Kapitel 19

J.T. ging mit schwerfälligen Schritten und einer Bibel unter dem Arm zurück zum Stall. Er hatte sich selbst nie als Feigling gesehen, aber am liebsten hätte er seinen Streit mit Delia verdrängt und ihre Aufforderung einfach überhört. Was, wenn er wirklich seine Einstellung zum Wort Gottes ändern musste? Wenn er seine Überzeugungen, seinen Glauben überdenken musste? Würde er das schaffen? Für so lange Zeit hatte er sich an seinem Standpunkt festgeklammert. Sich davon leiten und formen lassen. Wenn das jetzt alles falsch gewesen sein sollte …

Tom winkte ihm zu, als er sein Büro erreichte. „Der Doktor war vorhin da und hat den Einspänner gemietet. Er meinte, dass Mrs Walsh jetzt jeden Tag ihr Kind bekommen könnte, und wollte ihr einen Besuch abstatten. Ich hab den Wagen einfach fertig gemacht und ihm mitgegeben. War das so richtig?“ Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

J.T. klopfte ihm auf den Arm. „Gut gemacht. Ich setze es auf seine Rechnung.“

Ein stolzes Grinsen nahm Toms Gesicht ein.

Die Bibel fühlte sich in seinen Armen sehr schwer an, als er an Tom vorbeiging und den Knauf der Tür umdrehen wollte. Genauso schwer wie sein Herz. Er warf einen Blick über seine Schulter.

„Ähm, Tom?“

Der Junge wandte sich um. „Ja?“

„Würde es dir was ausmachen, wenn du noch eine Stunde hierbleibst? Ich muss mich in meinem Büro um was Wichtiges kümmern und möchte nicht gestört werden.“

„Klar.“ Tom beäugte das in Leder gebundene Buch unter J.T.s Arm. „Wenn du für diese Sache eine Bibel brauchst, muss es wirklich mächtig wichtig sein. Ich lasse keinen zu dir, es sei denn, es ist ein Notfall. Ich kümmere mich um alles.“

„Danke.“ J.T. nahm das Buch unter seinem Arm hervor und hob es wie zum Salut an die Stirn. Dann schloss er die Tür hinter sich.

An seinem Schreibtisch legte er die Bibel ab und sah sie eine Weile einfach nur an. Schließlich schob er sie zur Seite und ergriff ein anderes Buch. Darin blätterte er, bis er die richtige Seite gefunden hatte, trug die Miete für den Einspänner auf der Rechnung des Doktors ein und rechnete alle Beträge zusammen, die noch offen standen.

Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Jetzt, wo er dabei war, konnte er eigentlich gleich die Rechnung ausstellen. Und vielleicht auch die anderen Rechnungen an seine Kunden. Das war sowieso eine Aufgabe, die er viel ernster nehmen sollte.

Während dieser Arbeit schweifte sein Blick immer wieder zu der Bibel hinüber, die stumm und geduldig auf ihn wartete. Im Moment hatte er etwas Wichtigeres zu tun. Doch als er mit den Zahlen fertig war, kam ihm das Buch immer bedrohlicher vor.

Er sah sich nach einer neuen Aufgabe um. Eigentlich sollte er sich um das Zaumzeug kümmern. Und seit mindestens einem Monat hatte er keinen Staub mehr gewischt. Und das Fenster sollte dringend geputzt werden.

Putzen?

J.T. stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch und legte die Stirn in seine Hände. Während er langsam ausatmete, schüttelte er fassungslos den Kopf. Was fiel ihm nur ein? Das hier war ein Stall. Hier musste man nicht putzen.

Mit einem Seufzer nahm er sich die Bibel, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte.

Herr, ich weiß nicht, was du mich heute lehren willst, aber ich bitte dich um Weisheit, damit ich es erkenne, wenn ich es sehe.

J.T. blätterte durch das Buch, bis er zu den Sprüchen Salomos kam. Er schlug das letzte Kapitel auf und fing an zu lesen. Am Anfang erregte nichts Besonderes seine Aufmerksamkeit, außer, dass Lemuël gewarnt wurde, seine Kraft nicht bei den Frauen zu lassen. Seit Jahren war J.T. ein fester Verfechter dieser Überzeugung. Doch seine Überzeugung fing an zu bröckeln, als er bei Vers neunzehn angekommen war und die Stoffe der tatkräftigen Frau erwähnt wurden. Und ab Vers zwanzig verließ sie ihn ganz.

