26
»Alter!«, rief Howie aus und fuchtelte mit seinen absurd großen Händen in der Luft herum. »Ich glaub es einfach nicht, dass du mir das schon wieder antun willst!«
»Ich muss nach New York.« Jazz warf Kleidungsstücke in den geborgten Koffer. Er war noch kaum zum Auspacken gekommen. »Du musst mithelfen, auf Gramma aufzupassen. Dafür darfst du meinen verdammten Arsch tätowieren.«
»Ich schlafe mit deiner Tante, ich schwör’s. Es ist mir egal, was du sagst. Ich weiß, sie wirkt im Moment nicht interessiert, aber glaub mir: Sie wird meinem Witz und meinem Charme erliegen, und ich werde sie erkennen. Im biblischen Sinn.«
»Gut.«
»Dir ist schon klar, dass das bedeutet, ich werde sie bumsen. Im biblischen Sinn.«
»Ist mir klar.«
Howie bemerkte den Anflug eines Grinsens auf Jazz’ Gesicht und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich meine es absolut ernst! Ich werde nicht nur mit ihr schlafen, ich werde sie auch schwängern! Ich werde der Daddy deiner Cousins und Cousinen sein. So.«
»Hört sich großartig an, Onkel Howie.« Jazz wollte Howie auf die Schulter klopfen, dachte an den blauen Fleck, den das geben würde, und begnügte sich mit einem Händeschütteln.
»Deine Cousins werden groß und hübsch sein und einen größeren Schwanz haben als du«, sagte Howie sehr feierlich.
»Bestimmt. Danke, Mann.«
»Hast du vergessen, dass am Montag die Schule anfängt?« Es war Samstag.
»Mit ein bisschen Glück verpasse ich nur ein, zwei Tage. Ich helfe ihnen, das Profil einzugrenzen, schau mir die neuen Tatorte an, ob sie etwas übersehen haben … weise ihnen die Richtung. Zack, fertig und ab nach Hause.«
»Und deinen Arsch tätowiere ich trotzdem!«, rief ihm Howie nach, als er hinausging.
Auf dem Flug hatte Jazz weder die Zeit, ihn zu genießen, noch sich zu fürchten. Er war damit beschäftigt, über die Nachricht nachzudenken, die ihm am letzten Tatort hinterlassen worden war. Morales hatte ihm alle vorläufigen Informationen samt den Tatortfotos per E-Mail zugesandt.
»Wir ziehen dich zu dem Fall hinzu«, hatte sie am Telefon zu ihm gesagt. »Es ist mir egal, wenn ich mich über Montgomerys Kopf hinweg direkt an den Gouverneur wenden muss. Dieser Typ hat dich aufgerufen, also bist du dabei.«
Kaum eine halbe Stunde später war es offiziell, und Jazz war nach einem Anruf bei Connie, um ihr Bescheid zu geben, wieder auf dem Weg zum Flughafen. Tante Samantha konnte ruhig noch eine Weile auf Gramma aufpassen. Jazz bedauerte aufrichtig, sie so bald wieder verlassen zu müssen. Er hatte das Gefühl, sie beide hätten noch viel zu besprechen.
Als er Tante Samantha mitteilte, er müsse nach New York zurück, hatte er nur Zeit für ein kurzes Gespräch gehabt. Das Thema war Howie gewesen. »Es tut mir leid, dich ihm überlassen zu müssen. Ich weiß, wie er ist, aber eigentlich ist er ein guter Typ …«
»Du tust, als wäre ich in meinem ganzen Leben nie einem geilen Jungen begegnet«, hatte sie gesagt. »Ich denke, ich kann mit ihm umgehen. Ich würde es sogar in gewisser Weise schmeichelhaft finden, wenn ich nicht wüsste, dass er das bei allen tut.«
»Nicht bei allen. Nur bei etwa neunzig Prozent. Vielleicht fünfundneunzig.«
»Ich werde ihn bei Laune halten. Keine große Sache. Tu du nur, was du tun musst.«
Während des Flugs sah er auf seinem Handy die Tatortfotos durch, die ihm Morales geschickt hatte. Es gab deutliche Unterschiede zu den bisherigen Taten. Zum einen hatte man die Leiche nicht in Brooklyn gefunden, sondern in Manhattan, auf U-Bahn-Gleisen der S-Linie. Das sagte Jazz nichts, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich, aber Morales hatte dankenswerterweise eine Anmerkung unter eins der Fotos gesetzt. S-Linie: Shuttle zwischen Grand Central Station und Times Square, entlang der 42nd Street. Jazz hatte keine Ahnung, wie weit Grand Central und Times Square auseinanderlagen, deshalb konnte er nicht viel mit dieser Information anfangen. Immerhin war es nett, dass Morales an ihn und seine generelle Unwissenheit in Bezug auf alles, was den Big Apple anging, dachte.
