Kapitel 11
Am Donnerstag stellte Cordelia Hannah den Einwohnern der Stadt vor und gemeinsam verschenkten sie fast zwei Dutzend bunte Brottücher. Es sprach sich schnell herum, dass es bei der neuen Schneiderin etwas umsonst gab, sodass ein ständiger Strom an Besuchern das Geschäft erfüllte. Leider war das alles, was sie waren – Besucher, keine Kunden.
Am Samstagnachmittag drehte Hannah das Schild auf „Geschlossen“ und lehnte sich mit der Schulter gegen die Tür. Nicht ein Auftrag. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie geduldig sein musste, dass die Frauen, die im Geschäft gewesen waren und sich Kleider angeschaut hatten, bald wiederkommen würden. Aber Vernunft allein konnte ihr Herz nicht davor bewahren, mutlos zu werden. Gedanken wie Misserfolg, Fehler und Konkurs kamen ihr immer wieder in den Sinn. Hannah ließ sich weiter gegen die Tür sinken, bis sie schließlich anfing, daran herunterzurutschen. Sie sprang auf. Mit einem letzten Rest Selbstbewusstsein schüttelte sie ihre Röcke aus und stellte sich vor, wie damit alle trüben Gedanken von ihr abfielen.
„Das wird schon“, ermutigte sie sich selbst. „Es waren doch erst vier Tage. Hab ein bisschen Vertrauen.“
Sie ging durch den Raum und nahm das in braunes Papier gewickelte Päckchen an sich, das auf dem Arbeitstisch lag. Ezras Hemd. Bald würde er auf seinem Weg zum Bahnhof hier bei ihr vorbeischauen, um es mitzunehmen. Hannah knotete das Band, mit dem das Paket verschnürt war. Ihr erster und einziger Kunde. Doch er hatte großzügig bezahlt. Die Bank vor ihrem Geschäft glänzte wie neu. Schon etliche Besucher hatten sich darauf niedergelassen.
Ezra bestand immer noch darauf, auf dem Bürgersteig zu sitzen, wenn sie ihren morgendlichen Kakao tranken, aber Hannah war froh, dass sie eine komfortablere Sitzgelegenheit hatte. Die Bank war glatt und robust und breit genug für drei Erwachsene. Oft hatte sie darauf schon die James-Kinder für ein paar Minuten verschnaufen sehen, bevor sie weiter in der Wäscherei mithalfen.
Momentan war die Bank leer. Das Wetter war schön, deshalb entschied Hannah, dass sie draußen auf Ezra warten wollte. Sie schloss den Laden ab und ließ sich auf die Bank sinken. Für einige Augenblicke schloss sie die Augen und holte ein paar Mal tief Luft. Als sie die Augen wieder öffnete, waren ihre Gedanken entspannter und drehten sich nicht mehr nur um Stoffe, Aufträge und Kunden. Hannah ließ den Blick auf der Suche nach unerwarteten Schönheiten umherschweifen. Sie liebte es, auf diese Weise nach Gottes verborgenen Geschenken der Liebe zu suchen. Wann immer sie eines fand, freute sie sich darüber und dankte ihrem Schöpfer dafür.
Ein Schmetterling flatterte an ihr vorbei und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder. Seine orangen Flügel waren wie mit schwarzen Adern durchzogen – ähnlich einigen Kirchenfenstern, die Hannah schon gesehen hatte – und winkten ihr einen Gruß zu. Er saß nur einen kurzen Moment da, bevor er sich wieder erhob und davonschwebte. Hannah folgte ihm mit ihrem Blick, bis er hinter einem Baum verschwunden war. Das ließ sie daran denken, dass die Bäume bald ihre Blätterfarbe verändern würden. Das ganze Land wäre dann von Gold-, Rot- und Brauntönen durchzogen. Während sie noch ihren Gedanken nachhing, hörte sie plötzlich laute, aufgeregte Kinderstimmen.
