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Als nur noch eine halbe Stunde Fahrzeit bis zum Flughafen blieb, hörte Howie endlich auf, im Rückspiegel nach dem Blaulicht der Polizei von Lobo’s Nod Ausschau zu halten.
»Anscheinend haben sie mir geglaubt«, sagte Connie leise.
»Würdest du wirklich den Kontakt zu ihnen abbrechen, wenn sie dich bei der Polizei hinhängen?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie war während der ganzen Fahrt still gewesen und hatte missmutig aus dem Fenster gesehen. Er versuchte gerade, sich etwas sehr Blödes oder Lustiges auszudenken – seine übliche Taktik –, als das Telefon in seiner Tasche läutete. Howies stets um ihr Baby besorgte Mutter hatte ihm, kaum war der Wagen gekauft gewesen, eine Freisprechanlage mit allem Drum und Dran einbauen lassen, damit er nicht beim Fahren mit dem Handy telefonierte, deshalb meldete sich unmittelbar nach dem ersten Läuten eine angenehme, erotische Computerstimme und sagte: »Anruf. Jazz Matazz.« Howie hatte Jazz in dieser Form in seine Kontaktliste aufgenommen, weil es ihm gefiel, wie die Freisprechanlage »Jazzmatazz« sagte.
Connie schreckte zum ersten Mal seit der Abfahrt bei ihr zu Hause aus dem Sitz hoch. »Egal was du …«, fing sie an, aber Howie hatte bereits auf »Antworten« gedrückt.
»Jazz Matazz!«, rief er.
»Nennt mich das blöde Ding immer noch so?«
»Natürlich nicht. Ich habe nur Spaß gemacht.«
»Was treibst du gerade?«
Neben ihm schüttelte Connie heftig den Kopf und machte abwehrende Gesten mit der Hand.
»Ich fahre Connie zum Flughafen.«
»Herrgott noch mal, Howie!«, brauste Connie auf.
»Connie«, sagte Jazz aus dem Lautsprecher, »wohin willst du? Hierher nach New York?«
»Ja«, sagte sie und sah Howie böse an.
»Tu es nicht.«
»Na ja, ich muss …«
Als Jazz wieder sprach, war seine Stimme so kalt und gebieterisch, dass Howie einen Moment lang glaubte, Billy Dent habe am anderen Ende das Telefon an sich gebracht. »Komm nicht nach New York. Das ist nichts, worüber wir auch nur diskutieren. Kehr einfach um, und fahr wieder nach Hause. Howie, ich brauche deine Hilfe bei etwas.«
Howie riskierte einen Blick zu Connie hinüber, deren Gesicht wutverzerrt war und die die Lippen aufeinanderpresste, als müsste sie verhindern, dass sie Feuer spuckte.
»Äh, klar, Mann … aber du solltest vielleicht …«
»Ich weiß nicht, wie ich Apps auf mein Smartphone laden kann«, sagte Jazz mit einem sonderbaren Drängen in der Stimme.
Howie lachte nervös. »Ist das wirklich im Augenblick dein größtes …?«
»Ich brauche eine ganz bestimmte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie existiert. Kannst du mich anleiten?«
»Jazz, das ist irgendwie …« Rechts von ihm starrte Connie jetzt wieder aus dem Fenster.
»Bitte!«, kam es aus dem Lautsprecher.
»Ist gut, ist gut. Was brauchst du?«
Er sagte es ihm. Howie war zwar komplett verwirrt, erklärte ihm aber dennoch, wie man die fragliche App ausfindig machte und herunterlud.
»Danke«, sagte Jazz. »Du kehrst jetzt um und fährst nach Hause, richtig? Ich verlasse mich auf dich. Und Connie? Con?«
Howie studierte ihre grimmige Haltung. »Das ist jetzt kein so günstiger Zeitpunkt, Alter. Wenn ich das richtig deute, wirst du sehr, sehr lange nicht rangelassen werden.«
»Con, ich weiß, dass du mich hörst. Ich verstehe, dass du sauer bist. Aber ich stecke hier mitten in einem ziemlichen Wahnsinn, und ich halte nur durch, weil ich weiß, dass du zumindest in Sicherheit bist. Okay? Ich liebe dich.«
Dann herrschte Stille, während er darauf wartete, dass sie dasselbe sagte. Als sie nichts sagte, brach die Verbindung ab.
»Du hättest mit ihm reden können«, sagte Howie nach einigen Minuten.
»Hast du seine Stimme vorhin gehört?«, fragte sie. »Billy durch und durch. Das kann er mit mir nicht machen.«
Howie blinkte und wechselte die Fahrspur.
