Kapitel 3
J.T. handelte, ohne nachzudenken. In einer einzigen Bewegung ließ er den Koffer fallen und sprang über das Treppengeländer auf die Erde. Seine Stiefel landeten so hart, dass seine Füße und Knie schmerzten.
Schnell rappelte er sich auf und hoffte, dass Miss Richards nicht allzu schlimm verletzt sein würde. Aber anstatt eines Haufens aus zerfetztem blauen Stoff, den er eigentlich vor sich erwartet hatte, sah er plötzlich direkt vor seinem Kopf ein paar hübsche Füße baumeln. Hilflos zappelten sie in einem weit gebauschten weißen Unterrock.
Der blaue Rock von Miss Richards’ Kleid schien sich oben an der Treppe verfangen zu haben. Ihre schwarzen Strümpfe wirkten auf dem Weiß des Unterrocks wie Kohle im Schnee. Die fein gestrickte Wolle, die kurz über ihren Schuhen begann, betonte den zarten Schwung ihrer Waden, bevor sie im Gestöber der weißen Wolke verschwand, die sie umgab.
Schnell wandte J.T. sich ab und hüstelte verlegen. Die arme Frau war gerade durch eine Treppe gestürzt, während er nichts Besseres zu tun hatte, als ihre Beine zu bewundern. Wo hatte er nur seine Augen! J.T. zog seinen Hut tiefer ins Gesicht, räusperte sich und hoffte darauf, dass sein Verstand wieder normal arbeiten würde.
Sie musste ihn gehört haben, denn plötzlich hörte sie auf zu strampeln.
„Mr Tucker?“
Ihre Stimme klang atemlos. Als er seine Gedanken wieder unter Kontrolle gebracht hatte, trat er einen Schritt zur Seite, um ihre Situation genauer abschätzen zu können. Offenbar hatte sich nicht der Stoff des Kleides verhakt, sondern sie musste es geschafft haben, sich an der obersten Treppenstufe festzuhalten, denn ihr Kopf, die Schultern und die Arme konnte er nicht sehen.
„Ich bin hier, Miss Richards.“ Wieder räusperte er sich. Sein Mund war staubtrocken.
„Es scheint, als hätte ich meinen Schlüssel fallen lassen.“
Ein Kichern entfuhr ihm, bevor er sich zurückhalten konnte. Er schüttelte den Kopf und konnte nicht verhindern, dass ein breites Lächeln auf sein Gesicht trat.
„Ja, Ma’am. Ich glaube, das haben Sie. Vielleicht haben Sie auch ein oder zwei andere Dinge fallen lassen.“
„Das fürchte ich auch.“
Er sah noch einmal nach oben und achtete diesmal darauf, sich nicht von ihren Beinen ablenken zu lassen. Bildete er sich das nur ein, oder war sie tatsächlich ein Stück tiefer gerutscht?
„Ähm … Mr Tucker?“ Ihre Stimme klang gepresst. Sie stieß ein Ächzen aus, als sie sich vorsichtig bewegte.
„Ja, Ma’am?“
„Ich weiß, dass es nicht Teil unserer ursprünglichen Vereinbarung gewesen ist …“ Wieder stöhnte sie. Und nun rutschte sie langsam immer tiefer. J.T.s Herz schlug wie wild.
„Aber könnten Sie mich vielleicht auffangen? Ich glaube nicht, dass ich mich noch lange –“
Er tauchte unter ihr hindurch, ihr erschrockenes Keuchen klang lauter in seinen Ohren als jeder Schrei. J.T. schaffte es, ihre Beine mit dem linken Arm aufzufangen, bevor sie den Boden berührten, und erwischte ihren Körper mit dem rechten. Er presste sie fest an sich, als er sich darum bemühte, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Als er endlich wieder zu Atem kam, sah er in Miss Richards Gesicht und war erschrocken, dass ihre Augen geschlossen waren.
„Geht es Ihnen gut?“
Die Falten um ihre Augen entspannten sich, als sie langsam die Augen öffnete. Fasziniert sah er, von welch strahlendem Blau sie waren.
„Ich … ich glaube schon. Danke, Mr Tucker.“
Sie blinzelte und senkte ihr Kinn. Als J.T. sie vorsichtig aus seinen Armen ließ, stieß er mit dem Kinn gegen ihre Haube. Eine der Blumen, die in den Stoff gesteckt waren, hatte sich bei dem Unfall gelöst und baumelte ihr ins Gesicht. Ungeschickt versuchte er, sie an ihren Platz zurückzustecken, aber das widerspenstige Ding gehorchte ihm einfach nicht. Schließlich gab er auf, zog die Blume ganz heraus und übergab sie ihrer Besitzerin.