„War ich nicht!“
„Warst du wohl!“
„Das sage ich Mama.“
„Mach doch. Es ist deine Schuld, dass wir ihn verloren haben.“
Hannah wandte ihren Kopf und sah gerade noch, wie Molly James in der Wäscherei verschwand, offensichtlich dazu bereit, ihre Drohung wahr zu machen. Tessa schluchzte und starrte ihrer Schwester wütend hinterher. Dann drehte sie sich abrupt um und rannte blindlings auf Hannahs Bank zu. Das Mädchen blieb erschrocken stehen, als sie merkte, dass die Bank schon besetzt war. Tränen traten ihr in die Augen, kullerten aber nicht ihre Wange hinunter, als sie Hannah erblickte. Bevor das Kind weglaufen konnte, klopfte Hannah auf die freie Sitzfläche neben sich.
„Ich teile gerne.“
Tessa zögerte. Dann zuckte sie die Schultern und setzte sich. Ihre Füße baumelten in der Luft und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Dann zog sie eine beeindruckende Grimasse.
Hannah seufzte mitfühlend und verschränkte ebenfalls ihre Arme. „Kleine Schwestern können wirklich schrecklich sein. Ich habe auch eine, deshalb weiß ich, wovon ich rede.“
Tessa hob ein wenig ihren Kopf. „Wirklich?“
„Mhm.“
„Hat sie dich auch wegen etwas in Schwierigkeiten gebracht, was du gar nicht gemacht hast?“
„Oh ja. Oft.“ Hannah hatte Mühe, ernst zu bleiben, da sie am liebsten gelacht hätte. „Ich erinnere mich an das erste Mal, als meine Mutter mir erlaubte, an einem ihrer Quilttreffen teilzunehmen. Normalerweise mussten Emily und ich auf unserem Zimmer bleiben, wenn Mutter sich mit ihren Freundinnen traf, aber sie war der Meinung, dass meine Stickereien nun gut genug waren, um sie den anderen zu zeigen. Ich war so aufgeregt und stolz. Aber Emily fühlte sich ausgeschlossen. Sie bettelte meine Mutter so lange an, an dem Abend helfen zu dürfen, bis sie ihr erlaubte, beim Abschneiden der Fäden zu helfen. Das Problem war nur, dass meine Mutter immer mit einem so langen Faden gearbeitet hat, dass sie ihn nur ganz selten abschneiden musste. Also hat Emily einfach so meine Fäden abgeschnitten. Doch das wollte ich nicht. Ich fragte sie freundlich, ob sie es lassen könnte, aber sie bestand darauf, dass es ihre Aufgabe war, die Fadenenden abzuschneiden. Zum Glück redeten die anderen Frauen so laut miteinander, dass sie von unserem Streit nichts merkten. Hätte Emily mir einfach die Schere gegeben, wäre alles gut gewesen, aber sie weigerte sich.“ Hannah schüttelte den Kopf. „Ich versuchte, ihr die Schere wegzunehmen. Es ging hin und her, bis ich endlich gewonnen hatte. Doch leider konnte ich den Sieg nicht sehr lange genießen.“
Tessa rückte gespannt näher an Hannah heran. „Was ist passiert?“
„Ich hatte so viel Schwung, dass mir die
Schere aus der Hand flog –
direkt in
Myrtle Butlers Teetasse. Sie schrie laut und ließ die Tasse fallen.
Der ganze Tee ergoss sich über ihr Kleid – und noch schlimmer, über
den Quilt, den wir gerade nähten.“
Tessa schnappte erschrocken nach Luft.
