7

»Gut«, sagte Connie und gab sich große Mühe, nachdrücklich und lässig zugleich zu klingen, »ich komme natürlich mit dir.«

Jazz’ Gesichtsausdruck blieb unverändert.

Connie fluchte innerlich. Es war sehr schwer zu sagen, ob sie ihn erreicht hatte oder nicht. Er konnte seine Reaktionen so gut verbergen oder vortäuschen, dass selbst sie – die Person, die ihm nähergekommen war als irgendwer sonst auf der Welt – meist unmöglich sagen konnte, was hinter diesen rätselhaften, sexy Augen vor sich ging.

»Du kommst nicht mit«, sagte er sehr ruhig, mit der zarten Andeutung eines Lächelns.

Dieses Lächeln … Sollte es sie entwaffnen? War es ein Versehen seinerseits? Wollte er, dass sie es für ein Versehen hielt? Oder »Du kannst manchmal gewaltig nerven«, verkündete sie. »Würde es dich umbringen, mir einfach zu sagen, was du denkst, und vielleicht nicht versuchen, mich zu manipulieren?«

»Ich versuche nicht, dich zu manipulieren. Aber du kannst nicht mit mir nach New York kommen. Allein schon, weil dein Dad total ausrasten würde, und das kann ich gerade überhaupt nicht gebrauchen.«

Connies Vater machte keinen Hehl aus seiner tiefen und bleibenden Abscheu für Jazz. Mit ihrem Vater und Jazz’ rassistischer Großmutter, dachte Connie, hatten sie alle Anlagen für eine moderne Fassung von Romeo und Julia zur Hand. Nur mit mehr Blut und Tod, als sich selbst Shakespeares fruchtbare Fantasie vorstellen konnte.

»Meinen Dad kriege ich schon herum«, sagte sie zuversichtlich.

Sie waren in dem Versteck, das sich Jazz im Wald außerhalb von Lobo’s Nod eingerichtet hatte. Es war eine alte Schwarzbrennerhütte, die er hergerichtet und mit dem Nötigsten als Rückzugsort vor dem Rest der Welt ausgestattet hatte. Connie war sich ziemlich sicher, dass sie der einzige Mensch war, dem er davon erzählt hatte. Sie bemühte sich, ihn nicht merken zu lassen, wie viel ihr das bedeutete – er war grundsätzlich misstrauisch, wenn es darum ging, sich anderen Leuten zu öffnen, und sie wollte ihn nicht abschrecken. Auf einem Bohnensack schmiegten sie sich so aneinander, wie es zwei bekleidete Leute nur konnten, während ein alter Heizlüfter aus Großmutters Keller für Wärme sorgte.

»Deinen Dad kriegt niemand herum. Außerdem weiß ich nicht, wie lange ich fort sein werde, und du solltest die Schule nicht verpassen. Und außer außerdem: Was willst du anfangen, während ich mit den Polizisten unterwegs bin?«

»Mann«, zirpte sie in ihrer besten Imitation einer verwöhnten Zicke, »vielleicht gehe ich shoppen und kaufe Schuhe, geile Röcke und Make-up! – Blödmann«, sagte sie dann und boxte ihn an die Schulter. »Ich helfe dir natürlich. Dachtest du, ich klappere die Sehenswürdigkeiten ab?«

»Angeblich haben sie echt hohe Gebäude.«

»Und U-Bahnen.«

»Und Museen.«

»Und mehr als ein Dutzend Schwarze außerdem. Wahrhaftig ein Wunderland.«

»Ein Mirakel der Neuzeit«, stimmte Jazz zu und küsste sie in den Nacken.

»Ah, lass das«, ermahnte sie ihn in einem Tonfall, der nicht einmal sie selbst überzeugte. »Du versuchst, mich abzulenken.«

Er küsste sie in die Halsbeuge. »Mea culpa.«

In Connies Kopf drehte sich alles. Sie hasste und liebte es zugleich, so wahnsinnig anfällig für ihn zu sein. Sie hatte sich noch nie bei einem anderen Jungen so gefühlt, und sie wusste, Jazz war es noch nie mit einem anderen Mädchen so ergangen. Ihre Freunde erzählten ihr gerne, dass sie sich zu Jasper Dent hingezogen fühlte, weil er der ultimative böse Junge war – während sich manche Mädchen in selbstsüchtige Wichser verliebten, liebte Connie einen Typen, der im Wortsinn tödlich war.

