17
Dicke graue Wolken hängen über uns, daher hält Adrian irgendwo mitten im schottischen Nirwana an und schließt das Autodach. Jetzt fühle ich mich wie in einer Konservendose, ohne den freien Himmel über mir.
Adrians Familie war unglücklich, als er den plötzlichen Aufbruch ankündigte, und ich habe ihn erwischt, wie er mit seiner Mutter flüsterte und dabei ziemlich verärgert aussah. Wahrscheinlich hat er ihr Vorhaltungen gemacht, weil sie mir alte Fotos gezeigt und damit unseren Streit provoziert hat.
Seine Kiefer sind aufeinander gepresst, er knirscht mit den Zähnen und fährt viel zu schnell. Ich halte mich am Griff über der Tür fest, weil ich sonst in jeder Kurve durchs Auto geschleudert würde, aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen oder gar noch einmal nach Gisele zu fragen. Die Furcht, dass sich dahinter eine wirklich schlimme Geschichte verbirgt, wächst mit jedem Kilometer. Und wird verstärkt durch sein seltsames Verhalten. Er ist plötzlich so weit weg, so unnahbar und kalt.
»Greif ins Handschuhfach. Darin liegt etwas zur Unterhaltung während der Fahrt«, sagt er, kurz nachdem wir Edinburgh hinter uns gelassen haben.
Neugierig öffne ich das Fach und finde ein ausgedrucktes und sorgfältig geheftetes Manuskript. Schon den ersten Satz erkenne ich – es ist das Buch, das er mir geschickt hat. Das Buch, das er ... über mich geschrieben hat. Oder über die Liebe. Doch jetzt steht ein Autorenname unter dem Titel. John Karry. Mein Herz fängt an zu rasen, meine Finger werden steif, als ich es vorsichtig aufschlage.
»Ich möchte, dass du es mir vorliest«, sagt er ruhig. »Und deine Meinung darüber vorerst für dich behältst. Es ist noch lange nicht fertig, aber ich glaube, dass es ganz gut wird.«
Ich schlucke. Leider bin ich nicht besonders gut im Vorlesen, aber ich werde mir Mühe geben. Auch wenn jeder einzelne Satz meinen Magen verkrampft und tief in mein Herz fährt. Weil ich daran denken muss, wie benutzt ich mich gefühlt habe. Weil ich verdrängt habe, dass er mich vielleicht nur als Rechercheobjekt braucht. Was wird geschehen, wenn das Buch fertig ist? Wird er sein altes Leben weiterleben? Um Fesselnde Liebe 2 zu schreiben, wozu er sich an willigen und unterwürfigen Frauen bedient, natürlich nur zur Recherchezwecken?
Auf meiner Brust scheint ein Stein zu liegen, und meine Stimme klingt gepresst, als ich langsam anfange, den Text vorzulesen. Die Worte, die sich so stark in mein Hirn gebrannt haben, dass ich beim Lesen weinen musste. Doch nach den ersten Seiten geht es besser. Und dann lese ich einen Absatz vor, der mich schwindeln lässt.
Wenn sie wüsste, wie gut ich sie bereits kenne. Was ich über sie weiß. Sie hätte Angst vor mir. Es ist nie gut, zu viel über einen anderen Menschen zu wissen. Noch gefährlicher als das Wissen selbst ist jedoch die Erkenntnis des anderen darüber.
Liebe braucht Geheimnisse, sie nährt sich vom Mysterium, von der Gefahr und Bedrohung, der wir uns aussetzen, wenn wir lieben. Sie nährt sich von Reibung und der ewigen Furcht, verlassen zu werden. Wenn das alles fehlt, verkümmert sie wie eine vertrocknete Topfpflanze. Daher darf man den anderen nie wissen lassen, was man wirklich für ihn fühlt und empfindet. Man setzte sich damit großer Gefahr aus.
Ein gebrochenes Herz wird niemals vollständig heilen. Glücklich ist, wer jemanden findet, der die Wunden versorgt und die Narben glättet. Die Angst wird geringer, wenn man es erlebt hat. Jemand, der dir bereits das Herz gebrochen hat, kann dir keine Angst mehr machen, weil du weißt, wie es sich anfühlt. Und weil du weißt, dass du es überleben wirst. Verwundet, verletzt ... aber lebendiger als vorher. Nichts auf der Welt lässt uns so sehr wachsen wie die Verletzungen der Liebe.