Eins wusste er allerdings trotz seiner beschränkten Kenntnisse der Geografie New Yorks: Dieser Teil von Manhattan lag noch weiter von Hut & Hunds angestammtem Revier entfernt, als es Coney Island gewesen war.
Die vorläufige gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche deutete darauf hin, dass der Mord mehrere Stunden zuvor woanders stattgefunden hatte. Die Eingeweide des Opfers waren entfernt worden und befanden sich nicht bei der Leiche. Gelähmt, wie üblich. Augenlider abgetrennt wie bei den andern. Frau, weiß, zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Eins fünfundsechzig groß, vielleicht sechzig Kilo schwer – als alle Innereien noch an Ort und Stelle gewesen waren.
Und da es bei Hut & Hund ohne eine Form von Eskalation nicht ging: Die Augen fehlten. Jazz seufzte. Er wusste von Billys Geschichten, was damit alles zusammenhing. Augen waren im Grunde relativ leicht auszuhöhlen, vorausgesetzt, das Opfer war bewusstlos oder tot und hielt still. Nur ein paar Sehnen und Nerven hielten es an Ort und Stelle, in jedem Haushalt fanden sich genügend Werkzeuge, um sie zu durchtrennen. Er fragte sich, ob sie vor oder nach dem Tod entfernt worden waren. Die Autopsie würde es vermutlich verraten.
Er hat sie also woanders getötet, ausgenommen und die Augen entfernt. Dann hat er sie zur S-Linie geschleift und abgelegt.
In das Brustbein, zwischen den Brüsten, war ein Hut eingeritzt, darüber stand die Nachricht an Jazz:
WILLKOMMEN IM SPIEL, JASPER.
Spiel.
Es ist kein Spiel, du krankes Arschloch.
Der Tod war vermutlich in den frühen Morgenstunden eingetreten. Das bedeutete, sie war getötet worden, bevor die Presse in New York von Jazz’ Anwesenheit in der Stadt und seiner – inoffiziellen – Mitarbeit an dem Fall Wind bekommen hatte.
»Wir können also nicht wissen«, hatte Morales gesagt, »ob der Kerl die Nachricht an dich hinterlassen hat, bevor die Presse berichtet hat, dass du in der Stadt bist, oder danach. Vorher bedeutet, er hat den Artikel gesehen, den Weathers auf der Website der Zeitung von Lobo’s Nod platziert hat. Falls nachher, fordert er dich immer noch heraus. So oder so ist er besessen von dir.«
WILLKOMMEN IM SPIEL, JASPER.
Es klang fast, als könnte es von Billy sein – aber eben nur fast. Denn da war dieses Wort: Spiel. Billy betrachtete das, was er tat, nie als Spiel. Es machte Spaß, ja, aber die Art Spaß, die man tödlich ernst nehmen musste. Es hatte seinen Grund, dass er es als Schürfen bezeichnete. Für die Erzschürfer früherer Zeiten war es meist um Leben und Tod gegangen, und wenn sie erfolgreich gewesen waren, feierten sie.
Jazz erinnerte sich, wie Billy von seinen Schürfexpeditionen zurückgekommen war, gerötet vor Aufregung und Erfolg. Er hatte seinen Koffer ausgeleert, ein Durcheinander von Kleidungsstücken, Trophäen, Zeitungsausschnitten seiner Heldentaten und hin und wieder einem Körperteil, dann hatte er sich erschöpft in den großen Polstersessel im Wohnzimmer fallen lassen und stundenlang die Fernsehberichterstattung seiner Abenteuer angesehen, während er chinesisches Fast Food aß und literweise Cream Soda trank.
