Kapitel 31

Hannah folgte Jericho, um dem Gelächter der Männer zu entkommen. Doch nach wenigen Schritten hatte sie die anderen schon völlig vergessen. Alles, was sie wahrnahm, war Jerichos warme Hand, die ihre umfasste. Stark, beschützend und liebevoll. Sie hätte sie am liebsten für den Rest ihres Lebens festgehalten.

Jericho verlangsamte allmählich seine Schritte zu einem Schlendern. Seine raue Haut rieb gegen ihre weiche und verursachte ein Kribbeln, das über ihren ganzen Körper lief. Er streichelte ihren Handrücken mit seinem Daumen und schaute sie an. Sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln. Hannahs Herz schlug fest und schnell. Da sie wusste, dass die Blicke der halben Stadt auf sie gerichtet waren, wandte sie ihre Augen ab und starrte auf den Boden vor sich. Doch noch nie hatte sie seine Gegenwart intensiver wahrgenommen als in diesem Moment.

„Es tut mir leid wegen eben“, sagte sie hastig. „Ich wollte mich nicht so in deine Arme werfen. Es war nur … es ist einfach passiert.“

Jericho blieb stehen. „Liebling, du kannst dich in meine Arme werfen, wann immer dir der Sinn danach steht.“ Seine braunen Augen funkelten belustigt … und es stand auch noch etwas anderes darin, das ihr Herz erzittern ließ. „Ich verspreche dir, dass ich dich immer auffangen werde.“ Die sanfte, tiefe Stimme ließ sie erzittern und entfachte den Wunsch, mit ihm allein zu sein. Aber das konnte sie nicht. Sie musste einen Drachen steigen lassen.

„Wir sollten zurückgehen“, sagte sie bedauernd.

Jericho ließ ihre Hand los und räusperte sich. „Tom hat mir einen guten Platz zum Drachensteigen gezeigt. Er ist ein bisschen oberhalb dieses Tals am Fluss.“ Er legte ihren Arm in seinen und führte sie zurück zu ihrer Picknickdecke.

Sie war dankbar für das unverfängliche Gesprächsthema, das ihr half, ihre aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen. „Das hört sich wunderbar an. Ich bin sicher, dass sich die Kinder freuen werden.“

Beide schwiegen, während sie zurückgingen. Hannah sah Jericho ab und zu von der Seite an, wobei sich jedes Mal ihr Herzschlag beschleunigte. Würde er irgendwann die Unterhaltung beenden, die er heute angefangen hatte, bevor Tom sie unterbrochen hatte?

Ihr Herz verlangte danach, dass er ihr seine Gefühle offenbarte. Sein Verhalten hatte ihr schon deutlich gezeigt, was er empfand, doch sie wollte es aus seinem Mund hören. Wollte wissen, wie er es aussprach. Wollte wissen, ob er die Schmerzen aus seiner Kindheit verarbeitet hatte und sich ohne Vorbehalte auf sie einlassen konnte.

Wieder warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu, doch er sah zu Boden, ohne etwas zu sagen. Enttäuschung durchflutete sie.

Schenk mir Geduld, Herr. Du hast versprochen, dass für jene, die dich lieben, alles gut werden wird. Ich bitte dich, dass Jericho sein Leben mit mir teilt. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn von ganzem Herzen. Bitte schenk mir eine Zukunft mit diesem Mann.

Mit einem leisen Seufzer schob Hannah ihre Sorgen beiseite und hieß die Unbeschwertheit willkommen, die ihnen folgte. Die Sonne stand am Himmel, eine kühle Brise strich über ihre Wangen und Kinderlachen erfüllte die Luft. Es war ein wunderschöner Tag, den Gott ihnen heute schenkte. Sie würde ihn nicht durch Zweifel ruinieren.

Als Jericho und sie den Picknickplatz fast erreicht hatten, schnappte sich Tessa den Drachen und winkte damit wild hin und her.

Hannah wurde langsamer. „Oh nein.“

Jericho wandte sich ihr zu. „Was ist?“

„Ich habe keine Ahnung, wer als Erstes dran sein soll. Sie waren alle so brav. Hast du eine Idee?“

Die Frage hing eine Weile in der Luft, als könnte Jericho nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich um Rat gefragt hatte, aber nach einigen Augenblicken nickte er entschlossen.

„Ich glaube, ich habe da eine ganz gute Lösung.“

Und die hatte er tatsächlich. Ein Spiel mit kürzeren und längeren Zahnstochern legte die Reihenfolge fest. Ike bot sich an, Cordelia beim Einpacken der Essensreste zu helfen, was Louisa gestattete, zum Drachensteigen mitzukommen. Die Kinder rannten vor, gefolgt von ihrer Mutter in ruhigerem Tempo, doch Jericho ließ sich besonders viel Zeit, um seinen Mantel von der Decke aufzuheben und ihn gründlich auszuschütteln.

Eine genervte Cordelia warf Hannah einen flehenden Blick zu, den Hannah sofort verstand. Sie zog Jericho mit sich mit. Als sie davongingen, warf er immer wieder Blicke über die Schulter und murmelte, dass es sich nicht schickte, seine Schwester mit Ike alleine zu lassen.

