Kapitel 22

J.T. starrte durch das Stalltor auf die Straße, die aus der Stadt führte.

Sie hätte längst wieder da sein müssen.

Dunkle Wolken verdunkelten den Himmel im Norden. Der Regen, der dem nahenden Gewitter vorausging, hatte ihn vor wenigen Minuten veranlasst, die Pferde in ihre Boxen zu bringen. Jetzt, wo sie alle trocken und sicher untergebracht waren, konnte er sich nicht von dem offenen Tor wegbewegen.

Wo bist du, Hannah?

Wenn Ezra Hilfe gebraucht hätte, wäre sie mit Sicherheit zurückgekommen und hätte den Arzt geholt. Was hielt sie auf? Vielleicht hatte sie entschieden zu warten, bis das Unwetter vorbei war. Oder sie hatte sich verfahren.

„Tom!“ J.T. wandte sich um und ging rasch durch den Stall.

Der Junge streckte seinen Kopf aus einer der Boxen. „Ja?“

„Mach mir den Grauen fertig, während ich eine warme Jacke hole. Ich reite aus.“ Ohne eine weitere Erklärung ging er in sein Büro.

„In dem Regen?“, rief der Junge ihm nach.

„Ja.“

Er hatte gerade seine Jacke übergeworfen, als er Hufgetrappel hörte. Er rannte auf die Straße. Der Rote galoppierte an ihm vorbei auf den Stall zu.

Hannah.

J.T. rannte hinter dem Pferd her. „Tom! Ich brauche den Grauen! Jetzt!“

„Bin gleich so weit. Nur noch den Sattelgurt festzurren.“

J.T. fuhr mit der Hand über den Nacken des völlig hysterischen Pferdes. Beruhigend redete er auf das Tier ein. „Alles ist gut, Junge“, murmelte er. „Du bist in Sicherheit. Aber wo ist Hannah, hm? Du hast sie nicht abgeworfen, stimmt’s?“ Angst schwang in seiner Stimme mit, als er sich vorstellte, dass sie irgendwo verletzt am Wegesrand lag. Das Pferd trat einen Schritt zur Seite und J.T. knirschte mit den Zähnen.

„Tom!“

„Hier, J.T. Hier ist er.“

Als Tom aus dem Stall trat, schnappte sich J.T. die Zügel. „Kümmere dich um den Roten.“

Tom sah das Tier fassungslos an. „A-a-aber wo sind Miss Richards und der Wagen?“

„Das werde ich jetzt herausfinden.“ Er nahm sich nicht die Zeit für weitere Erklärungen, sondern sprang auf den Rücken des Grauen und galoppierte los.

Hinter dem Schulhaus zügelte er das Pferd und fing an, nach Anzeichen von Hannah zu suchen. Doch nirgendwo gab es ein Lebenszeichen von ihr. J.T. wurde immer unruhiger. Schließlich durchquerte er die letzte Kurve vor der Brücke, die von riesigen Pekannussbäumen gesäumt war, und starrte hinüber zum Flur. Durch die Zweige konnte er erkennen, dass ein großes, dunkles Etwas auf der Brücke lag. Vorsichtig ritt er näher heran.

Als er freien Blick auf die Brücke hatte, schien J.T.s Herz für einen Moment auszusetzen. Es war der Einspänner. Er lag mit gebrochener Achse auf der Brücke, um ihn herum hatten sich Planken, Äste und anderes Treibgut angestaut. J.T. wusste sofort, dass diese Katastrophe nicht nur von dem Regen herrühren konnte, der nun wie aus Eimern auf ihn niederging. Etwas Schlimmeres musste hier geschehen sein. Eine Springflut!

„Hannah!“

Er sprang vom Pferd, griff sich sein Lasso vom Sattel und rannte auf die Brücke. Seine Stiefel schlingerten auf dem glitschigen Holz, aber er ignorierte es. J.T. betete fieberhaft dafür, dass er Hannah deshalb nicht sah, weil sie im Wagen war. Hastig kletterte er auf den Kutschbock.

Nichts. Der Wagen war leer.

Er schlug mit der Faust gegen das Holz des Einspänners.

