Kapitel 21

Im Laufe der nächsten Woche steigerten Hannah und Cordelia ihr sportliches Programm. Cordelias bessere Ausdauer erlaubte es ihnen, die Spaziergänge auszudehnen und sogar noch einen weiteren Hügel zu erklimmen, anstatt schon am Fluss hinter dem Schulhaus kehrtzumachen. Sie gingen auch zu schwereren Keulen- und Ringübungen über. An einem der nächsten Samstage machten sich die Frauen einen wahren Spaß daraus, die Nähte an Cordelias Kleidern enger zu machen.

Hannahs Geschäft hatte sich ebenfalls ein wenig entwickelt. In der vergangenen Woche hatte sie zwei Kleider abgeändert, außerdem kamen die alleinstehenden Männer der Stadt und brachten Hemden oder Hosen, die es zu flicken galt. Und am Dienstag, Wunder über Wunder, hatte sie sogar ein komplettes Reisekleid mit allem Zubehör an eine Besucherin verkauft, die im Hotel logiert hatte.

Viele Menschen hätten diese Tropfen auf den heißen Stein gewiss nicht als Zeichen Gottes angesehen, doch Hannah war sich sicher. Sie hatte Gott gebeten, ihr Geschäft bankrottgehen zu lassen, wenn er sie nicht in Coventry haben wollte. Und natürlich war es immer noch so, dass sie keine großen Gewinne erreichte. Doch sie war auf einem guten Weg und würde sich von niemandem mehr abbringen lassen. Sie würde mutig vorangehen.

Oder mutig in ihrem Laden sitzen und warten, was im Moment noch eher der Fall war.

Hannah hatte sich auf der Bank vor ihrem Geschäft niedergelassen und hielt eine Tasse Kakao in Händen. Gedankenverloren starrte sie in die Ferne. Seit Sonntag schon hatte sie Ezra nicht mehr zu Gesicht bekommen. Zuerst hatte sie vermutet, dass ihn der Regen, der von Montag bis Mittwoch unaufhörlich herabgeprasselt war, abgehalten hatte. Doch auch nachdem die Sonne wieder hervorgekommen war, war Ezra nicht aufgetaucht. Eigentlich gab es keinen Grund für ihn, nicht hierherzukommen, es sei denn, etwas anderes als das Wetter hielt ihn ab.

Schließlich trank Hannah den letzten Schluck ihres Getränkes und nahm Ezras unbenutzte Tasse. Sie stieg die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf, wobei ihre Sorgen um den alten Mann ständig größer wurden. War er krank? Lahmte Jackson? Oder noch schlimmer – war Ezra während einem der Stürme etwas zugestoßen, sodass er jetzt hilflos irgendwo im Wald lag? Ohne Nachbarn zu leben, war gefährlich, selbst wenn man jung war. Wenn Ezra tagelang nicht gefunden wurde, würde womöglich jede Hilfe zu spät kommen.

Bilder des alten Mannes, der von einem heruntergefallenen Ast begraben worden war, stiegen vor Hannahs innerem Auge auf, während sie die beiden Tassen abwusch.

Als sie ihre Schürze an den Nagel hängte, wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie würde zu Ezra fahren und dort nach dem Rechten schauen. Und zwar sofort. Das war wichtiger, als einen Morgen untätig im Laden zu sitzen und zu warten.

Sie warf sich einen wollenen Umhang über die Schultern. Dann eilte sie aus der Tür. Der Wind blies kalt aus Richtung Norden. Hannah war froh, dass sie nicht ohne Schutz aus dem Haus gegangen war. Bei der Wäscherei blieb sie kurz stehen und erklärte Tessa, dass sie ihre Unterrichtsstunde verschieben müssten. Dann machte sie sich auf den Weg zum Mietstall.

Als sie den düsteren Raum betrat, rümpfte sie die Nase wegen des Geruches nach feuchtem Stroh und Pferdemist. Sie erinnerte sich von ihrem letzten Besuch daran, wo Jerichos Büro war, und ging direkt auf die geschlossene Tür zu. Seit ihrem Training mit den Ringen hatte er sich von ihr ferngehalten.