„Sie erbarmt sich über die Armen und gibt den Bedürftigen, was sie brauchen. Den kalten Winter fürchtet sie nicht, denn ihre ganze Familie hat Kleider aus guter und warmer Wolle. Sie fertigt schöne Decken an, und ihre Kleider macht sie aus feinen Leinen und purpurroter Seide.“

Feines Leinen? Seide? Würde eine bescheidene Frau nicht schlichte Kleider tragen? Doch das Wort Gottes sagte eindeutig, dass diese Frau, die so hoch gelobt wurde, wertvolle Gewänder trug.

Und beim Weiterlesen wurde es sogar noch schlimmer.

„Sie näht Kleidung aus wertvollen Stoffen und verkauft sie, ihre selbst gemachten Gürtel bietet sie den Händlern an.“

Sie trug nicht nur elegante Kleidung, sie verkaufte sie auch noch an andere. Genau wie Hannah. Und die Bibel stellte es als ehrenhaft und lobenswert hervor.

Natürlich gab es noch mehr, was eine gute Frau ausmachte. Sie war unermüdlich, freundlich, fleißig, angesehen. Sie war eine gute Haushälterin, kümmerte sich um die Belange anderer und ehrte den Herrn. Und genau das schien alles auf Hannah Richards zuzutreffen.

Wie konnte er Hannah für ihren Beruf verurteilen, wenn sogar die Bibel diese Arbeit offenbar als leuchtendes Beispiel darstellte? Die Frau aus der Bibel wurde von ihrer Familie und den Menschen in ihrer Umgebung geehrt. Er dagegen war zu Hannah abweisend gewesen und hatte gehofft, dass sie schnellstmöglich wieder aus der Stadt verschwinden würde. Nicht gerade das, was man von einem guten Christen erwarten würde.

J.T. schloss die Bibel und lehnte sich erschöpft zurück. Er war immer noch der Überzeugung, dass wahre Schönheit aus dem Inneren eines Menschen kam und unabhängig von Äußerlichkeiten war. Aber Gott schien ihm sagen zu wollen, dass beides gleichzeitig möglich war. Und nicht nur das. Ein intelligenter Mann würde eine solche Frau als Segen ansehen. J.T. warf einen Blick durch das Fenster zu dem Haus auf der anderen Straßenseite. Ganz offensichtlich bin ich dann ein Idiot.

Als er vor sich hinstarrte, traten Bilder vor sein geistiges Auge, was hätte werden können, wenn er sich nicht so dumm benommen hätte. Zum Glück kam ihm eine Frachtkutsche zur Hilfe, die direkt vor seinem Fenster hielt und so den Blick auf Hannahs Geschäft blockierte.

J.T. erhob sich und eilte zur Tür. Einen Besuch von Harley hatte er sich noch nie entgehen lassen.

Der fahrende Händler war ihm in den Jahren, nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte, zu einem Freund geworden. J.T.s Vater war zu sehr in seiner Trauer versunken, um für die Familie einzukaufen. Harley hatte es niemals zugegeben, doch J.T. war sich sicher, dass der Mann ihm nie den vollen Preis für die Dinge abgenommen hatte, die er als Junge bei ihm gekauft hatte. Nachdem sein Vater gestorben war, hatte Harley J.T. und Delia mit Nahrungsmitteln unterstützt, von denen er immer behauptete, dass er es sowieso an niemand anderen mehr verkaufen könnte – ein Sack Mehl hier, ein paar Dosen eingemachtes Gemüse dort.

Ohne die Großzügigkeit dieses Mannes hätten sie den ersten Winter nicht überlebt. Seit J.T. es sich leisten konnte, bezahlte er dem Mann als Gegenleistung immer ein wenig mehr, als er ihm schuldete.

Froh, seinen alten Freund wieder einmal zu sehen, trat J.T. aus seinem Büro, doch bevor er sich bemerkbar machen konnte, stürzte Tom wie ein Wachhund aus dem Stall.

„Du musst später wiederkommen, Harley. J.T. arbeitet an einer wichtigen Sache und darf nicht gestört werden.“

J.T. trat hinter den Jungen und klopfte ihm auf die Schulter. „Danke, Tom. Ich bin schon fertig. Wie wär’s, wenn du Harleys Pferden etwas Wasser holst?“

„Jawoll. Mach ich sofort.“

Tom verschwand eilfertig im Stall. J.T. wandte sich an den Mann, der gerade vom Kutschbock kletterte. Unten angekommen, schwankte er leicht, fand jedoch schnell sein Gleichgewicht und begrüßte J.T.