Hannah nickte und wieder überkam sie dieses schreckliche Schamgefühl, das sie damals empfunden hatte. „Ich habe meine Mutter noch nie so böse erlebt. Sie hat mich vor allen Frauen angeschrien und mich und Emily ins Bett geschickt. Für die nächsten zwei Jahre war es mir verboten, an den Quilttreffen teilzunehmen. Erst als Emily alt genug war, durften wir wieder hin.“
„Das ist nicht fair!“
„Das habe ich damals auch gedacht.“ Hannah tätschelte Tessas Knie. „Aber heute verstehe ich es besser. Emily war vielleicht schuld an dem Streit, weil sie ihn angezettelt hatte, aber auch ich hatte meinen Teil dazu beigetragen. Durch mein Verhalten wurde die Situation noch schlimmer. Wenn ich sie einfach die Fäden hätte abschneiden lassen, wäre alles gut gegangen.“
Tessas Gesicht verzog sich. Hannah sah ihr an, dass sie angestrengt nachdachte.
„Ist es so ähnlich wie bei dir und Molly?“, fragte Hannah.
„Irgendwie schon. Nur dass es Mollys Schuld war, dass ich den Knopf verloren habe. Sie hat mich angerempelt, als ich ruhig dasaß. Der Knopf ist mir aus der Hand gefallen und in einem Spalt im Boden verschwunden. Jetzt bezahlt uns Mr Smythe bestimmt nicht. Er bezahlt nie, wenn irgendwas mit seinen Kleidern nicht stimmt. Und er gibt sich jedes Mal Mühe, etwas zu suchen, das nicht stimmt. Mama wird sicher mit mir schimpfen.“
Tessa zog ihre Knie an, schlang die Arme darum und verbarg ihr Gesicht in ihrem Kleid. Hannah legte eine Hand auf den Rücken des Mädchens.
„Ist der Knopf während dem Waschen abgefallen?“
Tessa nickte. „Mhm. Meine Aufgabe ist es, die Knöpfe wieder anzunähen. Aber jetzt habe ich keinen Knopf mehr und Mr Smythe wird es merken.“ Ihre Stimme brach, sodass Hannah fürchtete, dass das Mädchen gleich in Tränen ausbrechen könnte.
„Ich habe eine Idee.“ Hannah wartete, bis Tessa ihren Kopf hob. „Glaubst du, du kannst in die Wäscherei schlüpfen und Mr Smythes Hemd holen?“
„Ja …“
„Ich habe eine ganze Schachtel voller Knöpfe. Vielleicht finden wir ja einen, der passt.“
Tessa starrte Hannah an, als sei sie eine gute Fee. „Meinst du wirklich, Miss Richards?“
„Einen Versuch ist es doch wert, oder?“
„Ja, das stimmt!“
Bevor Hannah noch etwas sagen konnte, sprang Tessa davon, um das Hemd zu holen. Im Handumdrehen war sie zurück. Das Baumwollhemd war schon gewaschen und getrocknet, aber noch nicht gebügelt. Hannah schnappte sich Ezras Paket und zog Tessa mit sich in den Laden, wo sie gleich ihre Knopfschachtel hervorholte. Tessas Augen wurden groß vor Verwunderung.
„Das müssen Tausende sein“, sagte sie mit funkelnden blauen Augen.
Jetzt konnte Hannah sich ein Lachen nicht verkneifen. „Wahrscheinlich eher zweihundert. Aber ehrlich gesagt habe ich noch nie nachgezählt.“
Hannah schüttete den Inhalt der Schachtel auf den Tisch. Schwarze, weiße, metallene, perlmutterne, gravierte, flache, zweilöchrige, vierlöchrige, Knöpfe ohne Löcher – die Auswahl war riesengroß.
„Es war ein weißer“, sagte Tessa. „Siehst du?“ Sie legte das Hemd ebenfalls auf den Tisch und zeigte auf die Knöpfe, die sich noch an ihrem Platz befanden.