Jazz spielte inzwischen unschuldig mit dem Inhalt von Dear Old Dads Koffer und räumte die Trophäen dann gewissenhaft in den Hobbyraum.
Als das Flugzeug landete, war Jazz überrascht, dass Hughes am Ausgang auf ihn wartete.
»Ohne Freundin diesmal?«, fragte der Detective.
»Ich war mir sicher, man würde Sie suspendieren nach dem Anschiss, den Sie von Ihrem Captain bekommen haben.«
»Ich bin zu wertvoll«, scherzte Hughes. »Okay, aber tut mir leid, die Geschichte«, fuhr er auf dem Weg zum Auto fort, das schändlicherweise im Halteverbot stand, bewacht von einem Mitarbeiter der Fluglinie. »Ich wollte dich nicht belügen. Aber ich bin in diesem Fall seit Monaten nicht weitergekommen und wollte dich hinzuziehen, doch Montgomery …«
»Ich versteh schon«, sagte Jazz und stieg ein. »Es ist nicht so, als hätte ich noch nie die Regeln verletzt.«
Hughes nickte und gab Gas. »Wenn ich richtig informiert bin, hast du unseren FBI-Kontakt bereits kennengelernt, ja?«
Jazz überlegte kurz, ob er Morales’ Angebot, ihm bei der Tötung Billys zu helfen, erwähnen sollte. Lieber nicht. Hughes mochte zu Alleingängen neigen, aber er glaubte nicht, dass der Detective regelrechten Mord unterstützen würde. »Ja. Sie hat ein bisschen versucht, mir den Kopf zu verdrehen, aber schnell einen anderen Ton angeschlagen.«
»Das macht sie gern. Mit Kerlen herumspielen. Sie ist eine Lesbe, musst du wissen.«
Jazz krümmte sich bei dem Wort. »Das wusste ich nicht«, sagte er beiläufig und fragte sich, was Hughes dazu sagen würde, wenn er auf Gramma machen und ihn Nigger nennen würde.
»Es ist statistisch erwiesen, dass das FBI von allen Strafverfolgungsbehörden im Land den höchsten Anteil von Lesbierinnen hat. Ist das nicht interessant?«
Das war tatsächlich interessant. »Wirklich?«
Hughes lachte schallend. »Nein. Ich habe es erfunden. Aber es klingt wie etwas, das stimmen könnte, oder?«
Lesbe. Erfundene FBI-Statistiken. Hughes hatte seine Psychoabwehr wieder aktiviert. Jazz konnte es ihm nicht verübeln.
»Sie sind ein echter Witzbold. Ist irgendwas Neues passiert, während ich in der Luft war?«
»Nein. Wir warten immer noch auf den toxikologischen Bericht, Autopsie und alles. Und wir sind immer noch mit dem Tatort beschäftigt.«
»Wie geht es jetzt weiter?« Es wurde bereits dunkel, aber davon wollte sich Jazz nicht bremsen lassen. Er konnte es kaum erwarten loszulegen.
»Na ja, als Erstes bringe ich dich zum Tatort. Die S-Linie fährt an manchen Wochenenden gar nicht, und das ist eins davon. Deshalb lassen wir uns mit der Tatortanalyse Zeit. Als ich das letzte Mal nachgefragt habe, war die Leiche noch dort. Ich habe sie gebeten, sie so lange wie möglich dort zu behalten, damit du sie noch sehen kannst.«
»Gut. Und danach?«
»Dann zum Revier. Montgomery und Morales wollen dich umfassend auf den Stand der Dinge bringen. Offiziell.«
Jazz nickte und betrachtete das Foto auf seinem Handy. »Dieser Kerl, wer immer er ist …«
»Er wird eingebildet«, sagte Hughes. »Und das heißt, er wird bald einen Fehler machen.«
»Vielleicht. Ich hoffe es. Manchmal werden sie eingebildet, weil sie allen Grund dazu haben.«