz fragte sich, wie er es jedes Mal tat, ob er dabei sein würde, wenn der Stuhl eines Tages ganz den Geist aufgab und sein Besitzer auf dem Boden landete. Heute war anscheinend noch nicht dieser Tag.

»Connie ist ganz Ihrer Meinung«, sagte Jazz. »Sie findet, ich sollte nicht allein fliegen.«

»Dann ist das eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen ich nicht mit deiner Freundin übereinstimme. Ich finde nämlich, du solltest überhaupt nicht fliegen. Du bist siebzehn. Du …«

»… solltest an deine Collegebewerbungen denken und wie du deiner Freundin an die Wäsche gehen kannst und dich nicht auf der großen weiten Welt herumtreiben«, zitierte Jazz die Predigt zu Ende, die ihm G. William regelmäßig hielt. »Ich weiß. Hab ich alles schon mal gehört.«

»Ich leugne ja nicht, dass du eine große Hilfe bei Frederick Thurber warst.« G. William hatte mit intensiver Detektivarbeit endlich den richtigen Namen des Impressionisten ausgegraben. »Aber das war ein Sonderfall. Er hat deinen Daddy imitiert. Jemand, dessen Methoden und besondere Marke Irrsinn du sehr gut kanntest. Was bringt dich darauf, dass du bei diesem Hut&Hund-Mörder zu besonderen Einsichten kommst? Verrückte denken nicht alle gleich. Es ist Hybris, in deinem Fall etwas anderes anzunehmen.«

»Hybris? Lernen wir jetzt jeden Tag ein neues Wort, G. William, oder was?«

Der Sheriff lächelte zum ersten Mal, seit Jazz in sein Büro spaziert war und ihm von seiner Absicht erzählt hatte, mit Hughes nach New York zu fliegen. »Dieser Trick funktioniert bei mir nicht. Du meinst, du kannst mich durch Beleidigungen aus der Fassung bringen, damit ich den Faden verliere? Streich das, so manipulierst du den alten G. William nicht.«

»Schauen Sie«, sagte Jazz und beugte sich vor, als hätte er nie auch nur versucht, den Sheriff zu beeinflussen, »Sie haben Billy gefasst, richtig? Sie haben die Verbindung zwischen seinen anderen Opfern und denen hier in Lobo’s Nod erkannt, und dann sind Sie losmarschiert und haben ihn erwischt, als niemand sonst auf der Welt dazu in der Lage gewesen wäre. Aber wenn jemand anderer – und auch nicht der Impressionist, sondern jemand, der nicht Billy kopiert – anfangen würde, wieder Leichen in Lobo’s Nod aufzutürmen, dann würden Sie ja auch nicht mit den Schultern zucken und sagen: ›Tja, Verrückte denken leider nicht alle gleich. Ich schätze, ich versuche erst gar nicht, diesen neuen Typen zu fassen.‹ Oder?«

Der Sheriff zog eines seiner säuberlich gewaschenen und mit Monogramm versehenen Taschentücher hervor und schnäuzte sich herzhaft. »Nein. Aber aus alldem ziehe ich nur den Schluss, dass ich nach New York fliegen sollte, nicht du.«

War das ein Witz? Manchmal konnte es Jazz nicht sagen. Der Sheriff hatte geschworen, dass Billy Dent und die Jagd auf ihn schon ein Serienmörder zu viel für ihn gewesen sei, aber vielleicht war er eifersüchtig, weil man Jazz in die große Stadt rief.

»Ich könnte ein gutes Wort für Sie einlegen«, sagte er leichthin.

G. William verscheuchte den bloßen Gedanken mit einer Handbewegung, als würde er einen schlechten Geruch fortwedeln. »Wenn es mich in die Großstadt gezogen hätte, hätte ich das Angebot des FBI annehmen können, als ich noch wesentlicher jünger war und die hübschen Mädchen in Verzückung geraten ließ. Wenn du nach New York fliegen und diesen Leuten helfen willst, ist es deine Sache.«

»Äh, stimmt.«

»Aber«, und hier beugte sich G. William über den Schreibtisch und zeigte auf Jazz, »hör mir gut zu, Jasper Francis. Daraus wird nichts Gutes entstehen. Du denkst, dass du dort in New York etwas finden wirst.«