„Hier.“
Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Blume entgegennahm. „Danke.“
Sie musste ihn für einen Narren halten. Und warum auch nicht? Er war einer. Versuchte er doch tatsächlich, eine überflüssige Blume in ihre Haube zurückzustecken. Was war nur über ihn gekommen? Schnell sah er sich nach einem Ausweg um und entdeckte glücklicherweise Miss Richards’ Täschchen in einer Ecke unter der Treppe.
„Ich … ähm … werde nach Ihrem Schlüssel suchen.“
Sie sagte nichts, aber er konnte das Rascheln ihrer Röcke hören, als sie hinter seinem Rücken versuchte, sie wieder zu ordnen. Er bückte sich, um die Tasche aufzuheben, und sah sich nach dem Schlüssel um.
„Vielleicht hätte ich mich an das Sprichwort erinnern sollen, bevor ich so stolz und überheblich die Treppe hinaufgetrampelt bin.“ Ihr Eingeständnis brachte ihn dazu, vom Boden hin zu ihr zu blicken. „Sie wissen schon … Hochmut kommt vor dem Fall.“
Ihre Worte auf der Treppe hatten ihn geärgert, aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er genauso Schuld daran hatte. Wenn er sich vorher nicht so unhöflich benommen hätte, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Doch er war noch nie gut darin gewesen, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
„Zu der Sache mit dem Hochmut kann ich nichts sagen“, sagte er mit einem Schulterzucken. „Aber gefallen sind Sie definitiv.“
Er war überrascht, als sie plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach. „Das stimmt.“
J.T. räusperte sich erneut und wandte sich schnell wieder dem Boden unter der Treppe zu. Nach kurzem Suchen sah er etwas aufblitzen. Der Schlüssel lag neben den hölzernen Überresten dessen, was einmal eine Treppenstufe gewesen war. Er klemmte sich die Tasche unter den Arm, hob den Schlüssel auf und sammelte auch die Holzteile ein. Jetzt sah er, dass das Holz völlig morsch war. Er zögerte. Wie viele der anderen Stufen waren wohl in dem gleichen Zustand?
Miss Richards trat neben ihn und nahm ihm Tasche und Schlüssel ab. „Danke, Mr Tucker. Wenn Sie nicht so schnell gehandelt hätten, hätte ich mich ernsthaft verletzen können.“
Er spürte, wie sie wieder förmlich und distanziert wurde, war aber zu sehr damit beschäftigt, die anderen Stufen zu untersuchen, um etwas zu erwidern.
„Ich weiß, dass Sie schnellstmöglich wieder zu Ihrem Stall müssen“, fuhr sie fort, „deshalb schließe ich schnell die Tür auf.“
Sie war fast oben auf der Treppe angekommen, als er endlich verstand, was sie dort tat.
„Kommen Sie sofort da runter, bevor Sie wieder stürzen!“ Die Worte kamen schärfer, als er es geplant hatte, aber die Angst um ihre Sicherheit ließ ihn so heftig reagieren. Das und die Tatsache, dass er, als er hochschaute, erneut diese schlanken Waden in den schwarzen Strümpfen zu sehen bekam.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Mr Tucker. Diesmal stampfe ich nicht so fest auf. Und ich halte mich am Geländer fest. Es geht schon.“
J.T. knirschte mit den Zähnen, als er zu der starrköpfigen Frau aufblickte, die er vorhin noch für intelligent gehalten hatte.
„Das Holz der Treppe ist verrottet. Andere Stufen könnten auch nachgeben.“
Ihre Augen wurden schmal, als sie den Mund fest zusammenpresste. „Danke für Ihre Fürsorge, aber wenn sie mich beim ersten Mal gehalten haben, werden sie es jetzt wohl auch tun.“
„Nicht wenn sie durch das Herumtrampeln eben gelockert wurden.“ Er verschränkte die Arme und hob herausfordernd eine Augenbraue. Nur weil die Stufen, die er schon untersucht hatte, in Ordnung gewesen waren, hieß das nicht, dass es die anderen auch waren.
Miss Richards ging noch einen Schritt nach oben, bevor sie ihm mit zum Himmel gerecktem Kinn antwortete. „Sie müssen mich nicht wie ein Kind behandeln, Sir. Ich bin durchaus in der Lage, diese Treppe alleine zu bewältigen.“
Er schnaubte.
Ihre Nasenflügel bebten. „Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie kein zweites Mal darum bitten werde, mich zu fangen. Jetzt hören Sie auf so finster zu starren.“
Er war bestimmt nicht derjenige, der finster starrte.
Aus ihren blauen Augen schienen Blitze in seine Richtung zu zucken. Er hatte Mühe, seinen strengen Gesichtsausdruck beizubehalten. Diese Frau war wie ein Feuerwerkskörper.