Doch bei manchen Gelegenheiten hatte sie bemerkt, dass er sie anblickte. In der Kirche, auf der Straße – immer mit dem gleichen undurchdringlichen Gesichtsausdruck. Und manchmal hatte sie sogar in ihrem Laden das Gefühl, dass er sie von seinem Bürofenster aus beobachtete. So etwas Albernes. Es war natürlich nur Einbildung, aber trotzdem fühlte sie sich dadurch verunsichert.

„Hallo, ist hier jemand?“, rief sie laut, um das Gefühl des Unbehagens zu vertreiben.

„Bin gleich bei Ihnen.“ Die Stimme klang vertraut und aufgeregt. Tom.

Erleichterung und Enttäuschung durchfluteten Hannah gleichermaßen.

Der schlaksige junge Mann trat aus dem Schatten des Stalles hervor und grinste breit, als er sie erkannte. „Schön, Sie zu sehen, Miss Richards. Suchen Sie J.T.?“

„Nicht unbedingt. Ich bin sicher, dass Sie mir auch helfen können, junger Mann.“ Hannah versteckte ein Grinsen, als Tom sich stolz aufrichtete. „Ich möchte mir ein Pferd und einen Wagen leihen.“

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Raus zu Ezra Culpepper. Am Nachmittag werde ich wieder hier sein.“

Tom schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. „Sie können Doc nehmen, denke ich. Mrs Walsh hat vor ein paar Tagen ihr Kind bekommen, also wird der richtige Doc ihn wohl erst mal nicht brauchen. Der Wagen ist leicht zu lenken. Außerdem hat er ein Dach, falls es anfängt zu regnen.“

Hannah nickte. „Hört sich genau richtig an.“

„Sie können sich da hinten hinsetzen, während ich den Wagen fertig mache.“ Er zeigte auf ein paar Kisten an der Wand. „Ich brauche ein paar Minuten, bis alles so weit ist.“

„Das mache ich.“

Tom ging davon und Hannah betrachtete kritisch ihre Sitzmöglichkeiten. Sie suchte sich die sauberste Kiste aus, legte ein Taschentuch auf den Deckel und ließ sich dann vorsichtig darauf nieder.

„Miss Richards?“

Sofort sprang Hannah wieder auf und ihr Magen zog sich beim Klang der vertrauten Stimme zusammen – einer tiefen, wohlklingenden Stimme.

„Was führt Sie auf meine Seite der Straße?“ Jericho trat nicht aus seinem Büro heraus, sondern aus dem Stallbereich, in dem die Pferde untergebracht waren. Offensichtlich war er gerade bei der Arbeit gewesen, denn er hatte die Ärmel hochgerollt und roch nach Heu und Pferden.

Hannah zwang sich zu einem Lächeln. „Ich miete einen Wagen. Tom bereitet gerade alles vor.“

„Wofür?“

Hannah sah ihn finster an. Als Tom sie das gefragt hatte, war sie davon ausgegangen, dass er einfach nur eine Unterhaltung anfangen wollte, ohne zu bemerken, dass die Frage ziemlich unhöflich und indiskret war. Aber Jericho sollte es eigentlich besser wissen. „Fragen Sie alle Kunden so aus?“

„Nein. Nur Sie.“ Sein Mund verzog sich nicht, doch seine Augen funkelten, als müsse er ein Lachen unterdrücken. Fast konnte sie sich sein tiefes Glucksen vorstellen.

„Wenn das so ist, dass Sie mir Ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen scheinen, kann ich Ihnen meine Pläne gerne mitteilen.“ Sie lächelte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. „Ich mache mir Sorgen um Ezra.“ Sie sah ihn an und merkte, dass er sie schon wieder angestarrt hatte. Er machte auch keine Anstalten, das zu verbergen.

„Er ist ein erwachsener Mann.“

Endlich wurde Hannahs Blick abgelenkt, als Tom draußen den Einspänner vorfuhr. Sie konzentrierte ihre Augen darauf, während ihre anderen Sinne Jericho überdeutlich wahrnahmen. Seine Stimme, seinen Geruch ...

