Kapitel 7

J.T. betrat die Bank in dem Moment, als der Angestellte das „Geschlossen“-Schild abnahm. Der Mann nickte ihm zu und ging zurück zu seinem Schalter. Die Besitzerin der örtlichen Frühstückspension stand gerade dort und stampfte ungeduldig mit einem Fuß auf, ganz offensichtlich ungehalten über die Unterbrechung. Hinter ihr warteten zwei Farmer.

„Ist Paxton da?“, fragte J.T.

Der Angestellte verschwand hinter seinem Schalter, öffnete das Fensterchen und schaute J.T. über den geblümten Hut der Dame vor ihm hinweg an. „Er ist im Moment im Gespräch mit einem Kunden, aber nehmen Sie doch bitte auf der Bank Platz. In ein paar Minuten ist er sicher fertig.“

„Danke.“

J.T. tippte sich an den Hut und nickte der Dame zu, die ihm einen wütenden Blick zuwarf und sich dann wieder dem in Ungnade gefallenen Bankangestellten zuwandte. Bevor er sich zu der Bank begab, wechselte er noch einen Blick mit den beiden Farmern. Alle drei schienen sich einig zu sein, dass sie froh darüber waren, in diesem Moment auf der Kundenseite des Schalters zu stehen. Dann schlenderte J.T. zur Bank hinüber.

Er war so voller Unruhe, dass er sich nicht setzen wollte, also stellte J.T. einen Fuß gegen die Bank und stützte den Ellbogen darauf. Es gefiel ihm nicht, hinter Louisas Rücken etwas zu vereinbaren, aber sie ließ ihm schließlich keine andere Wahl. Die Bibel sagte, dass ein Mann geben sollte, ohne dass die linke Hand wusste, was die rechte tat. Louisa übernahm in diesem Fall wohl die Rolle der linken Hand. Trotzdem fühlte J.T. sich unwohl dabei, alles im Geheimen einzufädeln. Es kam ihm vor, als täte er etwas Unehrenhaftes.

Das leise Quietschen der Bürotür lenkte J.T.s Aufmerksamkeit auf das Zimmer vor sich. Er stellte schnell seinen Fuß auf den Boden zurück und richtete sich auf.

Floyd Hawkins und sein Sohn, Warren, kamen aus Elliott Paxtons Büro. Der ältere Hawkins plauderte angeregt mit dem Bankier, während sein Sohn schwieg.

Warren pustete sein langes Haar aus dem Gesicht und erblickte J.T. Seine Augen wurden ein bisschen größer, als er seinen Hals streckte, als wäre ihm der Kragen gerade ein wenig zu eng geworden.

Der Junge war in seiner Gegenwart unübersehbar nervös. Das war nicht immer so gewesen. Aber in letzter Zeit schien er J.T. aus unerfindlichen Gründen beeindrucken zu wollen.

Nicht, dass seine Anstrengungen sich bisher ausgezahlt hätten. Der Junge hatte Minderwertigkeitskomplexe, groß wie ein Gebirge. Er war kein schlechter Kerl, allerdings irritierten einen Betrachter seine finsteren Blicke und sein abweisendes Verhalten. Warren schien zu denken, dass die Welt ihm etwas schuldete, weil er mit einem entstellenden Muttermal im Gesicht geboren worden war. J.T. konnte sich vorstellen, was so etwas für einen Schuljungen bedeutete, doch Warren war längst kein Kind mehr. Es war Zeit, das Mitleidsgeheische zu vergessen und sich wie ein Mann zu benehmen. Respekt würde er anders nicht bekommen.

Als hätte Warren seine Gedanken gehört, straffte er seine Schultern und kam auf J.T. zu.

„J.T.“

J.T. nickte. Entweder hatte er Ohrenprobleme oder Warren sprach heute tiefer als sonst. J.T. widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen.

„Warren.“

Der Junge zog an seinem Rockaufschlag und versuchte sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um größer zu wirken. „Dad und ich denken darüber nach, zu expandieren. Mr Paxton hilft uns, die Ausgaben zu kalkulieren.“

„Tatsächlich?“ J.T. interessierte sich wirklich nicht für die Geschäftsangelegenheiten der Familie Hawkins, aber Warren schien eine Antwort zu erwarten.

„Ich … ähm … dachte, dass Ihre Schwester vielleicht mal zu uns zum Abendessen kommen sollte, um über unser Vorhaben zu reden. Es wird sie ja auch betreffen, weil wir ihre Backwaren verkaufen ... und so.“

J.T. zog eine Augenbraue hoch und starrte Warren so überrascht an, dass der Junge einfach merken musste, wie dumm seine Bemerkung war. Zumindest senkte er beschämt den Blick und stieß mit dem Schuh gegen ein hölzernes Regal.

Warum sollte Delia sich darum kümmern, ob die Hawkins‘ noch ein Geschäft eröffneten? Es musste ja nicht bedeuten, dass auch Delia mehr Backwaren anbieten wollte.