»Allerdings. Einen Serienmörder.«

»Nein. Mehr als das. Du denkst, dass du deine Seele finden wirst. Seit ich dich kenne, befürchtest du, eines Tages durchzudrehen und wie dein Vater zu enden. Und du suchst nach Beweisen, dass das nicht passieren wird. Was du nicht begreifst, ist: Das Suchen ist der Beweis. Glaub mir, Billy Dent hat sein Leben lang nicht einen Moment gezweifelt an dem, was er war und was er tat. Dein Zweifel ist deine Seele, Junge.«

Es klang absolut vernünftig, und Jazz wünschte, er könnte es glauben. Aber er wusste zu viel. Er wusste von zu vielen Serienmördern, die über ihre eigenen Taten entsetzt waren, von welchen, die aus einem Impuls heraus gehandelt hatten und später diesen Impuls nicht mehr verstanden. Und natürlich von solchen, die aus einem Impuls heraus gehandelt und zu ihrer Freude entdeckt hatten, dass es ihnen gefiel, dass das Blut, die Folter und andere Dinge sie ausfüllte und ihr Verlangen stillte wie nichts sonst.

»Ich suche in New York nur nach einem Killer. Und angeblich gibt es gute Bagels dort.«

G. William betrachtete ihn einen Moment lang schweigend, dann seufzte er. »Bring mir ein Knish mit«, sagte er schließlich. »Ich habe seit zehn Jahren kein anständiges mehr gegessen.«

Eine Reise nach New York hätte keine größeren Schwierigkeiten bereiten sollen, als einen Koffer zu packen und zum Flughafen zu fahren, aber Jazz besaß nicht einmal einen Koffer. Was so einem Gegenstand im ganzen Haus am nächsten kam, war eine verstaubte, nach Mottenkugeln riechende Reisetasche, die Gramma wahrscheinlich bei ihren Flitterwochen 1887 benutzt hatte. Oder wann immer sie jung gewesen war. Bei der Vorstellung, einen Detective des NYPD mit diesem abgestoßenen unförmigen Ding nach New York zu begleiten, verging Jazz die Lust darauf. Deshalb tat er, was er immer tat, wenn er Hilfe brauchte.

»Das hier«, sagte Howie und hielt einen eleganten schwarzen Rollkoffer hoch, als enthielte er entwendete Diamanten aus einem Fantasie-Königreich, »ist das neueste und großartigste an Reisetechnologie. Fällt garantiert nicht um. Verstärkte Tasche für Wasserflaschen. Getrenntes Außenfach für einen Laptop …«

»Ich habe keinen Laptop.«

»… Einstangen-Griffkonstruktion zum Schieben und Ziehen«, fuhr Howie unbeirrt fort. »Besonders geölte Kugellager für sanftes Gleiten.« Howie zuckte mit den Augenbrauen. »Hat die Verkäuferin gesagt.«

Jazz nahm Howie den Rollkoffer ab, öffnete den Reißverschluss und sah hinein. »Jede Menge Platz, und ich muss mich am Flughafen nicht damit schämen. Das ist alles, was mich interessiert.«

»›Wer wird auf deine Großmutter aufpassen, während du fort bist?‹, fragte er und kannte die Antwort bereits«, sagte Howie trocken.

»Tja, was das angeht …«

Jazz hatte lange und angestrengt darüber nachgedacht, was er wegen seiner Großmutter in den nächsten Tagen unternehmen sollte. Er hatte sogar überlegt, sie mit nach New York zu nehmen, aber wenn er einen ganzen Flug lang auf engstem Raum mit ihr zusammen verbringen musste, würde er wahrscheinlich ohne Fallschirm aus der Maschine springen. Und dann die Vorstellung von seiner Großmutter allein in der größten, verrücktesten Stadt der Welt, während Jazz unterwegs war, um für die New Yorker Polizei einen Mörder zu suchen. Es bestand eine minimale Chance, dass sich Grammas Verrücktheit und die der Stadt perfekt ergänzten, aber er wollte nicht darauf bauen. Vor seinem geistigen Auge tauchten Bilder auf, wie Gramma Touristen angriff, und er hörte sie beinahe schreien: »Das Miststück soll aufhören, mich anzustarren«, während sie auf die Freiheitsstatue zeigte.