„Das weiß ich“, sagte sie. „Trotzdem. Bisher hat er kein einziges unserer täglichen Treffen ausfallen lassen. Und seit sechs Tagen hat er sich nicht mehr blicken lassen.“

„Es kann Hunderte von Gründen geben, warum das so ist. Vielleicht ist er damit beschäftigt, Wanderstöcke zu schnitzen.“

„Vielleicht. Aber was, wenn er krank oder verletzt ist?“ Jericho musste sie verstehen, deshalb wandte sie sich ihm wieder zu. „Er lebt da draußen ganz alleine, Jericho. Er hat keine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Ich muss zu ihm. Und wenn auch nur, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.“

Er starrte sie lange an. „Sie sind eine einfühlsame Frau, Hannah Richards. Sturköpfig, aber mit einem weichen Herzen.“ Er streckte seine Hand aus, als wollte er ihre Wange berühren, ließ sie dann aber wieder sinken. „Ich helfe Tom.“

Sie stand bewegungslos da, als er davonging, und sehnte sich nach seiner Berührung, die gerade doch nicht geschehen war. Für einen kurzen Moment hatten sich die harten Linien in seinem Gesicht entspannt. Diese Weichheit hatte sein Aussehen so sehr verändert, dass es ihr den Atem geraubt hatte. Wie würde es sich anfühlen, wenn er seine Hand auf ihre Wange legte? Wenn er sie liebevoll ansah?

„Fertig, Miss Richards“, rief Tom und winkte ihr zu.

Sie holte tief Luft und trat zu den Männern an den Einspänner.

„Sie wissen, wie man mit den Zügeln umgeht?“ Der ernste Jericho war wieder da.

„Ja.“

„Gut. Ich habe alles zweimal überprüft. Es sollte alles gut gehen. Wenn Sie irgendwo stecken bleiben, lassen Sie den Wagen einfach stehen und reiten auf dem Pferd zurück. Ich will nicht, dass Sie lange allein da draußen sind.“

Hannah lächelte über den schroffen Tonfall seiner Stimme. „Wer macht sich jetzt unnötige Sorgen?“

Sie raffte ihre Röcke und setzte einen Fuß auf das Trittbrett. Als sie sich mit der anderen Hand hochziehen wollte, stand Jericho plötzlich neben ihr und bot ihr seine Hilfe an.

Sie nahm seine Hand und genoss das Gefühl seiner rauen Haut an ihrer. Der Kontakt war viel zu kurz, doch seine Berührung brannte sich in ihre Haut ein. Sie holte einen Silberdollar aus der Tasche und reichte ihn Jericho.

„Können Sie mir bitte den Weg zu Ezra beschreiben? Außer auf den Spaziergängen mit Ihrer Schwester habe ich noch nicht viel von der Gegend gesehen.“

Jericho zeigte in Richtung Norden. „Nehmen Sie die Hauptstraße aus der Stadt raus. Nach dem Schulhaus noch etwa eine Meile, dann müssen Sie nach rechts auf die Straße abbiegen, die zum Fluss führt. Nach zwei Meilen sehen Sie einen Pfosten, in den ein Kolibri geschnitzt ist. Ezras Frau mochte solche Dinge. Folgen Sie der Wagenspur, die von diesem Pfosten ausgeht. Sie führt direkt zu seinem Haus.“

Hannah nahm die Zügel, wobei das Pferd unruhig stampfte. „Danke für Ihre Hilfe, Jericho.“

„Ähm …“ Tom trat näher an den Wagen heran und warf seinem Arbeitgeber einen Blick zu. Dann formte der Junge mit seinen Händen einen Trichter und flüsterte laut vernehmlich: „Er mag es nicht, wenn man ihn so nennt. Niemand darf das.“

„Ich mache es aber trotzdem.“ Hannah grinste und trieb das Pferd an. Der Wagen rollte die Straße hinab und ließ einen sehr erstaunten Tom und einen finster dreinblickenden Jericho zurück.

Jetzt, da sie in der Natur war, fühlte Hannah sich sofort besser. Dicke Bäume säumten ihren Weg und schienen für sie Spalier zu stehen.

