Kapitel 4
Hannah blieb in ihrem Zimmer, bis die Stimmen der Männer endlich verklungen waren. Dann lugte sie vorsichtig durch die Tür, um sicher zu sein, dass sie auch wirklich nicht mehr da waren. Anschließend ließ sie sich auf einen hölzernen Stuhl fallen. Der Stuhl neigte sich zur Seite und wäre fast umgestürzt, wenn sie nicht im letzten Moment noch das Gleichgewicht gefunden hätte. Sie hätte am liebsten laut geweint, doch ihre Selbstbeherrschung behielt die Oberhand. Sogar die Zimmereinrichtung hatte sich gegen sie verschworen.
Ein kleines Holzstück unter dem zu kurz geratenen Stuhlbein würde die Sache regeln, doch was sollte sie mit Mr Tucker machen? Einmal war er der galante Gentleman, der sie rettete, sie umsorgte und sie in seinen Armen hielt, damit sie sich sicher fühlte. Im nächsten Augenblick war er ein arroganter, besserwisserischer Mann, der sie wie ein Kind behandelte und unglaublich dickköpfig war. Sie wusste nicht, ob sie ihn auf die Wange küssen oder gegen das Schienbein treten sollte.
Im Moment würde sie ihm lieber gegen das Schienbein treten.
Sie seufzte und stellte ihre Tasche auf den abgenutzten Tisch neben sich. Bei dieser Bewegung schmerzte ihr ganzer Körper. Doch Hannah interessierte sich mehr für den Zustand ihres Kleides und hob vorsichtig die Arme, um den Stoff und die Nähte zu untersuchen. Auf der linken Seite war eine Naht geplatzt, aber das würde sie mit ein paar Nadelstichen beseitigen können. Mehr Sorgen bereitete ihr eine Stelle, an der der Stoff etwas zerrissen war, aber das war eine unauffällige Stelle. Die Vorderseite des Kleides hatte nichts abbekommen, nicht einmal ein Knopf war abgerissen. Natürlich hatte Hannah von ihrer eigenen Arbeit nichts anderes erwartet.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr Reisekleid keine schlimmen Schäden davongetragen hatte, machte sich Hannah daran, ihr neues Heim genauer zu untersuchen. Ein kleiner Herd stand an der Wand zwischen zwei Fenstern. Ein einfaches Bett mit Matratze nahm den hinteren Teil des Zimmers ein. Ein paar Haken für Kleidung waren an der Wand angebracht, aber es gab keinen Schrank und keinen Waschtisch. Der alte Tisch und der wackelige Stuhl unter ihr vervollständigten die Einrichtung. Sehr sparsam. Vor allem, wenn sie den Stuhl und den Tisch mit nach unten nehmen würde.
Ihr Laden war wichtiger als ihre Wohnung. Sie brauchte eine Arbeitsunterlage, um die Stoffe zuzuschneiden und zu heften. Außerdem brauchte sie den Stuhl, um ihre Nähmaschine bedienen zu können. Da sie nicht wusste, wie lange es dauern würde, bis sie ein regelmäßiges Einkommen hatte, würde sie erst einmal sparen und ihr Geld zusammenhalten müssen.
Wenn sie erst einmal einige Kunden gewonnen hätte, würde sie sich neue Möbel für ihr Zimmer kaufen können. Bis dahin würde sie mit den Koffern vorliebnehmen, die sie mitgebracht hatte. Sie konnte sie sowohl als Aufbewahrungsmöglichkeit als auch als Sitzgelegenheit benutzen. Wenn sie zwei Koffer übereinanderstellte, hatte sie eine Art Tisch, an dem sie ihr Essen zubereiten könnte. Hannah würde wahrscheinlich sowieso den Großteil ihrer Zeit unten im Laden verbringen.