Nein, Großmutter würde in Lobo’s Nod bleiben müssen. Er konnte sich nicht auf die üblichen Verdächtigen zu ihrer Beaufsichtigung stützen. Schön und gut, wenn Erickson ein paar Stunden bei ihr saß, aber wenn sich jemand von G. Williams Personal richtig um sie kümmerte, würde es nicht lange dauern und die Frage des Sorgerechts für Jazz stand ganz weit oben auf der Prioritätenliste des Sheriffs. Dann würde Jazz in einer Pflegefamilie landen und Gramma in einem Heim. Dieser Kugel war er schon einmal ausgewichen, als Billy in einem unvergleichlichen Anfall väterlicher Fürsorge Melissa Hoover auf schreckliche Weise abgeschlachtet und die Dateien gelöscht hatte, die sie zu Jazz’ Situation zusammengetragen hatte. Es würde Monate dauern, bis der Sozialdienst neues belastendes Material zur Verfügung hatte. Jazz hoffte, er würde bis dahin achtzehn werden, und dann war die ganze Sache hinfällig.

In der Zwischenzeit schied die Polizei – die Jazz zwar freundlich gesinnt, aber durch ihren Diensteid verpflichtet war, Grammas dürftiger werdende Verbindung zum Planeten Erde zu melden – als Babysitter aus. Und Howie war bereit, aber zu schwach. Gramma konnte ernsthaft Schaden anrichten, wenn sie bei einem ihrer Anfälle auf ihn losging.

Jazz hatte keine andere Wahl gehabt, als seine Tante Samantha anzurufen.

Es war merkwürdig, sie sich als »Tante Samantha« vorzustellen. Er war der Frau in seinem ganzen Leben nie begegnet – Billys ältere Schwester war unmittelbar nach der Highschool von Lobo’s Nod weggezogen und hatte nie einen Blick zurückgeworfen. In den Jahren, seitdem Billys Wüten die Nachrichtensendungen füllte, hatte sie getan, was sie konnte, um nicht in den Blickpunkt der Medien zu geraten. Nur einmal, nachdem ein Reporter sie am Ende einer langen Jagd – die Billys Verfolgung eines potenziellen Opfers an Präzision und Hartnäckigkeit in nichts nachstand – in der Tiefgarage eines Einkaufszentrums gestellt hatte, war ihr ein Kommentar zu entlocken gewesen. Sie hatte mit einer widerspenstigen Autotür gekämpft, während sie gleichzeitig ihre Handtasche, eine Einkaufstüte, einen Becher Kaffee und ein rotes Kleid an einem Kleiderbügel balancierte. Auf das Drängen des Reporters hin äußerte sie wiederholt: »Ich habe nichts zu sagen«, wie ein Mantra, das sie vor einem Dämon schützen sollte.

Aber dann ging die Tür endlich auf, allerdings mit einem Ruck, durch den das schöne neue Kleid von seinem Bügel rutschte und auf den schmutzigen Boden der Tiefgarage fiel, während der Kaffee obenauf landete. Wie es der Zufall wollte, fragte der Reporter genau in diesem Augenblick: »Was sollte Ihrer Ansicht nach mit Ihrem Bruder geschehen?«

Und die arme Samantha hatte genug. Von ihrem Bruder, von dem Reporter. Von dem verdammten Kleid, nach dem sie vermutlich den halben Tag gesucht hatte. Sie trat gegen die Wagentür und schrie: »Es gibt keine Hölle, die heiß genug ist für meinen [piep] Bruder! Wenn sie ihn hinrichten wollen, betätige ich eigenhändig den [piep] Schalter!«

Die Piepser hatte natürlich die Zensur des Senders beigesteuert. Offenbar fanden sie Samanthas Kraftausdrücke zu schockierend für die zarten Ohren derselben Zuschauer, die regelmäßig einschalteten, um weitere Einzelheiten darüber zu erfahren, wie Billy in seiner ausgedehnten Laufbahn vorwiegend junge Frauen vergewaltigt, gefoltert und ermordet hatte.

»Ich habe schon jemand«, sagte Jazz zu Howie, »aber ich brauche dich als Rückversicherung.«

»Damit dir der Sozialdienst nicht die Hölle heiß macht«, sagte Howie, bemüht wie ein fernöstlicher Mystiker zu klingen. »Du weißt, dass du das alles mit ein bisschen Papierkram auflösen könntest.«

Jazz stöhnte. Er wollte diese Unterhaltung nicht schon wieder führen. Howie setzte ihm neuerdings ständig zu, einen Antrag auszufüllen, um sich zum mündigen Jugendlichen erklären zu lassen. Damit würde ihm der Sozialdienst nicht länger über die Schulter blicken, und er hätte mehr Spielraum bei der Pflege seiner Großmutter.