Aber das war es nicht. Connie liebte ihn trotz seiner Vergangenheit, trotz seiner düsteren Seite, nicht wegen ihr. Sie sah ein Licht in ihm, das so tief vergraben war, dass Jazz selbst es nie sah. Aber sie sah es, wenn auch nicht immer. Manchmal verlor sie es für Stunden, Tage oder sogar ganze Wochen aus den Augen, aber bisher war es noch jedes Mal wieder aufgetaucht. Connie glaubte mehr an Jazz’ menschliche Qualitäten als er selbst.

Ein grüblerischer sexy Freund, dem nicht ganz klar war, wie sexy und grüblerisch er war? Gott schütze sie! Manchmal kostete es sie alle Kraft, nicht über ihn herzufallen, aber sie wusste, er war nicht bereit dafür, egal wie bereit er sich benahm und fühlte. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber es war ihr klar. Und sie verstand es. Allein von Billy Dents Verbrechen zu lesen hatte sie fassungslos gemacht. Mit einem Vater aufzuwachsen, dessen Version eines »Aufklärungsgesprächs« Fessel- und Foltertechniken beinhaltete, musste noch schlimmer sein.

»Woran denkst du?«, fragte er.

»Ich denke«, brachte sie heraus, »wenn du mit deiner Zunge weiter so an meiner Schulter rummachst, schmeiße ich mich auf dich.«

Er biss ihr spielerisch in die Schulter, löste sich von ihr und stand auf, um den Heizkörper neu einzustellen. »Das Kerosin geht zur Neige. Bald wird es richtig kalt hier drin. Wir sollten uns auf den Weg machen.«

Connie trat mit der Zehenspitze gegen sein Schienbein. »Du Arsch. Ich durchschaue dich. Du glaubst, du kannst hier auf sexy machen, damit ich vergesse, wovon wir geredet haben? Keine Chance. Ich fliege mit dir nach New York.«

Er stieß diese besondere Art von Seufzer aus, der zum Ausdruck brachte, dass er sich ärgerte, weil sich Connie nicht einfach so manipulieren ließ, wie es Menschen laut Dear Old Dad immer taten. »Hughes hat mein Ticket bereits. Wir fliegen heute Abend.«

»Ob du es glaubst oder nicht, es gibt Wege nach New York zu fliegen, die nicht von Detective Louis L. Hughes abhängen. Wenn er der tatsächlich ist.«

Jazz stöhnte. »Die Initiale in der Mitte seines Namens steht für Lincoln. Woher ich das weiß? Ich habe seinen Dienststellenleiter angerufen, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich ein Cop ist. Mir macht keiner mehr den Fulton.«

Sie verstummten beide. Der Impressionist hatte Jazz gleich zu Beginn mühelos für dumm verkauft, indem er behauptete, Jeff Fulton zu sein, der Vater eines der Opfer von Billy Dent. Jazz hatte ihm einfach geglaubt und sich nie die Mühe gemacht, es nachzuprüfen. Niemand konnte es jetzt mit Sicherheit wissen, aber Jazz war überzeugt, wenn er ein wenig nachgeforscht hätte, wären Ginny Davis, Helen Myerson und Irene Heller noch am Leben.

»Du kannst nicht allein fliegen.«

»Warum nicht?«, fragte er provozierend selbstbewusst, als wäre ihm die Frage selbst schon in den Sinn gekommen, und er gestattete ihr einfach, Dampf abzulassen.

»Du warst in deinem ganzen Leben noch nie in einer größeren Stadt als Lobo’s Nod. Ich war schon dreimal in New York und bin in der Nähe von Charlotte aufgewachsen, bevor wir hierhergezogen sind.«

Jazz schnaubte höhnisch und half ihr vom Bohnensack. »Ich werde in Begleitung eines Detective des NYPD sein. Irgendwie traue ich mir zu, mich nicht in der U-Bahn zu verirren. Und selbst wenn ich mich verirre …« Er wühlte in seiner Tasche und hielt stolz sein neues Smartphone in die Höhe. Nach dem Desaster mit dem Impressionisten hatten Connie, Howie und selbst Sheriff Tanner alle zusammengelegt, um Jazz sein erstes Handy zu kaufen.

»Da sieht man, wie gut du Bescheid weißt, du Schlaumeier. Handys funktionieren in der U-Bahn nicht. Nimmst du Howie statt mir mit, ist es das? Zwei Jungs in der großen Stadt?«

»Ha! Ja, klar. Machst du Witze? Nach der Stichverletzung lässt ihn seine Mutter nur noch mit Leibwächter und Panzerweste außerhalb eines Zehnmeilenradius. Ich würde ihn entführen müssen, um ihn nach New York zu bringen …« Jazz ließ den Satz ausklingen und strich sich über das Kinn. »Hm … ihn entführen …«