„Wissen Sie was?“, schnaubte sie. „Wenn ich noch einmal falle, müssen Sie Ihre Schadenfreude nicht unterdrücken.“
Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, wirbelte sie herum und legte die restlichen Stufen ohne Zwischenfall zurück, wobei sie einen großen Schritt über das fehlende Brett machen musste. J.T. folgte ihr langsam und atmete erst erleichtert auf, als Miss Richards endlich in dem Raum stand, der ihr als Wohnung dienen würde.
Diese leichtsinnige Frau. Sie würde eher ihren Kopf riskieren, als zuzugeben, dass sie etwas nicht alleine konnte. Schritt für Schritt prüfte er die verbliebenen Stufen. Sie alle schienen noch völlig intakt zu sein. Doch darum ging es nicht. Miss Richards hätte auf jeden Fall darauf warten sollen, dass er sich alle Stufen genau ansah, bevor sie sie erstürmte, als wäre sie Jeanne d’Arc auf einem Kreuzzug.
J.T. zog einen Zahnstocher aus seiner Hemdtasche und steckte ihn sich in den Mund. Er kaute darauf herum, während er sich das Loch in der Treppe ansah. Etwas widerwillig musste er schon anerkennen, wie besonnen sie reagiert hatte. Miss Richards wusste, wie sie sich in einer Krise zu verhalten hatte. Nicht nur, dass sie die Geistesgegenwart besessen hatte, sich an einer anderen Stufe festzuhalten. Sie hatte auch weder geschrien, noch war sie in Panik ausgebrochen. Sie hatte nur höflich gefragt, ob er sie auffangen könne. Jede andere Frau, seine Schwester eingeschlossen, hätte gekreischt wie ein Schwein beim Schlachter.
Mit einem Kopfschütteln ging J.T. zu der Stelle, wo er den Koffer hatte fallen lassen. Er war die Treppe hinuntergestürzt und lag im Schmutz der Straße. Gerade als Tom um die Ecke kam, wuchtete J.T. seinen Koffer wieder auf die Schultern.
„Ich bin mit den blauen Koffern fertig, J.T., deshalb wollte ich dir den hier noch bringen. Warum bist du so langsam? Ich dachte, du wärst schon lange fertig.“
„Miss Richards hatte eine kleine Panne auf der Treppe.“
Toms Augen weiteten sich vor Schreck.
„Es geht ihr gut“, versicherte J.T. ihm schnell. „Sie ist in ihrem Zimmer.“
„W-was ist passiert?“
J.T. nahm Tom den Koffer von der Schulter und stellte ihn neben seinen eigenen. „Eine der Stufen ist eingebrochen, sodass sie gestürzt ist, aber ihr geht es gut.“
„Wenn es ihr gut geht, warum sehe ich sie dann nicht hier?“
Der Junge atmete hastig und sein Blick flog panisch hin und her.
J.T. drückte seinen Arm, um die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken. „Du weißt doch, wie die Frauen sind. Sie ist bestimmt da oben und überlegt sich schon, was für Gardinen sie aufhängen und wo sie ihren Krimskram deponieren soll. Gleich kommt sie sicher wieder runter.“
Der Junge warf einen skeptischen Blick in Richtung Treppe. „Bist du sicher?“
„Klar.“ J.T. trat hinter Tom und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Was wir Männer jetzt tun sollten, ist, ein neues Brett zu besorgen, damit wir die Treppe reparieren können. Dann kann so etwas nicht noch einmal passieren. Meinst du, du kannst mir ein gutes Brett holen, während ich mich um Hammer und Nägel kümmere?“
Tom nickte energisch. „Klar, Sir.“
„Gut.“ J.T. klopfte ihm auf den Rücken. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, doch als sie zum Mietstall kamen, blickte Tom noch einmal zurück.
„Weißt du, J.T., weil Miss Richards keinen Mann hat, der sich um sie kümmert, sollten wir vielleicht nach ihr sehen. Glaubst du, Gott hat sie deshalb zu uns geschickt? Damit wir auf sie aufpassen können?“
J.T. kaute verdrossen auf seinem Zahnstocher herum. Er wollte nicht darüber nachdenken, ob und warum Gott diese Schneiderin in sein Leben gebracht hatte. Er hatte genug damit zu tun, sich um Cordelia und Witwen wie Louisa James zu kümmern. Er hatte nicht das geringste Interesse daran, sich einen starrköpfigen Menschen wie Hannah Richards aufzuhalsen, auch wenn sie in seine Arme passte, als wäre sie dafür geschaffen. Nein. Wenn er sich um ihre Treppe und den Rest ihres Gepäckes gekümmert hatte, würde er sie ihrer Wege gehen lassen.