Er musterte das Ufer, das Wasser, das Gebüsch. Nirgendwo ein Zeichen des rosafarbenen Kleides, das sie heute Morgen getragen hatte. Wo war sie nur?

Herr, hilf mir, sie zu finden. Lebendig. Bitte lebendig.

J.T. hoffte im Wagen einen Hinweis auf ihren Verbleib zu finden. Er entdeckte ihre Tasche, die sich mit den Riemen an einer Holzplanke verheddert hatte. Schnell riss er sie ab und sah sich weiter um.

Das Pferd wäre niemals in der Lage gewesen, sich alleine zu befreien. Also musste Hannah die Flut überlebt und das Tier losgeschirrt haben. Aber er hatte kein Anzeichen von ihr auf seinem Weg hierher entdeckt. Wie konnte das möglich sein? Sie wäre doch sicher nicht zurück zu Ezras Haus gegangen. Nicht, wo der Wagen viel näher an der Stadt als an Ezras Hütte war. Wo konnte sie nur sein?

Er legte die Hände an den Mund und rief ihren Namen lang und laut. „Haaanaaahhh!“

Er wartete und hoffte auf ein Lebenszeichen von ihr. Irgendetwas. Aber alles, war er hörte, war das Rauschen des bedrohlichen Flusses.

Sie musste über das Geländer gespült worden sein. J.T. presste die Zähne zusammen. Hannah war stark – stärker als jede andere Frau, die er kannte. Körperlich. Innerlich. Vielleicht hatte sie sich trotz der starken Strömung ans Ufer retten können. Dort würde er anfangen zu suchen.

Er legte sich das Lasso über die Schulter und verließ die Brücke, um durch den tiefen Schlamm zu stapfen, der das Ufer säumte. Er hangelte sich an Büschen und niedrigen Bäumen entlang, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und ebenfalls im Fluss zu landen. Zweimal glitt er aus und konnte sich erst im letzten Moment fangen.

Nach einigen Hundert Metern sah er einen Farbfleck in der Ferne. Dort, wo der Fluss sich nach rechts wand, ragte ein umgestürzter Baum über die gesamte Flussbreite. Etwas Rosafarbenes hatte sich daran verfangen. Rosa!

Ohne auf den Weg zu achten, kämpfte er sich zu dem Baum hindurch. Mittlerweile schmerzten seine Beine von der kräftezehrenden Anstrengung, doch davon ließ er sich nicht aufhalten. Matsch sickerte in seine Stiefel und erschwerte jeden Schritt. Doch er hielt durch.

Als er den Baum endlich erreicht hatte, suchte er sich einen sicheren Standort und entrollte sein Seil. Eine kleine Zeder stand in der Nähe. J.T. wand das Ende des Lassos um den Stamm der Zeder und verknotete es. Er schlüpfte aus seiner Jacke, faltete sie zusammen, um das Innere trocken zu halten und band dann das andere Ende des Lassos um seine Taille. Nach einem kurzen, flehenden Stoßgebet kletterte er auf den umgefallenen Stamm und machte sich auf den Weg zu Hannah.

Der Baum wurde immer schmaler, je weiter J.T. balancierte. Schließlich war es nicht mehr möglich, aufrecht zu gehen, und J.T. robbte auf Händen und Knien weiter.

Jetzt konnte er sie sehen. Blasse Hände, kraftlos und erschreckend weiß vor dem dunklen Holz des Stammes. Hannah lag mit dem Gesicht nach unten. Ihr Haar hing in Strähnen in ihr Gesicht, kleine Zweige hatten sich darin verfangen.

Bitte, sei am Leben.

Er kroch näher an sie heran. Fast hatte er sie erreicht. Fast konnte er sie schon berühren. Dann spannte sich plötzlich das Seil und hinderte ihn am Weiterkommen. Mit einem Knurren zog er an seinem Lasso. Nichts geschah. „Komm schon!“ Wieder riss er heftig an dem Seil, bis es sich endlich von einem Ast, in dem es sich verfangen hatte, löste. J.T. wandte sich wieder seinem Ziel zu.

„Hannah?“

Sie war zum Greifen nahe, aber sie gab noch immer kein Lebenszeichen von sich.