»Nein. Das sind wir doch bereits durchgegangen …«

»Du meinst, du hast es bereits verworfen. Das ist nicht dasselbe, Alter.«

»Es ist zu kompliziert. Allein für die Überprüfungen und Befragungen müssten sie bei mir zu Hause einfallen. Gramma würde irgendwo in einer Pflegeeinrichtung landen, und ich könnte die letzten Monate, bis ich achtzehn werde, in einer Pflegefamilie verbringen, während der verdammte Antrag bearbeitet wird. Nein, Howie, vergiss es. Es ist leichter, einfach nicht aufzufallen, bis ich achtzehn bin.«

»Ich finde trotzdem, es wäre am besten für dich. Du kannst das nicht ewig durchziehen.« Er machte eine Geste zum Haus hin, in die er die ganze Komplexität von Jazz’ Leben einschloss.

»Das muss ich ja nicht. Ich muss nur noch eine Weile durchhalten. Und du musst nichts weiter tun, als mich ein paar Tage vertreten. Gramma mag dich.«

»Meistens mag sie mich«, sagte Howie mit unheilvoller Stimme. »Manchmal glaubt sie, ich sei eine Art riesiges Skelett, das ihre Seele fressen will.«

»Manchmal siehst du aus wie ein riesiges Skelett«, rief ihm Jazz in Erinnerung.

»Ja, aber das mit dem Seelen fressen ist schwer zu schlucken. Nun gut denn, ich werde einmal mehr dein Sancho Pansa sein.«

»Ich glaube nicht, dass du das ganz richtig …«

»Aber da wäre natürlich noch die Kleinigkeit meines Babysitter-Honorars zu klären …«

»Um Himmels willen, Howie! Wie viele Tätowierungen willst du noch auf mir unterbringen? Mir geht der Platz aus!«

»Ganz im Gegenteil, mon ami. Du hast noch deine Beine und Unterarme, zum Beispiel.«

»Ich werde wie ein totaler Freak aussehen, wenn du mit mir fertig bist. Kannst du mir wenigstens etwas Cooles machen?«

»Ein Basketball in Flammen ist cool!«, protestierte Howie.

»Nein, ist er nicht. Ein Basketball in Flammen ist cool für einen Zehnjährigen. Und Yosemite Sam ist nur cool im Vergleich zu SpongeBob Schwammkopf. Also bitte, überleg genau. Etwas Cooles.«

Howie verschränkte die langen, schlaksigen Arme vor der eingefallenen Brust. »Deine Worte schmerzen, Jazz. Sie schmerzen wie Wattebällchen, die man nach mir wirft. Aber ich werde deine Bitte berücksichtigen, und wenn du aus New York zurückkommst, werde ich mit dem geilsten Tattoo aller Zeiten als Zier für deinen Body aufwarten.«

»Ich kann es kaum erwarten.« Vielleicht, überlegte Jazz, sollte er einfach in New York bleiben. »Hör zu, es bleibt nicht alles an dir hängen. Meine Tante Samantha wird hier sein.«

Howie stockte tatsächlich der Atem, wie in einem dieser viktorianischen Liebesfilme, mit Hand auf die Brust und allem. Fehlte nur, dass er sagte: »Ach, du meine Güte!«

»Samantha, jene sagenumwobene nicht verrückte Dent? Das einzige junge Mädchen, das Billy Dents Schniedel zu Gesicht bekommen hat und davon erzählen kann, weil sie es überlebt hat? Die Samantha?«

Jazz seufzte. Er hatte Samantha nie kennengelernt. Nie mit ihr gesprochen. Er hatte ihre Telefonnummer in Grammas Adressbuch gefunden. Tatsächlich hatte er zehn Telefonnummern gefunden, neun davon durchgestrichen und durch eine neue ersetzt. Die einzig lesbare schien jüngeren Datums zu sein, und die Vorwahl war für Indiana, wo dieser Reporter ihr aufgelauert hatte. Jazz hoffte einfach, dass Gramma die Nummer richtig notiert hatte, und rief an.

»Hallo?«, hatte sich eine zögerliche weibliche Stimme gemeldet.

»Ist dort Samantha Dennis?« Sie hatte nicht geheiratet, sondern ihren Namen vor Jahren legal geändert.

»Ja.« Eine Spur von Misstrauen. »Wer ist da? Woher haben Sie diese Nummer?«

Für Jazz war es ein Augenblick verflüssigter Realität, als hätte die Welt an Stellen zu schmelzen begonnen, an denen sie normalerweise fest blieb. Er sprach mit dem einzigen Fleisch und Blut, das er auf diesem Planeten hatte, das nicht vollkommen geistesgestört war. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Wie sprach man mit Verwandten, die weder Soziopathen noch hochgradig senil waren?