Hannah warf einen Blick darauf. „Sieht aus wie Perlmutt. Schau dir die Knöpfe genau an und wenn du glaubst, du hast einen gefunden, der passen könnte, sieh noch nach, ob er die richtige Form und Größe hat.“
„Gut.“
Die zwei machten sich an die Arbeit. Einige Knöpfe waren sehr ähnlich, aber einen kleinen Unterschied gab es immer. Sie waren entweder zu groß, zu klein, zu durchsichtig oder zu flach. Wenn sie keinen fanden, der passte, hatten sie noch die Möglichkeit, alle Knöpfe auszutauschen. Den meisten Männern würde das nicht auffallen, also bezweifelte Hannah, dass Mr Smythe es bemerken würde. Aber das wäre nicht ehrlich. Am liebsten würde sie Tessa mit einem passenden Knopf am Hemd nach Hause schicken. Dann könnte ihre Mutter dem Kunden erklären, was passiert war und wie sie die Situation gelöst hatten. Dann wäre er hoffentlich zufrieden und würde nicht nur das Hemd bezahlen, sondern auch ein kleines Trinkgeld für die zusätzliche Arbeit geben.
„Ich hab ihn!“, rief Tessa aus.
„Wirklich?“
Erleichterung durchströmte Hannah. Das machte alles viel leichter. Sie beugte sich nach vorne, um den Fund zu untersuchen. Er passte tatsächlich.
„Gute Arbeit, Tessa. Ich hole dir eine Nadel und einen Faden.“
Hannah öffnete die Schublade mit den Garnspulen und wählte einen weißen Faden. Sie schnitt ein Stück ab und reichte es Tessa. Das Mädchen befeuchtete das Ende des Garns mit ihrer Zunge und fädelte es dann geschickt ins Nadelöhr ein. Hannah sah erstaunt zu, wie die Kleine das Ende des Fadens verknotete und dann anfing, mit größter Präzision den Knopf festzunähen.
„Die meisten Mädchen in deinem Alter haben Probleme damit, den Faden einzufädeln, aber du machst das richtig gut. Nähst du mehr als nur Knöpfe an?“
Tessa schnitt den überschüssigen Faden ab und reichte ihn Hannah.
„Meine Mutter verspricht mir immer wieder, dass sie mir das richtige Nähen beibringen will, aber sie hat zu viel zu tun.“
„Wenn mein Geschäft ein wenig in Schwung gekommen ist“, überlegte Hannah, „kann ich dich vielleicht unterrichten. Natürlich nur, wenn deine Mutter einverstanden ist.“
„Kannst du mir beibringen, wie man schöne Kleider näht? Wie die, die in deinem Fenster hängen?“
Hannah lächelte über die Aufregung in Tessas Stimme und sammelte die Knöpfe zurück in die Schachtel.
„Wir würden mit ein paar einfacheren Sachen anfangen, beispielsweise mit einer Schürze.“ Tessa verzog ihr Gesicht, sodass Hannah ein Kichern unterdrücken musste. „Wie auch immer“, fuhr sie fort, „wenn du dich anstrengst und viel übst, kannst du bestimmt bald deine eigenen Kleider nähen, wenn du alt genug bist, um lange Röcke zu tragen. Dann können dich die Jungs nach der Kirche zu einem Picknick einladen.“ Hannah zwinkerte Tessa zu.
Plötzlich rief eine Stimme draußen Tessas Name und ließ die Zukunftsträume zerplatzen.
Tessa sprang auf. „Das ist Ma. Ich muss gehen.“
Sie schnappte sich das Hemd und rannte in Richtung Tür. Auf halbem Weg drehte sie sich noch einmal um. „Danke für deine Hilfe, Miss Richards.“
„Gern geschehen, Tessa. Und nenn mich doch bitte Hannah, ja?“
Das Mädchen nickte und stürmte aus der Tür.