„Bin nicht mehr so fit wie früher, Kleiner.“

J.T. grinste. „Ich bin auch kein Kind mehr.“

„Ach Tucker, du bist in den besten Jahren.“ Er stieß J.T. freundschaftlich in die Rippen. „Was dir noch zu deinem Glück fehlt, ist eine schöne junge Frau. Meine Sarah bringt mich schon seit über vierzig Jahren auf Trab.“

Das Lächeln verschwand von J.T.s Gesicht. Sein Magen zog sich zusammen, während er fieberhaft nach einer Antwort suchte. „Wenn ich eine finde, die wie deine Sarah ist, denke ich drüber nach, aber ich befürchte, dass sie einmalig ist.“

„Das ist sie, mein Junge. Das ist sie.“ Harley hob die Plane, die den Inhalt seines Wagens vor Wind und Wetter schützte. „Aber gib nicht auf. Gott hält eine Frau für dich bereit, darauf kannst du dich verlassen.“

J.T. starrte auf seine Stiefel. „Das werde ich mir merken.“

Aber was war, wenn ein Mann so blind war, dass er die Frau schon vergrault hatte, bevor er merkte, dass sie vielleicht die Richtige für ihn war? Würde Gott – und vor allem die Frau – ihm eine zweite Gelegenheit geben?

Um Harley von seinem Gesprächsthema abzulenken, griff J.T. in den Wagen und zog ein Päckchen hervor. „Also, was hast du heute zu bieten?“

Sofort war Harley ganz der erfolgreiche Händler und setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

„Ich hab was ganz Besonderes für sich aufgehoben. Du wirst dich freuen.“ Er kramte und räumte in seinem Wagen herum, bis er eine große, in Öltuch geschlagene Kiste gefunden hatte. Er schlug das Tuch zurück und grinste triumphierend. „Na, was sagst du jetzt?“

Schindeln. Genug, um Louisas Dach vor dem Winter zu reparieren, wenn er sich jemals mit dem Hausbesitzer einigen würde. „Du hast daran gedacht.“

Harley blickte entrüstet drein. „Natürlich hab ich dran gedacht. Welcher Händler würde denn den Wunsch seines besten Kunden vergessen?“ Sein Lächeln zog sofort wieder über sein Gesicht. „Es sind maschinengeschnittene Zypressenschindeln aus Bandera. Sieh nur die sauberen, geraden Kanten.“ Er reichte J.T. eine Schindel. „Ich habe einen Mann kennengelernt, der da gearbeitet hat. Er hat sie gegen eine Ohrtrompete getauscht. Wahrscheinlich hat die Arbeit in der Fabrik ihm das Gehör genommen.“

„Die sind perfekt“, sagte J.T. „Besser als alle, die ich bisher gesehen habe.“ Er legte die Schindel zurück in die Kiste und wuchtete sie vom Wagen.

Wie immer bestand Harley darauf, J.T. noch weitere Dinge aus seinem Fundus zu zeigen, die allerdings nur auf geringes Interesse stießen. Als Harley jedoch einen Quilt von einem dreibeinigen Tisch nahm, um J.T. die Schnitzereien zu zeigen, erspähte er einige Stuhllehnen.

„Passen die Stühle da zusammen?“, fragte er.

„Ah, du hast ein gutes Auge. Ja, tun sie. Hilf mir, sie abzuladen.“

Die Männer mussten erst einige Gegenstände zur Seite räumen, bevor sie die Stühle erreichten, aber gemeinsam hatten sie sie schnell vom Wagen gehoben. J.T. stellte sie zwischen Wagen und Stallwand ab, damit sie niemand sehen konnte.

„Es fehlen ein paar Teile“, gab Harley zu, „aber alles in allem sind sie in sehr gutem Zustand. So gut wie neu, würde ich sogar sagen.“

J.T. setzte sich vorsichtig auf beide Stühle. Sie hielten sein Gewicht ohne Probleme aus. Ein paar Handgriffe, und sie würden in völlig neuem Glanz erstrahlen. Die paar Holzspindeln, die in der Rückenlehne des einen Stuhles fehlten, würde er heute Abend anfertigen und dann vielleicht sogar noch einsetzen. In wenigen Tagen wären die Stühle wie neu.

Wieder zog das Geschäft auf der anderen Straßenseite J.T.s Blick auf sich. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr sein Herz. Er würde sich sehr anstrengen müssen, um Hannahs Herz für sich zu gewinnen. Die Stühle waren das Mindeste, was er erst einmal für sie tun konnte. Er würde sich erst einmal nur um ihre Bedürfnisse kümmern. Hannah dachte vielleicht, dass sie ihn nicht brauchte, aber sie brauchte auf jeden Fall diese Stühle.