„Halt aus, Liebling, ich bin gleich bei dir.“

Der Stamm hatte sich in der Mitte gespalten, worin Hannah sich verfangen hatte. J.T. griff nach ihrer Hand und zog fest daran. Die Kälte ihrer Finger ließ sein Herz gefrieren. Sie durfte nicht tot sein.

Schnell ließ er ihre Finger wieder los und fasste ihr Handgelenk. Er spürte einen schwachen Puls. Hannah war nicht tot. Nur bewusstlos. Er konnte sie retten! Er würde dem Fluss seine Beute entreißen.

Als er sich fest auf dem Stamm positioniert hatte, stemmte er seine Fersen gegen das Holz und zog kräftig an Hannahs Armen. Mühsam hob er sie langsam hoch, doch ihre vollgesogenen Röcke zogen sie immer wieder in den Fluss zurück.

Er brauchte mehr Kraft. Noch einmal rutschte er weiter vor, sodass er jetzt über der Gabelung saß, in der sie festhing. Mit letzter Kraft- und Willensanstrengung schaffte er es endlich, sie in seine Arme zu ziehen. J.T. drückte sie an sich und umschloss ihren kalten Körper mit seinen Armen. Vorsichtig strich er ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Hannah? Kannst du mich hören? Mach die Augen auf.“

Er fühlte an ihrem Hals noch einmal nach dem Puls und war erleichtert, als er auch dort ein zartes Flattern spürte. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wiegte Hannah in seinen Armen hin und her.

„Danke, Herr.“

J.T. drehte Hannah so, dass ihr Rücken an seine Brust gelehnt war, ergriff einen ihrer Arme und rutschte ganz langsam zurück zum sicheren Ufer. Dort legte er sie vorsichtig ab und wickelte sein Lasso auf. Dann versuchte er wieder, Hannah zu wecken.

„Hannah, wach auf“, befahl er. „Jetzt ist nicht die Zeit, um deinen Dickkopf durchzusetzen, Frau. Mach die Augen auf!“

Ihre Lider flatterten. Dann war sie wieder ganz still. Er schüttelte sie. „Sieh mich an!“

Blaue Augen blinzelten durch kaum geöffnete Lider hindurch.

„So ist es richtig. Hannah, du schaffst das. Sieh mich an.“

Sie zwinkerte. „J-jericho?“

In diesem Moment entschied er, dass er den Klang seines Vornamens doch mochte. „Ich bin hier, Hannah.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Du bist in Sicherheit.“

„Mir ist kalt. Du musst mich wärmen.“ Ihre Lider sanken wieder herab.

J.T. sah sich hilfesuchend um. Hannah brauchte ein heißes Bad, trockene Kleidung und einen Arzt, bevor sie sich eine Lungenentzündung holte. Hatte Cordelia ihm nicht erzählt, dass Hannah als Kind eine schwache Lunge hatte? Er musste alles tun, um einen Rückfall zu vermeiden.

Er wrang so viel Wasser wie möglich aus ihren Röcken, dann wickelte er seine Jacke um sie. Er bezweifelte, dass sie das genügend wärmte, aber es war alles, was er ihr im Moment bieten konnte. Dann hob er sie auf seine Arme und machte sich vorsichtig auf den matschigen Rückweg.

Als er endlich wieder bei seinem Pferd angekommen war, hatte es aufgehört zu regnen. J.T. legte seine wertvolle Last vorsichtig auf dem Boden ab und atmete tief durch. Er kniete hinter Hannah, sodass sie sich gegen ihn lehnen konnte. Um sie warm zu halten, umschlang er sie mit seinen Armen. Sein Daumen streichelte zärtlich ihre Wange.

„Du wirst nicht mögen, was ich jetzt gleich tun muss, Liebling, aber ich kann es nicht ändern.“ J.T. zog ein Ästchen aus ihrem Haar. „Ich hoffe, du kannst dich später nicht daran erinnern. Und falls doch, verspreche ich dir, dass du mir so viele Vorwürfe machen darfst, wie du willst. Und ich werde dabei nicht mal böse gucken. Ist das in Ordnung?“

So sanft wie möglich nahm er sie wieder in die Arme und stand auf. Dann, mit einer weiteren geflüsterten Entschuldigung, warf er sie über den Sattel, stieg hinter ihr auf und ritt in Richtung Stadt.