Doch Delia war mit Warren befreundet und es würde ihr deshalb nicht gefallen, wenn J.T. den Jungen abblitzen ließ – egal wie sehr er es verdiente. Also räusperte er sich und brachte so etwas Ähnliches wie eine Entschuldigung zustande.

„Ich glaube, es würde Delia freuen, irgendwann über eure Pläne informiert zu werden.“

Warren hob ruckartig den Kopf und grinste erleichtert. J.T.s Gewissen machte sich bemerkbar. Vielleicht sollte er ein Auge zudrücken. Warren war noch jung. Ein bisschen mehr Lebenserfahrung und er würde nicht mehr wie ein ungeschickter Junge wirken. J.T. hatte gehört, dass Warren im Laden mittlerweile mehr Verantwortung übernahm – die Bücher führte, Auslieferungen machte, die Inventur leitete. Vielleicht sollte J.T. sich Mühe geben, ihn mehr zu respektieren.

„Dann erzähle ich es ihr beim Abendessen“, sagte Warren und rümpfte die Nase. „Es wird ihr bestimmt Spaß machen, mit jemandem zu essen, der nicht nach Dünger riecht.“

Oder vielleicht sollte J.T. der Lebenserfahrung dieses Kerlchens einfach selbst nachhelfen, indem er ihm den Hintern versohlte.

J.T. starrte ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. Das belustigte Kichern des Jungen veränderte sich zu einem Schnaufen, bis es schließlich verstummte und wieder den Blick senkte. Doch auch da ließ J.T. nicht locker. Er wollte, dass sich sein Blick in die Haut des Jungen einbrannte und ihm zu ein bisschen Menschenverstand verhalf.

Zum Glück für Warren beendete sein Vater das Gespräch mit dem Bankier und kam zu ihnen herüber. J.T. hob seinen Blick. „Tag, Hawkins.“

„Tucker.“ Er begrüßte J.T. mit einem kräftigen Handschlag. Das Lächeln des Mannes und seine freundliche Art besänftigten J.T.s Gemüt. „Tut mir leid, dass ich Mr Paxtons Zeit so lange in Anspruch genommen habe. Ich wusste nicht, dass Sie warten.“

„Das stimmt. Ich bin schon eine Weile hier.“

Warren trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Komm, Vater. Du weißt doch, dass Mutter es nicht mag, wenn wir zu spät zum Essen kommen.“

„Du hast recht.“ Hawkins winkte zum Abschied, als er an J.T. vorbeiging. „Grüßen Sie Cordelia von uns.“

„Das mache ich.“

Die beiden verschwanden auf die Straße hinaus. J.T. hatte kaum Zeit, um sich daran zu erinnern, warum er eigentlich hergekommen war, als Elliott Paxton schon auf ihn zukam.

„Mr Tucker!“ Der Bankier streckte beide Arme zum Gruß aus, wie er es immer in seiner überschwänglichen Art tat. J.T. wäre zurückgeschreckt, wenn es jemand anders gewesen wäre. Aber das war eben Paxtons Art. Nach mittlerweile fünf Jahren hatte er sich an das affektierte Verhalten des Bankiers gewöhnt. Hätte der Mann ihn mit einem nüchternen Nicken begrüßt, hätte J.T. den Arzt geholt.

„Kommen Sie rein, junger Mann, kommen Sie rein.“ Paxton hielt die Tür auf, während J.T. in sein Büro trat und Platz nahm. „Was kann ich heute für Sie tun?“, fragte er, als er die Tür hinter ihnen schloss.

„Ich möchte herausfinden, ob der Besitzer des Gebäudes, in dem Louisa James ihre Wäscherei hat, zu einem Verkauf bereit wäre.“

Der Bankier setzte sich hinter seinen Schreibtisch und faltete nachdenklich seine Hände. „Ich könnte mich umhören, denke ich. Wenn ich mich recht entsinne, gehört dem Mann ein Unternehmen drüben in Waco. Es dürfte nicht schwer sein, dem Mann ein Telegramm zu schicken. Aber ich kann nicht sagen, dass ich dieses Gebäude für eine Investition empfehlen würde. Es hätte schon vor Jahren restauriert werden müssen.“

„Ich weiß.“ J.T. rieb sein Kinn. „Ich hatte eigentlich geplant, das Grundstück daneben zu kaufen, aber die Besitzerin hat abgelehnt.“

„Ah ja. Das wird jetzt eine Schneiderei, nicht wahr? Ich habe die Besitzerin beim Fensterputzen gesehen. Eine außergewöhnliche Dame, sehr elegant.“

„Ja … also … ich hatte gehofft, Mrs James eine bessere Lokalität für ihre Wäscherei anbieten zu können – eine mit vier anständigen Wänden und einem Dach, durch das es nicht tropft. Aber diese Möglichkeit hat sich nun zerschlagen. Also dachte ich, ich könnte das andere Grundstück kaufen, ihre Miete senken und ein vernünftiger Vermieter sein. Sie wissen schon, das Dach reparieren, die Pumpe instand halten und so weiter.“

„Ich verstehe.“ Elliott Paxton tippte sich mit einem Finger gegen die Lippen und starrte ihn so intensiv an, dass J.T. ins Schwitzen kam.