»Mein Name ist …« Er hielt inne. Es kam ihm zu förmlich vor. »Hier ist Jazz«, sagte er. »Jasper, meine ich. Dein Neffe.«

Das Schweigen vom anderen Ende der Verbindung grub sich in sein Gehirn und schien ihn von innen auszuhöhlen.

»Jasper«, sagte sie schließlich. Und ihre Stimme war so sorgsam neutral, dass nicht einmal Jazz’ geübtes Ohr feststellen konnte, was sie dachte oder fühlte.

»Es hat ein wenig Überredung gekostet«, sagte Jazz nun zu Howie, »aber sie trifft morgen früh hier ein und bleibt, bis die Schule wieder anfängt. Du musst nur nachmittags und abends vorbeikommen und ihr helfen. Das ist Grammas schlimmste Zeit. Am Vormittag ist sie meist okay.«

»Ich darf also während der schlimmen Zeit aushelfen. Toll. Ich hätte zulassen sollen, dass dich der Impressionist umbringt«, sagte Howie unwillig.

»Er wollte mich nicht umbringen.«

»Aber nur, weil er dich nicht richtig gekannt hat.«

Einige Stunden später, nachdem Gramma wohlbehalten im Bett verstaut war und Howie es sich mit der Erlaubnis, schmutzige Filme über Pay-per-View zu bestellen, auf dem Sofa bequem gemacht hatte, rollte Jazz seinen geborgten Koffer die Zufahrt hinunter zu Hughes’ Leihauto. Er hatte Connie angerufen, um sich zu verabschieden, aber sie hatte nicht abgenommen. Vielleicht war sie wütend, weil er ohne sie nach New York flog. Nun, darüber konnte er sich im Augenblick nicht den Kopf zerbrechen.

»Dann wollen wir mal«, sagte er und stieg ein.

Die beiden sprachen während der Fahrt zum Flughafen kaum etwas. Jazz hatte gedacht, der schnell sprechende New Yorker Detective würde sofort mit Informationen über den Killer loslegen, aber Hughes schien nichts weiter im Sinn zu haben, als sich auf die ihm unvertrauten Nebenstraßen zu konzentrieren. Als sie auf den Highway kamen, sah Jazz unwillkürlich aus dem Fenster zur Grenze von Harrisons Wiese, wo man Fiona Goodling gefunden hatte. Damit hatte seine Jagd auf den Impressionisten ihren Anfang genommen.

»Lass dich von der großen Stadt nicht überraschen oder niederdrücken«, sagte Hughes plötzlich.

»Wie bitte?«

»Du hast gerade ein bisschen ausgesehen, als hättest du bereits Heimweh. Ich meine nur, du solltest dich vorbereiten. New York kann überwältigend wirken, wenn man das erste Mal dort ist.«

Heimweh? Jazz schnaubte verächtlich. »Ich kenne New York aus dem Fernsehen. Ich denke, ich komme klar damit. Es kann nicht schlimmer sein, als mit Billy aufzuwachsen.«

»Ach so?« Hughes zuckte mit den Achseln. »Es ist ziemlich groß.«

»Und?«

»Es kann verwirrend sein.«

»Keine Angst. Ich bin bei Ihnen.«

»Eine Menge Leute dort sehen nicht aus wie du.«

Jazz ärgerte sich. »Nur weil meine Großmutter …« Er unterbrach sich und fing von vorn an. »Ich bin nicht wie sie. Ich bin kein Rassist. Meine Freundin ist schwarz, Mann.«

»Tatsächlich, ja? Schön für dich. Meine auch.«

Jazz warf die Arme in die Höhe. »Gut, Sie haben gewonnen. Egal.«

Hughes grinste, und Jazz begriff plötzlich, was hier wirklich ablief. Der Detective stach hier hinein und bohrte dort, um Jazz’ Schwachstellen zu finden. Und Jazz hatte ihm eine verraten. Bullen und Gauner, flüsterte Billy in seinem Kopf, benutzen immer die Werkzeuge des jeweils anderen.

Also gut. Lektion gelernt. Hughes machte sich gern im Kopf von anderen Leuten zu schaffen. Darin war Jazz ebenfalls nicht schlecht, und er hatte es ziemlich gut hinbekommen, Billy damals im Gefängnis nicht sehen zu lassen, was er dachte. Es war schwer, Jazz zweimal mit dem gleichen Trick zu überraschen. Er passte sich schnell an. Anpassung war der beste Trick aller Soziopathen, und Jazz konnte gar nicht anders, als verdammt gut darin zu sein.