Jerichos Anweisungen zu befolgen war nicht schwer, sodass Hannah die Brücke bald erreicht hatte. Die Luft war erfüllt von dem Tosen des Flusses. Hannah hatte den Eindruck, dass der Wasserstand viel höher war als sonst. Durch den Regen in den vergangenen Tagen schien er stark angeschwollen zu sein, sodass die Brücke unter der Gewalt des Wassers erbebte. Hannahs Herz schlug höher, doch sie umklammerte die Zügel und überquerte die Holzbrücke schließlich ohne Probleme.

Als sie wieder festen Boden unter sich spürte, trieb sie das Pferd an. Der Fluss hatte sie daran erinnert, wie gefährlich es war, allein hier draußen zu sein. Sie wollte so schnell wie möglich zu Ezra.

Als sie sein Haus endlich erreichte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Während sie noch vom Wagen kletterte, öffnete sich schon knarrend die Haustür der verwitterten Holzhütte. Ezra humpelte auf den Hof und stützte sich dabei schwer auf einen Gehstock.

„Miss Hannah? Was machen Sie denn so weit hier draußen?“

Sie sprang vom Wagen und begrüßte Ezra. „Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, weil ich Sie so lange nicht mehr gesehen habe. Ich wollte sichergehen, dass es Ihnen gut geht.“

Ezra schüttelte den Kopf und führte sie zu seinem Haus. „Sie sollten in der Stadt sein und hübsche Kleider nähen, anstatt einen alten Kauz wie mich zu besuchen. Ich bin Ihre Sorgen nicht wert.“

„Reden Sie nicht so einen Unsinn, Ezra. Lassen Sie uns ins Haus gehen, dann mache ich uns einen Tee.“

Bevor Hannah allerdings den Tee machen konnte, musste sie erst einmal den Wasserkessel suchen. Berge von schmutzigen Tellern, Tassen und Schüsseln türmten sich in der Küche. Seit seine Frau gestorben war, hatte der arme Mann wahrscheinlich nicht mehr von einem sauberen Teller gegessen. Es war ein Wunder, dass er in dieser Unordnung überhaupt etwas essen konnte. Eine geöffnete Dose Bohnen stand auf dem Küchentisch, ein Löffel steckte darin. Sein Mittagessen, kein Zweifel. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Bohnen zu erhitzen. Während Hannah ihren Umhang und die Haube an einen Haken hängte, schwor sie sich, dass sie dieses Haus nicht verlassen würde, ehe es hier sauber und ordentlich war.

Ohne auf Ezras Protest zu achten, suchte sie sich eine Schürze, krempelte die Ärmel hoch und nahm eine Waschwanne, die sie draußen an der Pumpe auffüllte. Dann weichte sie sämtliches Geschirr in Seifenwasser ein und machte sich daran, alles gründlich abzuschrubben.

Endlich hatte Ezra seinen Widerstand aufgegeben, setzte sich zu ihr in die Küche, schnitzte an einem kleinen Holzstückchen herum und lauschte ihrem Bericht über Cordelias große Fortschritte. Hannah beschrieb den wunderschönen grünen Stoff, den sie für ihr Kleid ausgesucht hatten, die glänzenden Knöpfe und das Schnittmuster. Sie bezweifelte zwar, dass Ezra sich für Cordelia Tuckers neues Kleid interessierte, doch so verging die Zeit wie im Fluge.

Als alles abgewaschen war, bestand Ezra darauf, beim Abtrocknen behilflich zu sein. Hannah entschied, dass er nur im Sitzen helfen durfte. Sofort bei ihrer Ankunft war ihr aufgefallen, dass er sich offenbar nur unter großen Schmerzen bewegen konnte. Sie sprach ihn allerdings erst darauf an, als sie schließlich gemeinsam bei einer Tasse heißen Tees saßen.