Von jemand anderem wäre es witzig gewesen. Ein kurzer Moment der Leichtigkeit. Aber Jazz bekam es nicht richtig hin, und Connie sagte es ihm. »Ja, ich weiß, auf was du abzielst, aber mir ist es gerade eiskalt über den Rücken gelaufen.«

»Wirklich?« Jazz blinzelte. »Das war nicht komisch?«

»Es steht und fällt damit, wie man es rüberbringt. Und du hast nicht, was man für diese Art Witze braucht.« Sie gab ihm einen spitzen Kuss auf den Mund, da sie ihm nicht sagen wollte, dass sie einen Moment lang tatsächlich um Howies Leben gefürchtet hatte. »Komm, gehen wir. Es wird bereits eiskalt hier drin.«

»Heißt das, du gibst den Versuch auf, mich zu überzeugen, dass du mitkommen darfst?«

Connie überlegte kurz und formulierte ihre Antwort sehr vorsichtig und präzise. »Ja. Ich gebe den Versuch auf, dich zu überzeugen.«

Aber das bedeutete natürlich nicht, dass sie nicht mitkommen würde.

An diesem Abend stocherte Connie im Haus ihrer Eltern lustlos im Essen herum; ihr Appetit war irgendwo bei einem Flug in der Zukunft mit Jazz und Detective Louis Lincoln Hughes.

»Stimmt etwas nicht, Conscience?«, fragte ihr Vater freundlich, während sie ihre Erbsen einzeln zu dem nicht angerührten Berg Kartoffelbrei rollte. Ihr Vater war der einzige Mensch, der ihren vollen Namen benutzte. Alle anderen, einschließlich ihrer Mutter, nannten sie Connie. Jerome Hall glaubte, dass Namen Macht hatten, und er wollte, dass seine Kinder alle Vorteile genossen, die solche Namen verliehen. Und so war Connie Conscience, und ihr jüngerer Bruder – der den Spitznamen Whiz trug – war Wisdom.

»Alles in Ordnung«, log Connie, ohne auch nur darüber nachzudenken. »Ich bin wohl einfach nur nicht hungrig.«

»Sie war heute bei ihrem Freund«, sang Whiz beinahe. »Ich habe die SMS auf ihrem Telefon gesehen. Sie haben irgendwo ein Versteck.«

Connie war verärgert. Whiz war zehn Jahre alt, und seine Lieblingsbeschäftigung dieser Tage bestand anscheinend darin, seiner großen Schwester hinterherzuspionieren. »Du bist ein kleiner Schnüffler«, sagte sie.

Ohne seine Schwester zu beachten, schaufelte sich Whiz eine Gabel voll Schinken und Kartoffeln in den Mund. »Sie schreiben sich die ganze Zeit SMS«, fuhr er fort, »jetzt, da er ein Handy hat. – Jasper Dent«, fügte er hilfreich an, für den Fall, dass es jemand noch nicht begriffen hatte.

»Wisdom, ich weiß, dass sich deine Schwester immer noch mit dem Dent-Jungen trifft. Es ist nicht nötig, dass du sie verpetzt.«

Connies Vater war im Grunde der gütigste, klügste Mensch, den sie kannte. Es war deshalb wirklich ärgerlich, dass er diesen einen bösartigen blinden Fleck in Bezug auf ihren Freund hatte.

Sie verstand natürlich, dass Jazz nicht eben der ideale Freund war. Zumindest nicht aus der Sicht von Eltern. Von einem Serienmörder großgezogen – und nicht von irgendeinem, sondern von dem Serienmörder schlechthin –, hatte Jazz weiß Gott seine Probleme, aber sie fand, man durfte ihm die Sünden seines Vaters nicht vorhalten. Und überhaupt hätte Jazz der Sohn des Stadtheiligen sein können, und Connies Vater wäre trotzdem gegen die Beziehung gewesen. Es war die Geschichte von Schwarz und Weiß. Noch nicht geläutertes Rassengedächtnis. Jerome Hall ertrug es einfach nicht, seine Tochter mit einem Weißen zu sehen.

Was sie selbst anging, wünschte Connie, irgendwer würde eine Droge erfinden, die die Welt die Vergangenheit vergessen und mit der Zukunft weitermachen ließ. Man pfuschte ihr ernsthaft in ihr Liebesleben, und sie hielt es nicht mehr aus. Und jetzt sah sie sich einer beinahe unmöglichen Aufgabe gegenüber: Wie überzeugte sie ihre Eltern davon, sie die letzten paar Tage der Weihnachtsferien mit Jazz nach New York fliegen zu lassen? Jazz hatte zwar gesagt, das käme nicht infrage … Aber wer war er, sie herumzukommandieren? Sie konnte ihre eigenen Entscheidungen treffen, und sie hatte nun mal diese getroffen. Jazz würde nichts übrigbleiben, als sich damit abzufinden. Es war nicht so, dass ihr eine Reise nach New York gesetzlich verboten war. Er konnte sie nicht aufhalten.