»Du musst aufhören, alles so ernst zu nehmen, Junge«, sagte Hughes jetzt in freundlichem Ton. »Andernfalls bringt dich dein hoher Blutdruck um, bevor dein Paps überhaupt die Chance dazu hat.«

Hoher Blutdruck. Irgendwie klang ein Herzinfarkt oder Schlaganfall eindeutig nach einem friedlichen, idyllischen Ende im Vergleich zu dem, wozu Billy fähig war. Dennoch fürchtete Jazz seinen Vater nicht. Oder, genauer gesagt, er hatte nicht wirklich Angst vor seinem Vater. Billy war überzeugt, Jazz würde das Familienunternehmen eines Tages fortführen und der Killer werden, zu dem alle anderen Killer aufschauten. Er wusste, sein Vater würde dieses Ziel nie gefährden, indem er seinem einzigen Sohn etwas antat. Billy hatte zu viel von sich selbst – sein Ego, seine Verrücktheit, seine Genialität – in Jazz investiert, als dass er riskieren würde, ihn zu töten.

»Mein Dad würde mir nie etwas tun. Jedenfalls nicht körperlich.«

»Keine Haue also, als du noch klein warst?«, sagte Hughes so leichthin, dass selbst Jazz für einen Moment glaubte, er mache nur Konversation und sei eben neugierig. Aber so war es nicht. Er hatte es hier mit einem fähigen Detective zu tun, darin ausgebildet, durch Befragung Informationen auszugraben. Jazz war beeindruckt – er war nicht leicht zu täuschen, und Hughes hatte es fast geschafft.

»Nö. Nicht einmal.« Eine harmlose Information, die er Hughes ruhig verraten durfte. Und es stimmte. Billy hatte in Jazz’ Kindheit nie Hand an ihn gelegt.

»Und was denkst du, wo sich dein Vater dieser Tage aufhält?«

Jetzt sah ihn Jazz mit einem Blick an, der besagte: Ich spreche nicht über meinen Vater. Hughes war sichtlich aus der Fassung gebracht.

»Entschuldigung.« Er fing sich rasch wieder. Waren harte Burschen, die Cops in New York. »Ich mache nur Konversation.«

»Sie machen Konversation nach Art der Inquisition.«

Hughes lachte. »Berufskrankheit. Könnte schlimmer sein. Ich war mal mit einer Bezirksstaatsanwältin zusammen, und sie konnte einen nicht fragen, was man zum Abendessen haben wollte, ohne dass man sich wie bei einem Kreuzverhör fühlte. Du hast einen wahnsinnig finsteren Blick, Junge. Aber das ist wohl nicht weiter verwunderlich.«

Jazz zuckte mit den Achseln und sah aus dem Fenster.

»Hör zu, ich horche dich nicht aus oder so. Ich versuche nicht, deinen Dad zu finden. Aber ich bin Polizist beim Morddezernat. Das ist, als hätte ich einen berühmten Baseballtrainer im Wagen. Wie sollte ich ihm nicht ein paar Fragen stellen? Und ich weiß, das FBI hat dich schon nach ihm ausgequetscht. Ich bin nur neugierig. Ich bastle hier keinen Fall zusammen.«

Jazz seufzte. »Ich kann Ihnen sagen, was ich dem FBI gesagt habe: Er ist nicht dort, wo sie ihn erwarten. Er ist nicht in der Nähe von Lobo’s Nod, um über mich und Gramma zu wachen. Er ist an keinem der Orte, an denen er früher geschürft hat. Er musste irgendwohin, wo er unsichtbar werden kann. In eine Großstadt.«

»New York?«

Jazz zuckte mit den Achseln. »Möglich. Mann, wenn die Morde nicht angefangen hätten, bevor er aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, würde ich sagen, vielleicht ist er sogar Hut&Hund.«

»Nein. Ich kann dir garantieren, dass das nicht der Fall ist. Wir haben ein und dieselbe DNA von verschiedenen Tatorten, und es ist nicht Billys. Unsere UP ist nicht Billy Dent.«

»UP«, sagte Jazz spöttisch. Er wusste, es war die Kurzform für »unbekannte Person«. »Ihr und euer Jargon. Lässt euch glauben, ihr wisst etwas. Lässt euch glauben, ihr könnt die unsichtbare Welt fangen, definieren und berechnen.«