„Das ist ein löblicher Plan, mein Sohn“, sagte der Bankier. „Ich bin beeindruckt.“

J.T. rutschte auf seinem Stuhl hin und her und starrte auf den abgewetzten Stoff seiner Hosenbeine. Er hasste es, wenn die Leute aus einer Mücke einen Elefanten machten. Er baute Louisa ja keinen Palast. Er wollte ihr nur von Zeit zu Zeit helfen können, ohne dass sie es merkte und wütend auf ihn wurde. Das war alles. Nichts, was man so aufbauschen musste.

„Es kommt nicht oft vor, dass ein Mann sein hart verdientes Geld in ein praktisch wertloses Stück Land steckt, um so einer Witwe zu helfen, die nicht mit ihm verwandt ist. Beeindruckend.“

Paxton plapperte weiter und weiter und hob J.T. in den Himmel, bis dieser es nicht mehr aushalten konnte.

Als hätte das Kissen plötzlich Zähne bekommen, sprang er auf und ging auf die Bürotür zu.

„Also, kümmern Sie sich für mich darum?“

Paxton nickte und hob überrascht die Augenbrauen. Er machte Anstalten, sich ebenfalls zu erheben. „Natürlich, aber –“

„Danke.“ J.T. winkte zum Abschied und schlüpfte aus dem Büro. Doch die Enge in seiner Brust ließ erst nach, als er der Bank den Rücken gekehrt hatte.

Er wusste, dass Paxton diskret war. Der Bankier hatte sich den Ruf, vertrauenswürdig zu sein, über Jahre hinweg erarbeitet. Trotzdem wäre alles leichter gewesen, wenn Hannah Richards das andere Grundstück nicht an sich gerissen hätte. Dann hätte es keinen Grund gegeben, den Bankier mit einzubeziehen, keine seltsamen Unterhaltungen, keine Heimlichkeiten hinter Louisas Rücken.

Sein Gewissen meldete sich mahnend. Okay, Miss Richards hatte das andere Grundstück nicht wirklich an sich gerissen. Trotzdem war diese Frau lästig. Nicht nur, dass sie seine Pläne für Louisa durchkreuzt hatte, sondern er hatte auch noch dauernd das Gefühl, sich um sie kümmern zu müssen.

J.T.s Schritte klangen dumpf auf dem Holz des Bürgersteiges, als er sich dem Haus am Ende der Straße näherte. Er blieb stehen, atmete tief ein und suchte in seiner Hemdtasche nach einem Zahnstocher. Nachdem er ihn sich zwischen die Zähne geklemmt hatte, beschloss er, dass er so wenig wie möglich reden wollte. Er wollte nicht schon wieder unhöflich ihr gegenüber sein. Sie hatte den ganzen Tag geputzt und eingerichtet und war wahrscheinlich erschöpft. Vielleicht sogar wütend.

Bei diesem Gedanken zuckte er zusammen. Die Frau musste in den letzten Stunden wirklich hart gearbeitet haben. Neugierig schaute J.T. durch eines der Fenster, um herauszufinden, ob Miss Richards resigniert und aufgegeben hatte. Was er sah, überraschte ihn so sehr, dass er seinen Hut zurückschob, um einen genaueren Blick in den Raum zu werfen.

An einer Wand war eine ganze Reihe von Haken angebracht worden, alle auf genau der gleichen Höhe und ganz offensichtlich fachkundig befestigt. An dreien hingen schon Kleider zur Ansicht. Acht Leisten waren an der Wand gegenüber montiert, zwischen vieren von ihnen hingen schon drei fertige Regale. Bunte Stoffballen lagen auf den Regalbrettern, die er Miss Richards gebracht hatte. Sogar sein ungeübtes Auge konnte erkennen, dass die Stoffe geschickt drapiert waren. Einige ihrer Puppen standen, noch unbekleidet, in einer Ecke und beobachteten ihre Chefin, die gerade mit raschen, geschickten Bewegungen das vierte Regal anbrachte.

Als sein Unterkiefer nach unten klappte, baumelte der Zahnstocher an J.T.s Unterlippe. Miss Richards hatte nicht übertrieben, als sie nach seinem Werkzeug gefragt hatte. Aber das alles ergab für ihn keinen Sinn. Wenn sie eine so anständige und kompetente Frau war, warum ließ sie sich dann dazu herab, einem Geschäft nachzugehen, das sich auf oberflächliche Schönheit und unwichtige Äußerlichkeiten spezialisierte?