Völlig unerwartet überkam Hannah eine große Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer Familie. Die meisten Frauen in ihrem Alter hatten schon einen Ehemann und Kinder, aber sie hatte einen anderen Weg gewählt – den Weg als Schneiderin und jetzt auch als Geschäftsfrau. Bedeutete das, dass sie den Traum, ein Heim mit jemandem zu teilen, aufgeben musste? Würde sie jemals ihr Herz verschenken? Bisher hatte sie noch nicht viel über diese Dinge nachgedacht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gewusst, dass sie Schneiderin werden wollte. Sie hatte hart dafür gearbeitet, um so gut zu werden. Jetzt fragte sie sich zum ersten Mal, ob ihr das für ihr Leben ausreichen würde.
Sie nahm ihren Nähkorb zur Hand. Obenauf lagen die Puppen, die sie für Tessa und Molly machte. Mollys war schon fix und fertig und bereit, um von ihrer kleinen Besitzerin adoptiert zu werden. Doch bei Tessas Puppe fehlten noch eine Schürze und eine Haube, die den weiß gebleichten Kopf bedecken würde. Hannah presste die Puppe an ihre Brust und tätschelte den kleinen Rücken. Emily hatte in ihrem letzten Brief genau beschrieben, wie die Wiege für ihr Kind aussah und natürlich auch die Hemdchen, die sie nähte. Mutter hatte schon zwei kleine Quilts für die Ankunft des neuen Erdenbürgers vorbereitet. Hannah legte die gesichtslose Puppe vorsichtig in den Korb zurück. Liebevoll deckte sie sie mit einem kleinen Stofffetzen zu.
Zum Glück kam in diesem Moment Ezra und lenkte sie von ihren Grübeleien ab.
„Die Kleine hat mich fast über den Haufen gerannt“, sagte er grinsend, als er in der Tür stand, die Tessa vor lauter Eile offen gelassen hatte. Er überschritt aber nicht die Schwelle. Die gleiche unsichtbare Barriere, die ihn davon abhielt, sich neben sie auf die Bank zu setzen, schien ihn auch jetzt zurückzuhalten.
Hannah schüttelte innerlich den Kopf. Dieser Mann schien Selbstvertrauen zu haben und achtete sorgfältig darauf, keine gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten. Warum wusch er sich nicht einfach? Ganz offensichtlich sehnte er sich nach menschlicher Gesellschaft, trotzdem vertrieb er mit seinem Körpergeruch alle, die ihm genau das bieten könnten. Hatte der Verlust seiner Frau ihn so getroffen, dass er nie wieder einen Menschen nahe an sich heranlassen wollte? Wenn das der Fall war, warum kam er dann immer wieder hierher und trank einen Kakao mit ihr?
Hannah schob ihre Überlegungen beiseite und lächelte ihn freundlich an. „Ich habe Ihr Hemd fertig, Ezra.“
Er schien unschlüssig, ob er sich darüber wirklich freuen sollte. „Ich hatte seit Jahren kein neues Hemd, Miss Hannah. Ich weiß gar nicht richtig, was ich damit machen soll.“
„Also, ich hätte da schon eine Idee.“
Er nahm das Päckchen entgegen und trat einen Schritt zur Seite, als Hannah ihr Geschäft verließ und die Tür hinter sich schloss. Der strenge Geruch, den sie von ihm kannte, schlug ihr entgegen. Doch in den letzten Tagen schien sie sich ein bisschen daran gewöhnt zu haben, denn sie schaffte es, Luft zu holen, ohne dass sie das Gefühl hatte umzufallen. Offenbar machte sie Fortschritte.