Sie zog einen Stift aus ihrer Handtasche und fing an, eine Liste von Dingen zu erstellen, die sie aus dem Kaufladen brauchte. Als sie bei Kartoffeln angekommen war, fiel ihr etwas ein. Wenn der Verkäufer ihre Einkäufe in Kisten verstauen würde, könnte sie diese als Hocker oder sogar als Waschtisch benutzen. Sie lächelte und knabberte an ihrem Stift. Mit ein wenig Einfallsreichtum würde sie es sich schon gemütlich machen. Natürlich brauchte sie jemanden, der sie mit frischer Milch versorgte. Ohne ihren allmorgendlichen Kakao würde sie keine Woche überleben.
Ein Hämmern vor ihrer Tür ließ Hannah zusammenfahren. Sie schnappte sich ihre Tasche und die Liste und ging zur Tür. Vor sich sah sie Mr Tucker, der einen Hammer schwang und ein neues Brett auf der Treppe befestigte. Als er nach einem zweiten Nagel griff, erblickte er sie. Er nickte knapp und hämmerte dann unbeirrt weiter.
„Tom und ich haben Ihre Nähmaschine unten ins Geschäft gestellt“, sagte er, ohne noch einmal aufzublicken. „Er bringt den Wagen zurück.“
Ein weiterer Nagel fand seinen Platz. „Sobald ich hier fertig bin, bringe ich Ihre Koffer nach oben und lasse Sie dann in Ruhe.“
Immer noch schlecht gelaunt, dachte Hannah, aber trotzdem nett.
„Danke, dass Sie die Treppe reparieren. Ich werde Ihre Arbeit natürlich bezahlen.“
Mr Tucker starrte sie an, als hätte sie ihn beleidigt. „Ich lasse mich nicht für einen Nachbarschaftsdienst bezahlen, Ma’am.“
„Dann sollte ich wohl auch nicht anbieten, Sie für Ihre heldenhafte Rettung zu entlohnen.“ Sie lächelte und erwartete eine Antwort, doch er sah nicht einmal auf.
„Nein.“ Er legte den Hammer zur Seite, erhob sich und sprang dann mit beiden Füßen auf die neue Stufe.
Seine Arbeit hielt.
„Da.“ Er tippte mit der Hand an seinen Hut und sah ihr endlich in die Augen. „Das sollte allen Stampfereien standhalten, die Sie hier noch vorhaben.“
Seine Lippen bewegten sich, sodass sie für einen kurzen Moment dachte, er würde anfangen zu lächeln, doch sie hatte sich getäuscht.
„Gut, danke. Man kann ja nie wissen, wann einen dieses Gefühl überkommt.“ Doch irgendetwas sagte ihr, dass der Mann vor ihr der Grund dafür wäre, wenn es so weit war.
Er zog eine Augenbraue hoch, tippte sich an den Hut und wandte sich ab. Doch in diesem Moment fiel Hannah noch etwas ein.
„Mr Tucker? Könnten Sie mir auf dem Weg nach unten vielleicht helfen, diesen Tisch zu tragen? Er ist zu groß, als dass ich es allein könnte.“
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und folgte ihr nach drinnen. „Was stimmt denn nicht damit? Wollen Sie sich ganz neu einrichten?“
Das Lächeln, das vorhin noch in seiner Stimme gelegen hatte, war verschwunden. Nun wirkte er ablehnend. Nun, sie brauchte seine Muskelkraft und nicht seine Freundlichkeit. Solange er ihr half, den Tisch zu tragen, war ihr seine Stimmung egal.
„Nein, es ist ein hervorragender Tisch. Das Problem ist nur, dass ich ihn unten brauche.“ Sie stellte ihre Tasche auf dem Stuhl ab und ging zu dem einen Ende des Tisches. Dort wartete sie darauf, dass auch Mr Tucker den Tisch ergriff. Doch anstatt zuzupacken, starrte er sie mit einem Blick an, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellte.
Hannah sah auf ihre Stiefel und schätzte den Abstand zu seinem Schienbein ein. Zu seinem Glück stand ein Möbelstück zwischen ihnen.
„Ich werde hier keine Gäste empfangen“, sagte sie, „also kann ich gut ohne einen Tisch leben. Aber arbeiten kann ich ohne einen Tisch nicht.“
Er starrte sie einfach nur an. Am liebsten hätte sie ihn fortgeschickt, aber sie war nun einmal auf seine Hilfe angewiesen. Endlich schien er aus seiner Erstarrung zu erwachen und griff nach dem Tisch.