Hannah tätschelte seinen Arm. „Lass sie in Ruhe, Jericho. Halb Coventry hat ein Auge auf sie. Außerdem glaube ich, dass du Ike vertrauen kannst.“

Seine Lippen waren fest aufeinandergepresst, doch er nickte. „Du hast recht.“

Sie gingen schneller, um Louisa und die Kinder einzuholen. Kurz bevor sie die anderen erreicht hatten, wandte sich Jericho noch einmal zu ihr. „Ich werde trotzdem aufpassen und ihn böse anstarren, nur um sicherzugehen. Wenigstens, bis er einen Ring an Delias Hand gesteckt hat. Oder vielleicht auch noch ein bisschen länger.“

Hannah lächelte. „Ich habe auch nichts anderes erwartet.“

* * *

Der Wind war perfekt, um einen Drachen steigen zu lassen. Jedes Kind kam an die Reihe, aber die kleine Molly hatte Schwierigkeiten, ihn in der Luft zu halten. Nach dem dritten Absturz half Hannah ihr. Sie nahm sich die Spule und fing an zu laufen, bis der Drachen hoch oben schwebte. Völlig außer Atem reichte sie Tessa die Schnur und sagte ihr, sie solle ihrer Schwester helfen. Dann stützte sie sich an einen Baum, um wieder zu Atem zu kommen. Ihr war ziemlich schwindelig geworden.

„Du hättest mich laufen lassen sollen“, flüsterte eine tiefe Stimme an ihrem Ohr. „Du fällst ja fast um.“

„Tu … ich … nicht.“ Irgendwie schaffte sie es, die Worte zwischen ihren Japsern auszustoßen.

Jericho nahm sie am Arm, aber sie schob ihn weg, weil sie ärgerlich war über ihre schlechte Kondition. Normalerweise lief sie die doppelte Strecke ohne Probleme. Natürlich hatte sie sonst weder ein Korsett noch ein Kleid aus schweren Stoffbahnen an.

„Starrköpfige Frau.“ Jericho sah sie wütend an. „Es wäre wirklich nett, wenn du ab und zu mal zugeben würdest, dass du meine Hilfe brauchst.“ Er ließ sie einfach stehen und stapfte davon.

Hannah blickte ihm entsetzt hinterher. Sie hatte ihn verletzt. Das hatte sie in seinen Augen gesehen. Er dachte, dass sie ihn nicht brauchte, aber nichts konnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als das. Sie brauchte ihn so sehr, dass es schmerzte. Aber wie sollte sie ihm das zeigen?

Langsam erholten sich Hannahs Lungen wieder und ihr Kopf wurde wieder klarer. Sie hasste es, schwach zu sein. All die mitleidigen Blicke, die sie als Kind nach ihrem Badeunfall erhalten hatte, reichten für den Rest ihres Lebens. Seitdem ihre Mutter ihr die Gymnastikübungen beigebracht hatte, hatte Hannah sich geschworen, stark zu sein, egal was es sie kosten würde. Und das war sie gewesen. Sie war stolz auf ihren Gesundheitszustand und den beruflichen Erfolg, den sie ohne eisernen Willen niemals erreicht hätte. Doch jetzt hatte dieser Stolz den Mann verletzt, den sie liebte.

Jericho hatte recht. Sie war starrköpfig. Dumm und uneinsichtig.

Sie beschloss, zu den anderen zurückzugehen und sich in einer stillen Minute bei Jericho zu entschuldigen. Sie ging einige Schritte vorwärts … direkt in das Loch eines Präriehundes. Ihr Absatz verfing sich, das Fußgelenk knackste und sie taumelte gegen einen Kaktus, an dem sie eben noch vorsichtig vorbeigegangen war. Ein paar der Stacheln bohrten sich durch den dünnen Stoff ihres Rockes, bis in die empfindliche Haut darunter. Mit einem Schrei sprang sie vorwärts, nur um ein Unheil verheißendes Reißen zu hören.

Hannah schloss die Augen und seufzte. Warum musste es ausgerechnet ihr neues Kleid sein? Ihr rechtes Fußgelenk schmerzte, ihr Oberschenkel war zerstochen und jetzt war auch noch ihr Kleid in einem Kaktus gefangen. Der Herr musste beschlossen haben, sie von ihrem Stolz zu kurieren.

„Miss Hannah, guck mal!“, rief Molly aus einiger Entfernung. „Ich kann allein fliegen!“

„Wunderbar, Liebes. Ich komme sofort.“ Sie winkte zu den anderen hinüber, aber als Jericho zu ihr sah, ließ sie ihre Hand sinken. „Mr Tucker?“, rief sie. „Könnten Sie mir einen kurzen Augenblick behilflich sein?“

Er starrte sie an, ohne sich zu rühren. Dann endlich, als er seine Überraschung überwunden hatte, dass sie ihn um Hilfe bat, kam er langsam auf sie zu.

Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen und sah sie erwartungsvoll an. Hannah schluckte. So leicht war es doch nicht, ihren Stolz aufzugeben.