»Was tust du?«, fragte Connie. »Verlässt du den Highway?«
»Na ja, du hast ihn ja gehört. Ich werde wenden und …«
»Du wirst nichts dergleichen tun.«
»Aber …«
»Er weiß nicht, was hier vor sich geht«, unterbrach Connie. »Ich werde diese geheimnisvolle Person aufspüren und ihm helfen, ob es ihm gefällt oder nicht.«
Howie sah eine Ausfahrt vorbeiziehen. Er konnte immer noch bei der nächsten abfahren …
Ach, wem versuchte er hier etwas vorzumachen?
»Ruf ihn wenigstens an. Sag ihm, was los ist.«
»Wenn er so drauf ist? Wenn er so spinnt? Niemals.« Sie stieß den Zeigefinger in Howies Richtung, und er zuckte zusammen, obwohl sie ihn gar nicht berührt hatte. »Und du rufst ihn auch nicht an. Denn wenn ich erst im Flugzeug bin, kann er mich nicht mehr aufhalten. Das kann dann niemand mehr. Und wenn er es weiß, wird er ausrasten und sich nicht mehr konzentrieren können, und das kann ihn in seiner Lage das Leben kosten.«
»Gut, gut.« Wie sich herausstellte, war die nächste Ausfahrt die zum Flughafen. Howie nahm sie. »Aber weißt du auch genau, was du tust? Es könnte gefährlich werden.« Er hatte es noch gar nicht richtig ausgesprochen, da kam er sich schon wie ein Idiot vor. Eine geheimnisvolle Stimme verführte Connie zu einer Reise nach New York. Manipulierte sie. Selbstverständlich war das gefährlich. Hinter diesen Anrufen steckte schließlich entweder Billy Dent oder jemand, der so war wie er. »Vielleicht solltest du es einfach der Polizei überlassen.«
»Der New Yorker Polizei? Die haben bereits mit diesem Hut & Hund-Mörder alle Hände voll zu tun. Die Sache ist persönlich. Ich fliege nach New York, suche diesen Hinweis am JFK-Airport und fahre dann zu Jazz. Zeige ihm, was wir haben, was wir schon wissen. Und nur für alle Fälle und zur Rückendeckung …« Sie drehte sich im Sitz herum und angelte die Kassette von der Rückbank. »Ich will, dass du wartest, bis mein Flug gestartet ist, dann bringst du das hier zum Sheriff.«
»Verstanden. Wird gemacht. Sammy J und ich halten die Stellung hier in Lobo’s Nod«, versprach Howie.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Connie den Kopf wandte und ihn fassungslos anstarrte. »Was ist?«, fragte er abwehrbereit. »Was habe ich jetzt wieder angestellt?«
»Was hast du eben gesagt?«, fragte sie, und in ihrer Stimme schwang Panik mit.
»Ich sagte, ich halte die Stellung mit Sam. Hundertprozentig. Wir passen auf, dass Gramma friedlich bleibt. Wir fragen beim Sheriff nach, ob die Polizei noch etwas über die Kassette in Erfahrung gebracht hat. Wir …«
»Nein. Was hast du genau gesagt?« Ehe er seine exakten Worte wiederholen konnte, sprang sie für ihn ein. »Du hast gesagt: ›Sammy J und ich‹. Sammy J.«
»Ja. Es ist nur ein Spitzname.« Howie blinkte und fuhr in die Flughafenzufahrt. »So haben sie Samantha als Kind genannt.«
»Und klingt Sammy J nicht ein wenig wie jemand anderer, den wir kennen?«
Es herrschte nicht viel Verkehr, deshalb riskierte es Howie, den Blick von der Straße zu nehmen. Connie lehnte sich in ihrem Gurt zu ihm hinüber und sah ihn an, als könnte sie ihm die Antwort geradezu einbrennen. »Wovon redest du?«, fragte er. »Wieso rastest du plötzlich so aus? Es ist nur ein Spitzname.«
»Sammy J. J«, betonte sie den letzten Buchstaben überdeutlich.