»Ist das dein Ernst?«, frage ich und lege die Blätter auf meinem Schoß ab. Meine nackten Füße ruhen auf der Ablage vor mir, mein Rock ist ziemlich weit hochgerutscht durch die Position.
Adrian streckt den Arm aus und legt seine warme Hand auf meinen Oberschenkel. »Lass uns nicht jetzt darüber sprechen.«
»Aber ich ... warum hast du Angst davor, deine Gefühle zu äußern? Du schreibst so gefühlvolle, ans Herz gehende Bücher. Wieso kannst du nicht einfach sagen, was du ...?«
»Weil ich darüber schreibe«, unterbricht er mich. Sein Ton ist rau und seine Finger greifen plötzlich fester zu. Ich halte die Luft an und sehe ihn an, suche seinen Blick, doch der ist starr nach vorn auf die Straße gerichtet. »Und weil das, was ich schreibe, nicht das ist, was ich fühle. Ich bin Autor, Gwen, und eigentlich solltest du wirklich wissen, dass Schreiben eine Kunst ist und keine Selbstoffenbarung.«
Enttäuscht presse ich die Lippen aufeinander und schaue nun meinerseits nach vorn auf die Straße. Langweilige Autobahn. »Du hast gesagt, dass ich dich zu diesem Buch inspiriert habe«, wage ich mich wieder vor, nachdem wir minutenlang geschwiegen haben. »Ist es nun so? Oder nicht?«
»Inspiriert, ja. Ich möchte dich als meine Muse bezeichnen.« Endlich wendet er den Kopf zu mir und lächelt.
»Du schreibst hier also nicht über dich und mich?«
»Kleines ... du solltest nicht zu viel hineininterpretieren, aber auch nicht zu wenig. Sonst ...«
»Sonst was?«, fordere ich ihn heraus und tippe mit den Fingern auf das Papier. »Schreibst du nicht weiter? Lässt du mich nicht weiterlesen? Widmest dich doch lieber wieder deinem nächsten Bestseller?«
Adrian lacht. »Sobald das Pseudonym gelüftet ist, wird auch John Karry ein Bestsellerautor. Das ist jedenfalls der Wunsch von Newman.«
»Damit könnte er recht haben. Aber was werden die begeisterten Leserinnen der Fesselnden Liebe von John Karrys Werken halten? Hast du keine Angst, dass sie es nicht mögen?«
Seine Kiefer mahlen. Ich höre sogar, wie seine Zähne knirschen. »Doch. Habe ich. Und wenn du das jemals jemandem verrätst ...«
Ich kichere. »He, ich hab dich in der Hand! Das gefällt mir.«
Seine Finger legen sich fest um meinen Oberschenkel. Es tut ein bisschen weh, aber der Schock über die plötzliche Härte entlockt mir einen leisen Schrei, nicht der Schmerz.
»Wer hier wen in der Hand hat, wird sich zeigen, Kleines«, sagt er leise. Ich beiße mir heftig auf die Lippen. »Solange du mehr Angst vor mir hast als ich vor dir, ist alles gut.«
»Ich glaube nicht, dass Angst eine gute Basis ist für ... irgendwas.«
Das Blut klopft mir in den Schläfen. Was soll ich dazu sagen? Beziehung? Haben wir denn eine? Ich weiß es nicht, und solange von ihm nichts kommt, werde ich es nicht so nennen.
»Oh doch. Angst ist zum Beispiel ein sehr guter Beitrag zu explosivem Sex.« Jetzt grinst er wieder und ich verdrehe die Augen.
»Kannst du nicht wenigstens ein paar Minuten mit mir reden, ohne an Sex zu denken?«
»Dazu kann ich nichts! Ich sitze schließlich nicht mit nackten Beinen auf dem Beifahrersitz und löse damit erregende Erinnerungen aus. Dein Anblick versetzt ganz offenbar meinen Verstand in einen Ausnahmezustand.«
Ich wackle kokett mit den Zehen. »Das macht mich froh, weil es mir genauso geht. Aber was Angst mit Sex zu tun hat, musst du mir erklären.«
»Das ist einfach. Angst wird im Gehirn an derselben Stelle produziert, die auch für sexuelle Erregung und sogar den Höhepunkt zuständig ist. Mit denselben hormonellen Folgen. Daher ängstigen sich die meisten Menschen, wenn sie verliebt sind. Und es gibt eine Menge Gründe für Ängste in dieser Hinsicht.«
»Welche?«, frage ich nach, obwohl ich ihm auf Anhieb mindestens fünf nennen könnte. Aus Erfahrung. Aber ich will es von ihm wissen. Ich mag es, wenn er das Gefühl hat, mir die Welt zu erklären. Und vielleicht tut er das auch, jedenfalls manchmal.