Er hatte gedacht, Hughes würde aus der Fassung geraten, aber der Detective trommelte nur mit den Fingern auf das Lenkrad. »Ich habe Hexenjagd auch gelesen, Junge. Aber das ist keine Hexenjagd hier. Das ist echt.«

Daraufhin verfielen beide für den Rest der Fahrt in Schweigen. Am Flughafen beobachtete Jazz genau, wie Hughes mit dem Sicherheitspersonal verhandelte, damit er seine Dienstwaffe mit an Bord nehmen durfte. Jazz war noch nie geflogen. Er hatte gehört, dass die Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen strenger waren als früher, aber wenn das stimmte, dann musste es früher möglich gewesen sein, Maschinengewehre offen mit in Flugzeuge zu nehmen. Er drückte sich herum, beobachtete und traf eine Entscheidung. Sobald seine Sachen auf dem Förderband zum Röntgengerät waren, wartete Jazz, bis ihn ein Angestellter der Fluglinie aufforderte, durch den Scanner zu gehen. Er zögerte. »Ich gehe nicht durch dieses Ding«, sagte er. »Meine Freundin hat mir erzählt, dass diese Ganzkörperscanner nie ausreichend medizinisch getestet wurden.«

Erkennbar genervt sagte der Angestellte: »Ich versichere Ihnen, sie sind absolut sicher.«

»Klar. Und Sie sind Arzt und können mir garantieren, dass ich nicht unfruchtbar werde, wenn ich mir von dem Ding die Eier scannen lasse? Oder eines Tages Kinder mit sechs Fingern bekomme.«

»Sie entscheiden sich also für die Leibesvisitation?«

»Ja.«

»Leibesvisitation, männlich«, rief der Angestellte zu niemand Bestimmtem.

Jazz wurde ein Stück zur Seite geschoben. Hughes, der die Sicherheitsschleuse bereits passiert hatte, sammelte sein Handgepäck sowie das von Jazz ein und wartete stirnrunzelnd. Jazz reagierte nicht. Er wartete einfach, bis ein zweiter Angestellter der Fluglinie kam, dieser mit Latexhandschuhen.

»Leibesvisitation?«, fragte er.

»Ja«, sagte Jazz mit nasalem Ton. Zum Teil war es gespielt, zum Teil lag es an der kleinen Portion Shampoo, die er sich in die Nase gespritzt hatte, ehe er sich in die Schlange stellte. »Leibesvisitation.« Und dann hustete er – ein wirklich überzeugendes, nass klingendes Husten, bei dem der Flughafenangestellte zusammenzuckte und sich leicht wegdrehte.

Der Mann erklärte Jazz genau, was er tun und wo er ihn berühren würde. Auf die Frage: »Haben Sie etwas in den Taschen?«, sagte Jazz: »Nur ein Tempo«, und dann zog er es heraus und schnäuzte lautstark hinein. Er ließ es gerade lange genug offen, damit der Angestellte den ekligen gelben Shampoo-Schleim sehen konnte, bevor er es zusammenfaltete.

»Äh, behalten Sie das einfach«, sagte der Mann und tastete Jazz dann so schnell und oberflächlich ab, dass er wahrscheinlich einen Rekord in der Geschichte der Leibesvisitation aufstellte. Jazz registrierte drei Stellen an seinem Körper, an denen er ohne Weiteres irgendwelche verbotenen Dinge hätte verstecken können.

Als er wieder zu Hughes stieß, schüttelte der Polizist amüsiert den Kopf. »Du bist der schlimmste Albtraum des Heimatschutzes«, sagte er auf dem Weg zu ihrem Gate.

»Sie hätten eingreifen können.«

»Ja, aber ich weiß, du bist harmlos.«

Jazz zuckte mit den Achseln. »Wissen Sie noch, wie Sie sagten, Sie hätten ebenfalls eine schwarze Freundin? Das war gelogen. Sie haben keine. Und Sie waren auch nie mit einer Staatsanwältin zusammen. Sie versuchen nur, mich von sich fernzuhalten, weil Sie wissen, wo ich herkomme. Sie wissen gerade so viel, damit Ihnen klar ist, dass ich alles andere als harmlos bin. Und deshalb machen Sie Witze und streuen scheinbar persönliche Bemerkungen ein, um mich in Sicherheit zu wiegen.« Jazz setzte das Grinsen auf, das er benutzte, wenn er jemanden beruhigen wollte. »Sie machen das ziemlich gut. Aber ich bin besser.«

Hughes starrte ihn mit offenem Mund an.