Das konnten nur ihre Eltern.

»Ich weiß, ich kann nicht mehr viel tun, um dich daran zu hindern, ihn zu sehen«, sagte ihr Vater nun, »weil du bald achtzehn wirst und ich dich immer wie eine Erwachsene behandelt habe. Aber ich wünschte, du würdest die ganze Sache vielleicht ein bisschen abkühlen lassen.«

»Dad hat recht«, warf Mom ein, ehe Connie etwas sagen konnte. »Ich weiß, du hast starke Gefühle für Jasper, aber du bist noch jung. Er ist dein erster richtiger Freund. Vielleicht solltest du dich ein wenig umsehen, was sonst noch geboten ist.«

Connie seufzte. Was ihre Eltern sagten, war vernünftig. Wenn man davon ausging, dass sie nicht in Jazz verliebt war. Doch das war sie. Sie wusste nicht, was die Zukunft bringen mochte – sie erlaubte sich nicht, weiter als ein paar Jahre vorauszudenken –, aber sie wusste, sie wollte es mit Jazz an ihrer Seite herausfinden.

Was würde also Jazz in dieser Situation tun? Ganz einfach: Er würde zu einem Täuschungsmanöver greifen. Was natürlich nur ein höfliches Wort für Lügen war.

Und Lügen ist im Grund nur Schauspielern. Und das beherrsche ich.

Fast ohne dass ihr klar war, was sie tat, fing sie an zu reden. Sie legte ihre Gabel beiseite und konzentrierte sich auf ihren Vater, denn er war derjenige, den es zu überzeugen galt.

»Das Problem ist folgendes«, sagte sie, und die Leerstellen in ihrem Plan füllten sich beim Sprechen fast von allein; ihr Herz schlug schneller, als ihr klar wurde, was sie da tat. »Das Problem ist, wir haben nur noch wenige Tage Weihnachtsferien, und ich möchte sie wirklich gern mit Jazz verbringen …« Sie bemerkte, wie sich die Miene ihres Vaters verhärtete und die Sorgenfalten um die Augen ihrer Mutter tiefer wurden. »Aber es gibt auch ein tolles Orientierungswochenende an der Columbia University. Ich weiß, es ist ein bisschen früh für mich, aber Columbia ist genau die Uni, wo ich hinwill, und ich könnte die Fächer, für die ich mich im Herbst bewerben werde, schon einmal einengen. Die Sache ist nur die: Ich müsste morgen fliegen.« Bevor ihre Eltern etwas sagen konnten, sprach sie schnell weiter. »Erinnert ihr euch an Larissa? Sie hat die Maria in dieser schrägen Version der West Side Story gespielt, an der ich beim Sommertheatercamp in Charlotte mitgewirkt habe. Jedenfalls ist sie bereits auf der Columbia, und sie war es, die mir von dem Wochenende erzählt hat. Es hört sich echt fantastisch an, und ich könnte problemlos bei ihr wohnen. Andererseits …«, sie sagte es gekonnt so, als wäre es ihr eben erst eingefallen, »… würde ich Jazz nicht mehr sehen, bis die Schule wieder anfängt.«

Ihre Eltern wechselten einen Blick.

»Wie viel würde diese Reise kosten?«, fragte ihr Vater, und sie wusste, sie hatte ihn.

»Ich könnte umsonst bei Larissa wohnen. Und ihr könntet mich immer per Handy erreichen.« Sie würde Larissa mit ein paar SMS ohne Weiteres dazu bringen, sie zu decken. Und Jazz hatte sicher ein Hotelzimmer. Nur sie beide … in einem Hotelzimmer. Allein bei dem Gedanken wurde ihr schwindlig, und in ihrem Körper spielten sich Dinge ab, die sie im Augenblick nicht genießen konnte. »Wahrscheinlich kann ich Stand-by fliegen, da es so kurzfristig ist, und ich kann mich an den Kosten beteiligen – ich habe Geld vom Babysitten und Grampas Weihnachtsscheck.«

Ihr Vater strich sich über das Kinn und wechselte noch einen Blick mit ihrer Mutter.

»Sie soll nicht ganz allein nach New York dürfen!«, beschwerte sich Whiz. »Das ist ungerecht! Ich darf nie irgendwohin!«

Ihr Dad verdrehte genervt die Augen, und Connie wusste, die Sache war entschieden.

So also fühlte sich Jazz, wenn er Leute manipulierte. Ständig, jeden Tag.

Connie musste zugeben, dass es ziemlich eindrucksvoll war.