Hannah schloss die Tür ab und beendete damit ihre erste Arbeitswoche. Dann wandte sie sich zu Ezra und lächelte ihn freundlich an. „Ich hatte gehofft, dass Sie mich morgen zur Kirche begleiten würden. Da ich neu in der Stadt bin, hätte ich gerne jemanden neben mir, den ich kenne.“
Ezra machte ein langes Gesicht. „Ich, Miss Hannah?“ Er schüttelte energisch den Kopf und wurde dabei immer schneller. „Das wollen Sie nicht wirklich.“
„Natürlich will ich das.“
„Aber ich …“
„Ich weiß, dass Sie wissen, wo die Kirche ist, Sie Gauner“, unterbrach sie ihn und drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. Innerlich betete sie, dass sie gerade nicht einen Fehler beging. „Wir gehen doch jeden Morgen daran vorbei.“
Ezras Schultern sackten in sich zusammen, als er den Kopf hängen ließ. Seine Finger gruben sich in das braune Papier, das sein Hemd schützte, und zerknitterten es.
„Die Wahrheit ist, Miss Hannah, dass ich nicht mehr in der Kirche war, seit meine Alice gestorben ist. Ich gehöre da nicht mehr hin.“
Es tat ihr weh, diesen alten Mann so leiden zu sehen. Noch schlimmer fand sie es aber, dass er sich durch sein Verhalten selbst von der Gemeinschaft der anderen abgrenzte – und von Gott.
„Es ist egal, wie lang Sie nicht mehr dort waren, Ezra. Gott ist immer bereit, seine Kinder wieder in seine Arme zu schließen.“
Er schnaufte und sah sie von der Seite an. „Gott mag mich ja vielleicht in seine Arme schließen, aber ich bezweifle, dass der Rest der Stadt daran so großes Interesse hat, wo ich doch so stinke.“
Das war das erste Mal, dass Hannah ihn von seiner Unsauberkeit sprechen hörte. Doch der Tonfall, in dem er es sagte, ließ sie vermuten, dass er nur etwas nachplapperte, das er von anderen gehört hatte. Hannah wurde wütend, wenn sie daran dachte, dass jemand unfreundlich zu Ezra gewesen war. Auch wenn er von seiner Sauberkeit her nicht dem allgemeinen Standard entsprach, durfte man nicht gemein zu ihm sein.
Hannah stampfte trotzig mit dem Fuß auf. „Also, wir können uns ja ganz nach hinten setzen. Und wenn wir jemanden stören, kann derjenige seinen Gottesdienst gerne woanders feiern.“
Ezra sah sie erstaunt an. „Sie sind wirklich ein Sturkopf, nicht wahr?“ Er schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal sah es belustigt und nicht länger traurig aus. Hannahs Herz wurde leichter.
„Na gut“, sagte er endlich. „Ich nehme Sie morgen mit zur Kirche und ich werde das Hemd tragen, das Sie für mich gemacht haben. Gibt es noch etwas, zu dem Sie mich gerne zwingen würden?“
„Nur eine Kleinigkeit.“
Er verdrehte die Augen. „Was ?“
Hannah atmete vorsichtig ein, bevor sie die nächsten Worte hervorbrachte. „Da Ihr Hemd das erste Kleidungsstück ist, das ich in meinem neuen Geschäft geschneidert habe, würde ich Sie gerne um einen Gefallen bitten.“
Er sah sie erwartungsvoll an. „Raus damit.“
„Bevor Sie das Hemd aus dem Papier wickeln … könnten Sie sich bitte die Hände waschen?“
Ezra fing schallend an zu lachen, sodass er fast nach hinten vom Bürgersteig gefallen wäre. Er schüttelte fassungslos den Kopf und kam kaum wieder zu Atem. Hilflos hielt er sich den Bauch. Als er sich nach einer ganzen Weile wieder ein wenig gefangen hatte, schnaufte er atemlos: „Sie sind unglaublich, Miss Hannah. Wirklich. Meine Hände waschen. Haha!“
Er führte Jackson die Straße hinunter und musste dabei immer wieder kichern. Hannah überkam ein unangenehmes Gefühl. Wollte er sie nur auf den Arm nehmen? Würde das erste Kleidungsstück, das sie in Coventry genäht hatte, morgen in der Kirche wie ein alter Lumpen aussehen? Ein dumpfer Schmerz machte sich hinter Hannahs Augen breit.