Jazz lächelte einen Moment lang weiter, dann sagte er: »Ich gehe noch zur Toilette, bevor wir einsteigen«, und ließ Hughes mit seinen Gedanken allein.

Später, in der Enge des Flugzeugs, überraschte er sich selbst, indem er beinahe auf der Stelle einschlief. Er wachte nicht einmal auf, als das Flugzeug startete.

Er träumte.

Berühr mich

ertönt die Stimme

wieder.

Seine Finger

Ach, das Fleisch

So warm

So glatt

Berühr mich so

Seine Haut auf ihrer.

Ihrer.

Er kennt ihr Fleisch.

So

So warm

So

Es ist gut

Es ist nicht gut

Es ist richtig

Nein, es ist falsch

Aber das Falsche macht es richtig

und das Richtige macht es falsch

und

Jazz wachte auf, als das Flugzeug landete, und holte benommen seine Tasche aus dem Gepäckfach. Sie hatten eine Stunde Wartezeit bis zu ihrem Anschlussflug. Hughes versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Jazz zog nicht mit. Er war kaputt, leicht luftkrank und definitiv traumkrank.

Wer war das in seinem Traum? Was tat er? Warum kehrte der Traum immer wieder? Tatsächlich war ihm der alte Traum lieber, in dem er jemanden geschnitten, vielleicht sogar getötet hatte. Er war zumindest vertraut. Er hatte sich an seine besonderen, Übelkeit erregenden Eigenschaften gewöhnt. Der neue Traum haute ihn jedes Mal um, wenn er aufstehen wollte.

Was bedeutete er? Was lauerte da weit hinten in den kalten, dunklen Tiefen seiner Erinnerung? Welche Geheimnisse versteckten sich in seiner Vergangenheit? Jazz kam sein eigenes Leben vor wie ein Minenfeld, für das er die Karte verloren hatte. Ein falscher Schritt, und er würde einen Fuß oder ein Bein verlieren.

Oder den Verstand.

Wenn Jazz aus dem Messertraum aufwachte, fühlte er sich verwirrt. Schuldig. Ein bisschen übel. Wenn er jedoch aus dem Sextraum erwachte, fühlte er sich ein klein wenig schuldig, ja. Aber ansonsten einfach … erregt. Und er hasste sich dafür. Andere Jungs in seinem Alter durften solche Träume haben, natürlich. Das war in Ordnung bei ihnen. Aber nicht bei Jazz.

Denn … genau so fängt es an, dachte er. Träume, Fantasien. Wirkt zunächst harmlos. Aber dann reichen die Träume und Fantasien nicht mehr. Und eh man sich’s versieht, ist man Jeffrey Dahmer und bohrt in dem Versuch, Sex-Zombies herzustellen, Löcher in die Köpfe von Leichen, und das Verrückte ist nicht, dass man es tut, sondern dass es einem vollkommen normal und notwendig vorkommt.

»Du bist furchtbar still«, sagte Hughes, der nach mehreren Stunden Schweigen wieder versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen. Jazz respektierte, dass der Detective sich von dem Schlag vorhin erholt hatte, aber er hatte wichtigere Dinge im Kopf. Als er nicht reagierte, gab es Hughes auf und ließ ihn in Ruhe.

Sie gingen an Bord des zweiten Flugzeugs, und diesmal blieb Jazz wach, sah aus dem Fenster und spürte das plötzliche flaue Gefühl im Magen, als das Flugzeug die Nase hob und den Boden verließ. Es machte ihn leicht benommen, und es war fast, als würde er noch einmal aus dem Traum erwachen. Er schloss die Augen, umklammerte die Armlehnen und sagte sich, dass es bald vorbei sein würde.

Die Landung machte ihm nicht so viel aus. Zuerst erschien sie ihm beinahe sanft, aber dann schmerzten seine Ohren von dem Luftdruckunterschied, und als das Flugzeug aufsetzte, dröhnte die Kabine von der rasenden Geschwindigkeit. Es wirkte in seiner Heftigkeit beinahe beruhigend. Ablenkend.

Sie sammelten ihr Gepäck wieder ein und betraten das Terminal des JFK-Airports. Kaum hatten sie die Kontrollen passiert, blieb Jazz wie erstarrt stehen, weil er seinen Augen nicht traute.

»Was ist?«, fragte Hughes. »Stimmt etwas nicht?«

»Na, was habt ihr beiden so lange gebraucht?«, fragte Connie und grinste breit.