„Haben Sie sich verletzt? Soll ich den Arzt hierher schicken, damit er nach Ihnen sieht?“

Ezra schlürfte seinen Tee und schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Da kann man nichts machen.“ Er stellte langsam die Tasse ab. „Mein Rheuma wird immer schlimmer, wenn es regnet. Und nach dem zu urteilen, wie meine Knie schmerzen, haben wir das Unwetter noch nicht völlig überstanden.“

„Haben Sie einen Suppenknochen, damit ich Ihnen eine Brühe machen kann? Sie könnten sie mit Gemüse und Fleisch verlängern, um über die nächsten Tage zu kommen.“

„Nein. Sie haben schon zu viel für mich getan.“ Er stützte die Hände auf die Tischplatte und stemmte sich mühsam hoch. Mit vorsichtigen, schlurfenden Schritten ging er zum Fenster und sah hinaus. „Sieht so aus, als käme ein neuer Sturm von Nordwesten. Kann nicht sagen, wann er hier sein wird. Am besten fahren Sie schnell zurück in die Stadt.“

Hannah trank den letzten Schluck ihres Tees und stand auf. „Sind Sie sicher, dass ich nichts mehr für Sie tun kann?“

„Ja, ich bin mir sicher. Jetzt beeilen Sie sich, damit Sie noch gut nach Hause kommen.“

„Na gut, dann mache ich mich auf den Weg.“ Hannah warf sich ihren Umhang über und trat an die Tür. „Ich habe Mr Tucker versprochen, dass der Wagen am Nachmittag wieder im Stall ist. Ich will nicht, dass er mich für unverantwortlich hält.“

„Na ja, ich glaube eher, dass der Junge Sie für unwiderstehlich hält“, murmelte Ezra von seinem Platz am Fenster.

Ein Schauer durchfuhr Hannah bei diesen Worten, den sie aber schnell unterdrückte. Wahrscheinlich hatte sie Ezras Gemurmel falsch verstanden.

Als sie nach draußen traten, zerrte ein böiger Wind an Hannahs Haube.

„Ich glaube, Sie haben recht mit dem Sturm.“ Sie stemmte sich gegen den Wind und ging auf ihr Pferd zu. Das Tier hob gelassen den Kopf aus der Tränke und schien vom Wetter völlig unbeeindruckt. Jericho hatte es gut erzogen.

Ezra führte das Pferd mit dem Wagen zur Straße und half Hannah beim Aufsteigen. Dann streckte er ihr etwas entgegen. „Hier, das habe ich für Sie geschnitzt. Meine Alice mochte solche Dinge.“

Vorsichtig nahm sie sein Geschenk entgegen – ein Kolibri, sehr detailgetreu gearbeitet mit gefiederten Flügeln und einem langen, gekrümmten Schnabel. „Danke, Ezra. Das ist wunderschön.“ Sie verstaute es sorgsam in ihrer Handtasche.

Ezra reichte ihr die Zügel. „Sie müssen jetzt wirklich los, Mädchen. Seien Sie vorsichtig.“

„Das bin ich.“ Hannah winkte zum Abschied und zog an den Zügeln.

Als sie die Brücke erreichte, hatte der Himmel bereits seine Schleusen geöffnet und schleuderte dicke Regentropfen auf das Wagendach. Der Himmel war fast schwarz. Hannah hörte das Brausen des Wassers. Als sie mit dem Wagen auf die Brücke fuhr, bemerkte sie, dass der Pegel sogar noch höher gestiegen war als auf dem Hinweg. Das Wasser zerrte an den Pfosten der Brücke.

Das Pferd schnaubte und schüttelte den Kopf, wobei es unruhig auf der Stelle tänzelte.

„Ich weiß, dass es furchteinflößend aussieht, aber die Brücke ist stabil. Wir schaffen das.“ Hannah sprach mit dem Tier, aber die Worte waren auch an sie selbst gerichtet.

Der Sturm war noch etwas entfernt. Sie hatten genug Zeit, um die Brücke zu passieren.

Hannah lenkte den Wagen auf die Brücke und konzentrierte sich darauf, auf das Pferd zu schauen, um nicht aus Versehen in die Fluten unter sich zu blicken.

Sie waren mitten auf der Brücke, als sie ein lautes Donnern hörte.

Mit klopfendem Herzen blickte sie flussaufwärts. Eine riesige Wasserwand raste auf sie zu und überflutete die Ufer, an denen sie vorbeirollte.

Eine Springflut!