„Es … ähm … wäre nichts Besonderes …“ Er hielt inne und räusperte sich. „Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen zwei Sägeböcke und eine alte Holzplatte leihen. Das sollte Ihnen helfen, bis Sie sich einen richtigen Tisch kaufen können.“
Ihre Wut machte plötzlicher Dankbarkeit Platz. „Das würden Sie für mich tun?“
Er nickte. Sein Mund war immer noch zu einem Strich zusammengepresst, aber in seinen Augen lag ein warmer Schimmer, der seine Erscheinung weniger furchteinflößend wirken ließ.
„Danke, Mr Tucker.“ Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich muss Sie allerdings warnen, dass ich mir keine neuen Möbel bestellen werde, bis mein Geschäft sich etabliert hat. Also kann es Monate dauern, bis Sie Ihre Sachen zurückbekommen.“
„Behalten Sie sie, solange Sie brauchen.“
„Wirklich?“ Eine weitere Idee entstand in ihrem Kopf.
„Natürlich. Ich habe viele alte Holzbretter. Letztes Jahr habe ich eine Trennwand in meinem Stall entfernt.“
„Haben Sie genug Bretter übrig, dass Sie mir vier Regale für mein Geschäft machen könnten? Ich würde Sie selbstverständlich dafür bezahlen.“
Er lehnte sich über den Tisch in ihre Richtung. „Wollen Sie mich etwa beleidigen?“
„Nein, Sir“, versicherte sie ihm schnell, obwohl seine Worte nicht wütend klangen. „Aber ich will auch nicht Ihre Großzügigkeit ausnutzen. Kann ich nicht etwas anderes für Sie tun? Vielleicht ein Hemd ausbessern oder Socken stopfen? Irgendetwas?“
„Sie könnten aufhören zu reden und diesen Tisch mit mir nach unten tragen, damit ich mich endlich wieder um meine eigenen Angelegenheiten kümmern kann.“
Seine unvermittelte Unhöflichkeit brachte sie zurück auf den Boden der Tatsachen, doch als Mr Tucker seinen Blick wieder senkte, verstand Hannah. Dieser Cowboy wusste einfach nicht, wie er mit Dankbarkeit umgehen sollte. Er konnte eine Treppe reparieren und eine Frau auffangen, aber wenn man ihm dafür dankte, war er überfordert. Vielleicht würde er sie in Zukunft nicht mehr so leicht in Rage bringen, jetzt, wo sie das wusste.
* * *
Wenn er doch nur die ganze Zeit daran denken würde, dass sie eine Schneiderin war, würden sich seine Eingeweide vielleicht nicht so verknoten, wenn sie ihn so ansah wie jetzt. Dieser Blick würde ihm Magenverstimmungen verursachen.
J.T. verkniff sich ein Grummeln und kippte den Tisch auf die Seite, bevor Miss Richards ihn noch einmal durcheinanderbringen konnte. Schnell ergriff sie das andere Ende der Tischplatte und half ihm, den Tisch durch die Tür zu manövrieren. Sie gingen langsam die Treppenstufen hinunter. Miss Richards beschwerte sich nicht einmal über das große Gewicht.
Sie trugen den Tisch durch die Hintertür und stellten ihn im Arbeitszimmer ab. Dann machte J.T. sich daran, ihre restlichen Koffer an Ort und Stelle zu bringen, während Miss Richards auch noch einen Stuhl nach unten in den Laden holte. Weil sie bei der Arbeit mit der Nähmaschine bequem sitzen musste, wie sie erklärte, und stattdessen ihre Koffer als Sitzgelegenheiten in ihrem Zimmer nehmen wollte. Vielleicht konnte er sich darum kümmern, dass sie ein paar richtige Stühle bekam.
Nachdem er den letzten Koffer nach oben geschleppt hatte, schloss Miss Richards ihr Zimmer ab und folgte ihm nach unten.