Jetzt endlich fiel der Groschen. »Großer Gott, Connie. Du glaubst, Sammy J ist Ugly J? Nur weil es die gleiche Initiale ist? Das ist doch verrückt.«
»Ich sage dir, was verrückt ist. Seine Stimme unkenntlich zu machen, wenn es keinen Grund dafür gibt. Billy würde es nicht tun, weil ich bereits weiß, wer er ist. Der einzige Grund, warum es jemand anderer tun könnte, ist …«
»Weil du die Stimme kennst«, unterbrach Howie. »Aber du hast Sam nie kennengelernt.«
»Oder um sein Geschlecht zu verbergen«, sagte Connie. »Und es stimmt, dass ich ihr bisher nie begegnet bin, aber es könnte noch passieren. Solange sie hier bei Jazz wohnt, ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch.«
»Das ist doch Blödsinn«, sagte Howie in einem Tonfall, der nicht einmal ihn selbst überzeugte.
»Wer ist neu in der Stadt, dem ich noch nie begegnet bin, aber wahrscheinlich irgendwann begegnen werde? Wer ist der einzige Mensch in diesem Durcheinander, der Grund hat, seine Stimme vor mir zu verbergen?«
»Du setzt zu viel voraus. Ich meine, das könnte jeder sein. Oder jede«, fügte er rasch hinzu. »Vielleicht hat er – oder sie – nur Angst, dass du eure Gespräche aufzeichnest. Oder ihn irgendwann später einmal anhand der Stimme identifizieren kannst. Oder …«
»Du kannst dir so viele ›Oder‹ ausdenken, wie du willst, aber sei mal ehrlich – das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Person mir bekannt ist. Oder uns. Das ist vielleicht nicht hundertprozentig sicher, aber komm, Howie.«
Howie gab es nur ungern zu, aber sie hatte nicht ganz unrecht. Und plötzlich ging ihm das Fotoalbum nicht mehr aus dem Kopf, das Gramma ihm gezeigt hatte. Die Bilder von Sam als kleinem Mädchen. Ich war eine Spätentwicklerin …
»Wir wissen, dass Billy eine Verbündete draußen hatte«, fuhr Connie fort. »Jemand, der seine Flucht aus Wammaket koordinierte. Jemand, der mit dem Impressionisten in Kontakt stand. Was, wenn es seine Schwester war?«
Howie schüttelte den Kopf. »Nein. Das glaub ich nicht.«
»Weil du mit ihr schlafen willst.«
»Das hat damit nichts zu tun. Ich glaube es nicht, weil Sam Billy hasst. Du solltest sie sehen, wenn die Sprache auf ihn kommt. Sie verabscheut den Kerl. Himmel, sie hat öffentlich gesagt, dass sie den Schalter betätigen würde, wenn sie ihn hinrichten.«
»Ja, klar, und ich habe zu meinen Eltern gerade gesagt, dass ich nie mehr ein Wort mit ihnen rede, wenn sie mir die Polizei auf den Hals schicken. Es hat so ernst für sie geklungen, dass sie es nicht getan haben.«
Howie steuerte den Wagen wortlos in die Kurzzeit-Haltebucht und blieb stehen. »Mann«, sagte er schließlich. »Habe ich etwa die rechte Hand eines Serienmörders angebaggert? Gibt es überhaupt so etwas wie Serienmörderinnen?«
»Ich glaube ja. Jazz hat einmal eine erwähnt. Eine Frau in England, wenn ich mich recht erinnere. Sam könnte eine Serienmörderin sein.«
»Vorsicht. Du redest hier von der Mutter meiner unehelichen Kinder.«
»Howie.«
»Aber im Ernst – wie hoch ist die Chance, dass Bruder und Schwester zu einem Serienmördergespann werden?«
»Sie haben die gleichen Eltern, die gleichen Erbanlagen, die gleiche Umgebung. Ich weiß nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, aber es ist nicht unmöglich.«
»Wie finden wir es heraus? Sollen wir sie einfach fragen?«
»Auf keinen Fall. Es muss eine Möglichkeit geben, es herauszufinden, ohne sie direkt damit zu konfrontieren.«
»Ich frage Gramma«, scherzte Howie.
»Um Himmels willen, was, wenn sie mit im Spiel ist? Das habe ich mir früher schon gedacht – was, wenn sie diese Alzheimer-Geschichte nur vortäuscht?«
»Ausgeschlossen, Connie. Nein, nein. Du warst nicht so oft in ihrer Nähe wie ich. Glaub mir – die Frau ist verrückt. Und nicht auf die Weise, die du meinst. Nicht in dem Sinn Genie des Bösen, Hannibal Lector und so. Sie hat schlicht nicht mehr alle Tassen im Schrank. Manchmal muss ihr Jazz die Windeln wechseln, Herrgott noch mal. Meinst du, sie würde sich das antun, nur um uns etwas vorzumachen?«
Sie saßen still im Wagen und sahen sich ratlos an, bis ein Hupen hinter ihnen sie aus ihren Gedanken riss.