„Hüa!“ Hannah klatschte mit den Zügeln auf den Rücken des Pferdes. Es bewegte sich viel zu langsam vorwärts. Sie musste von dieser Brücke runter!

Sie war noch zehn Meter vom rettenden Ufer entfernt, als die Welle sie erfasste. Die Wassermassen krachten gegen den Wagen und drückten das Pferd gegen das Geländer. Durch das Gewicht des schweren Wagens konnte es sich jedoch auf den Beinen halten. Doch auch der Wagen verlor nun langsam den Halt. Wie ein Boot fing er an, auf dem Wasser zu treiben. Hannah ließ die Zügel los und klammerte sich am Wagen fest. Mit lautem Krachen wurde nun auch der Einspänner gegen das Geländer gedrückt, wobei Hannah in den Fußraum geschleudert wurde. Sie betete verzweifelt darum, dass die Holzkonstruktion der Brücke den Stößen und dem Druck des Wassers standhielt.

Langsam drang das Wasser in den Wagen. Hannah rappelte sich auf und erkannte, dass sie keine Möglichkeit mehr hatte, mit dem Wagen von hier zu fliehen. Beide Achsen waren gebrochen, als das Wasser den Wagen gegen die Brücke gedrückt hatte. Doch vielleicht konnte sie es schaffen, das Pferd abzuschirren und nach Hause zu reiten.

Das Tier wieherte völlig verängstigt und rollte wild mit den Augen. Hannah entschied, dass sie es wagen musste, ins Wasser zu springen und sich nach vorne zu dem Pferd zu kämpfen. Beherzt kletterte sie über die Seite des nutzlosen Gefährtes unter sich.

Das Wasser umfing sie eiskalt bis zu den Rippen und raubte ihr für einen Moment den Atem. Die Strömung war so stark, dass sie fast den Halt verloren hätte. Als sie wieder auf die Füße kam, watete sie auf das Pferd zu und versuchte mit klammen Fingern, das Zaumzeug zu lösen. Doch das Tier war so panisch, dass es nicht stillhielt, sondern immer wieder den Kopf hochwarf. Hannah kämpfte, um das Gleichgewicht zu behalten.

„Hör auf damit. Hörst du mich?“ Sie zog den Kopf des Pferdes dicht zu sich. „Du musst mich von der Brücke bringen. Ich mache dich los und dann reiten wir nach Hause. Verstanden?“ Das Tier bewegte den Kopf auf und ab, wahrscheinlich um ihren Griff abzuschütteln, doch Hannah sah es als Zustimmung an.

Schnell löste sie das Geschirr, das das Tier mit dem Wagen verband, doch dann warf das Pferd den Kopf wieder hektisch hin und her. Hannah verlor das Gleichgewicht und tauchte in den Wassermassen unter. Prustend kam sie wieder hoch. Das Tier schien gemerkt zu haben, dass es seiner Freiheit nun ein gutes Stück näher war, denn es bäumte sich wild auf und zerrte an der letzten verbliebenen Verbindung zwischen sich und dem Einspänner. Dieser Kraft konnte der letzte Zügel nicht standhalten. In dem Moment, als Hannah wieder auf die Beine gekommen war, riss sich das Pferd los, erreichte das sichere Ufer und galoppierte davon.

„Hey!“

Mehr brachte Hannah nicht heraus, bevor sie von einem dahintreibenden Ast in den Rücken gestoßen wurde. Wieder tauchte sie unter und kam prustend zurück an die Wasseroberfläche, doch diesmal waren ihre Beine über das Geländer der Brücke gespült worden. Um sie herum gab es nun nichts anderes mehr als Wasser.

Die Strömung zerrte an ihr. Verzweifelt umklammerte Hannah das Geländer, doch ihre Kraft schwand. Immer wieder wurde ihr Kopf unter Wasser getaucht. Sie reckte den Kopf, um nach Luft zu schnappen, doch Wasser strömte in ihren geöffneten Mund.

Da sie keine andere Wahl mehr hatte, tat sie schließlich das Einzige, was ihr noch möglich war. Sie ließ das Geländer los und ergab sich der reißenden Strömung des Flusses.