»Angst vor Verletzung, Ablehnung, Verlust, Enttäuschung ... und wenn die Liebe sich gefestigt hat, kommt die Angst vor Krankheiten, Tod und die Eifersucht dazu, die bekanntlich auch nichts anderes ist als Angst. Allerdings ist Angst auch ein Gradmesser für Intelligenz und Fantasie, denn nur intelligente, fantasievolle Menschen haben viele Ängste.«
»Dann wünsche ich mir, dumm und fantasielos zu sein.« Ich löse den Zopfgummi, sodass mir die Locken offen über die Schulter fallen. Schließlich ist das Dach geschlossen und ich muss den Wind nicht fürchten.
Sofort streckt Adrian den Arm aus und fährt mit der Hand durch meine Haare, streicht mit den Fingerkuppen über meinen Nacken und löst damit eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper aus. »Ich liebe dein Haar«, sagt er und sieht lächelnd zur Seite. Seine blauen Augen strahlen, die winzigen Fältchen kräuseln die feine Narbe daneben.
»Woher hast du die?«, frage ich und streiche vorsichtig mit dem Finger darüber. Die Haut fühlt sich hart an, auch wenn die Narbe so klein ist, dass sie selten auffällt.
Adrian presst die Lippen zusammen und sieht wieder nach vorn auf die Straße. Es ist seltsam, wie er meinem Blick immer ausweicht, wenn wir über ihn reden. Als ob es ihm unangenehm wäre, zu viel von sich preiszugeben. Warum nur?
»Ein Streit mit Carol. Sie war wütend auf mich und warf mir einen Stein an den Kopf. Er verfehlte nur knapp mein Auge, zum Glück, aber die Platzwunde ließ sich nicht nähen und so blieb die Narbe.«
»Herrje. Nicht auszudenken, wenn du ...«
»Wäre ich weniger attraktiv, wenn ich ein Glasauge hätte?« Er dreht den Kopf zu mir und schielt mich so fürchterlich an, dass ich entsetzt aufschreie.
»Nein, natürlich nicht. Außerdem ist es ja nicht, weil du so gut aussiehst ...«
»Was ist nicht? Sprich dich aus, Kleines.«
Seine Stimme ist warm und samtig geworden. Aber ich mag es nicht aussprechen. Ich will nicht die Erste sein, die es sagt. Nicht, bevor ich weiß, was in ihm vorgeht. Ich muss damit leben, dass ich mich in ihn verliebt habe und mich deshalb fühle wie ein Insekt im Spinnennetz. Aber ich sollte die Spinne nicht wissen lassen, wie hilflos und wehrlos ich gerade bin. Vertrauen ist ein großes Wort, doch es passt nicht zur Angst und dem Gefühl, nicht zu genügen.
»Dass ich so gern mit dir schlafe«, antworte ich und finde mich selbst unverfänglich. Für eine Sekunde blitzt etwas in seinem Gesicht auf, das ich am ehesten als Enttäuschung interpretiere. Oder ist das Wunschdenken?
»Das freut mich«, antwortet er und richtet den Blick auf die Straße zurück. »Wir haben noch etwa eine Stunde vor uns. Möchtest du durchfahren oder eine Pause machen?«
»Das überlasse ich dir. Du fährst.«
»Selbstverständlich.«
Er wirft mir wieder einen Seitenblick zu, als ob er noch etwas sagen wollte, doch dann verstummt unser Gespräch. Dafür entlocken mir die sanften Töne von Heather Nova ein Lächeln. Während wir der Musik lauschen, beobachte ich die an uns vorbeiziehende Landschaft und versuche, mich auf London und das, was kommen wird, zu freuen. Ohne Angst ...