„Wie viel schulde ich Ihnen?“
J.T. schielte in Richtung Mietstall und wich so ihrem Blick aus. „Einen Dollar für den Wagen und einen Vierteldollar für das Abladen.“
Sie reichte ihm einen Dollarschein und eine fünfundzwanzig Cent-münze. Er steckte sie in die Tasche und nickte zum Dank.
„War der Laden dort die Straße hinunter?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre blauen Augen verloren ein wenig von der Selbstsicherheit, die sie bisher gezeigt hatten. „Ich muss noch ein paar Dinge besorgen, bevor geschlossen ist.“
Fast hätte er ihr angeboten, sie zu begleiten, doch er konnte sich gerade noch zurückhalten. Es war schlimm genug, dass er sie morgen wiedersehen würde, wenn er ihr die Bretter und Regale bringen würde, die er ihr in einem Anflug von Unüberlegtheit versprochen hatte. Schon da hatte seine Höflichkeit seinen klaren Verstand einfach überrollt.
„Ja“, sagte er hastig. „Er ist nur zwei Häuser weiter, direkt neben Mrs James Wäscherei.“
„Danke.“ Sie sah ihn mit einem Lächeln an, das ihm das Gefühl gab, er hätte aus Versehen seinen Zahnstocher verschluckt. Er starrte finster zurück.
Miss Richards wandte sich ab und ging zur Straße. Ihr Rock schwang im Rhythmus hin und her. Links. Rechts. L –
„Oh, Mr Tucker?“ Sie hatte sich wieder umgewandt. J.T. richtete seinen Blick schnell wieder auf ihr Gesicht. Ein Husten, das ihn fast erstickte, kroch in seinen Hals.
„Kennen Sie zufällig jemanden, der mir morgens eine Kanne Milch bringen kann?“
Die Familie Harris hatte einen kleinen Laden am anderen Ende der Stadt, wo sie frische Milch, Butter und Käse verkauften. Will Harris, der älteste Sohn, trug normalerweise die Milch bei denjenigen aus, die keine eigene Kuh hatten, doch J.T. zögerte, ihn zu erwähnen. Er war ein großer, gut aussehender Kerl, der einen Blick für Frauen hatte. Eine alleinstehende Frau konnte keinen Mann gebrauchen, der sie in den frühen Morgenstunden besuchte. Will war ein anständiger Junge, der regelmäßig zur Kirche ging. Doch J.T. wollte gerne vermeiden, dass Miss Richards täglich Besuch von ihm erhielt.
„Meine Schwester kann Ihnen etwas bringen.“
Sie öffnete ihre Handtasche und kam mit anmutigen Schritten zu ihm zurück. „Kann ich sie gleich für eine Woche im Voraus bezahlen? Ich gebe Ihnen –“
„Sie und Delia können morgen einen Preis vereinbaren.“ Er winkte ab und trat auf die Straße. „Ich muss jetzt zurück zum Stall.“
„Danke für Ihre Hilfe, Mr Tucker“, rief sie ihm noch einmal zu, nachdem er sich schon abgewandt hatte. „Sie sind wirklich ein Geschenk des Himmels.“
Er winkte kurz, drehte sich aber nicht mehr um. Mit zusammengebissenen Zähnen zerstampfte er auf dem Rückweg so viele Erdklumpen auf der Straße wie möglich. Zuerst hatte er sich selbst in die Situation gebracht, noch einmal Kontakt zu dieser Frau aufnehmen zu müssen, und zu guter Letzt hatte er auch noch seine Schwester mit hineingezogen. Genau das hatte er vermeiden wollen.
J.T. stürmte in sein Büro und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Mit der Faust schlug er wütend gegen die Wand, während seine Augen wider Willen dem Anblick von Hannah Richards folgten, bis sie im Warenladen verschwunden war. Knurrend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand.
Ein Geschenk des Himmels?
J.T. starrte an die Zimmerdecke. „Wenn es dir nichts ausmacht, schick doch nächstes Mal lieber jemand anderen, der ihr hilft.“