»Vielleicht sollte ich doch hierbleiben …«, sagte Connie zögerlich, beinahe unwillig.
»Nein. Flieg du nach New York. Finde heraus, was es mit dieser Glocke auf sich hat. Such nach dem anderen Hinweis. Das hängt alles zusammen. Was in New York vor sich geht, hat mit dem zu tun, was hier passiert. Du arbeitest mit Jazz an der New Yorker Sache, und ich kümmere mich um hier.«
»Bist du dir sicher?« Sie war besorgt, so viel war klar.
Howie konnte es ihr nicht verübeln. Er machte sich selbst ebenfalls Sorgen. Er war irgendwie gern am Leben. Außerdem fand er Sam scharf, und es wäre wirklich beschissen, wenn sich herausstellen würde, dass sie so verrückt war wie ihr Bruder. »Sicher? Nein. Aber flieg nur.« Hinter ihnen wurde wieder gehupt. »Steig jetzt lieber aus. Und sei um Himmels willen vorsichtig! Da läuft eine ganz üble Chose.«
»Howie …«
»Ich meine es ausnahmsweise ernst. Geh jetzt. Alles wird gut. Ich bin nicht so zerbrechlich, wie ich aussehe.«
»Ich weiß. Das ist ja das Problem – du bist noch zerbrechlicher.«
»Das stimmt.« Er beugte sich spontan zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. »Raus jetzt. Du musst einen Flug erwischen.«
Nachdem Connie die Sicherheitsschleusen passiert hatte, musste sie laufen, um ihre Maschine zu erwischen, und stieg unmittelbar vor dem Schließen der Türen zu. Sie entschuldigte sich bei ihren Sitznachbarn und schob sich zu ihrem Platz in der Mitte.
Tat sie das Richtige? Sie hatte Howie – Howie! – vollkommen schutzlos mit Gramma zurückgelassen, die verrückt genug für drei Leute war, und mit Samantha, die möglicherweise keine Spur besser war. Auch wenn er sie ermutigt hatte zu gehen – war es richtig von ihr?
Sie wühlte in ihrer Handtasche. Howie hatte recht. Es war an der Zeit, Stolz und Zorn beiseitezulassen – wie berechtigt beides auch sein mochte – und Jazz anzurufen. Mal sehen, was er dachte. Wäre es nicht sinnvoller, wenn er zum JFK fuhr? Natürlich würde es ihn vom Fall Hut & Hund ablenken, aber Howie hatte recht – die Fälle hingen zusammen. Alles hing zusammen, wie ein Netz, das sich von der Vergangenheit in die Gegenwart erstreckte, von Lobo’s Nod nach New York, und in dem sie sich alle verfangen hatten: Jazz, Billy, Sam, Howie, der Hut & Hund-Killer, der Impressionist, Connie selbst, die Opfer … Sie konnte die Knoten noch nicht entwirren und sehen, wohin alles führte, aber sie wusste, dass alles verbunden war.
»Keine elektronischen Geräte, Miss«, sagte eine Stewardess, als Connie gerade Jazz’ Nummer drücken wollte.
»Aber …«
»Ausschalten, bitte. Sofort.« Ihr grimmiges Lächeln dazu schien zu sagen: Leg dich nicht mit mir an, Schwester.
Connie beendete den Anruf vor dem ersten Läuten, dann klappte sie demonstrativ ihr Handy zu. Jetzt hatte sie den gesamten Flug Zeit, um darüber nachzudenken, dass sie Howie womöglich in den Tod geschickt hatte.
Und dass sie vielleicht freiwillig auf ihren eigenen zuflog.
Um fünf Uhr abends sah Jazz’ Hotelzimmer aus, als wäre ein Schrank voll mit mathematischen Formeln explodiert.
Aber er hatte die Antwort. Es passte alles zusammen.
Er sah auf die neue App seines Telefons, dann wechselte er hinüber zu dem Blatt Papier mit den neuesten Kritzeleien darauf. Ja, ja, es ergab alles einen Sinn.
Einen verrückten Sinn, aber nichtsdestoweniger. Irgendwie passte es, dass Billy und G. William die entscheidenden Bemerkungen gemacht hatten.
Hughes hatte ihn ermahnt, sich nicht auf dem Revier blicken zu lassen, aber seine Entdeckung war zu bedeutend.
Er raffte einige Papiere zusammen und überprüfte noch einmal alles auf seinem Smartphone. Dann steckte er Belsamos Prepaidhandy ein und ging zur Tür hinaus.