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Antonio, der eigentlich Rashid heißt, versucht seine Neugier zu unterdrücken, was ihm jedoch kaum gelingt. Ich bin mir sicher, dass er Adrian nicht erkennt, aber allein die Tatsache, dass ich in einem rückenfreien Kleid und hochhackigen Schuhen an der Hand eines sehr gut aussehenden, in einen eleganten dreiteiligen Anzug gekleideten Mannes seine Pizzeria betrete, sollte ihm genug zu denken geben.
»Calzone?«, fragt er, während er zwei Bierdosen vor uns hinstellt, und ich nicke. Er mustert Adrian neugierig, der einfach dasselbe für sich bestellt und mich damit zum Grinsen bringt.
Wir passen in unserem Aufzug so gut in Antonios Plastikambiente wie ein Oscarpreisträger nach der Verleihung in einen McDonald‘s, aber es ist mir egal. Adrian wollte reden und etwas mit mir essen, und da Antonio noch geöffnet hat und in der Nähe meiner Wohnung liegt, erschien es mir passend. Jetzt frage ich mich, wann Adrian zuletzt eine Pizza in so einer Umgebung gegessen hat?
Offenbar liest er wieder in meinem Gesicht wie in einem Buch und spricht meine Grübeleien laut aus. »Mach dir keine Gedanken. Ich finde es großartig hier«, sagt er und greift über den Tisch, um meine Hand zu nehmen. Ich zucke nur kurz zusammen, lasse meine Finger aber dort, wo sie sind und beuge mich ein wenig vor, weil er leise spricht. »Danke, dass du wenigstens mit mir reden möchtest. Immerhin hat deine Abwesenheit dafür gesorgt, dass ich an einem wirklich guten Buch gearbeitet habe.«
»So?«, frage ich und ziehe eine Augenbraue hoch. »Du meinst damit hoffentlich nicht Fesselnde Liebe Teil 2?«
Er lacht rau. Wieder einmal bewundere ich das Grübchen in seiner Wange und die feinen Fältchen, die sich beim Lachen um seine Augen bilden. Er trägt einen sorgfältig gestutzten Kinnbart. Ich kann nicht anders als mir vorzustellen, wie der sich auf meinen Schenkeln anfühlen würde, wenn er ... oh Himmel, jetzt lässt mich auch noch mein Verstand im Stich und reagiert auf seinen Anblick genauso wie mein Körper! Das darf doch nicht wahr sein!
»Ich glaube, der Kummer deinetwegen hat mich zu Höchstleistungen getrieben. Du bist eine perfekte Muse, weißt du das?«
»Meinst du wirklich, dass Kunst nur durch Schmerz entsteht?«, frage ich.
Wir unterbrechen unser Gespräch nicht, als Antonio die Pizza bringt und geräuschvoll das in Papierservietten eingewickelte Besteck danebenlegt.
»Nicht nur. Aber Schmerz hilft, wenn man etwas Wahrhaftiges beschreiben möchte. Nur selbst erlebter Schmerz ist darstellbar, alles andere ist bestenfalls Kitsch. Oder Schund, wie du sagen würdest.«
Er zwinkert mir grinsend zu, dann reißt er beide Bierdosen auf und schiebt meine zu mir rüber. Obwohl ich keinen Appetit habe, muss ich etwas essen. Mein Magen ist verdammt leer, weil ich vor lauter Aufregung nur gefrühstückt habe. Auch Adrian beginnt, seine Pizza zu zerschneiden. In seinem Anzug, den er ohne Krawatte trägt, würde er besser in ein Szenerestaurant passen, aber so was gibt‘s hier in Newcastle gar nicht. Seltsamerweise fühle ich mich heute anders ihm gegenüber als in London. Nicht mehr eingeschüchtert. Vielleicht liegt es daran, dass wir uns in meinen Sphären befinden und er mich nicht durch ungewohnten Luxus und Dekadenz beeindrucken kann. Mir gefällt es jedenfalls, wir wirken fast normal. Abgesehen von unseren unpassenden Outfits.
Adrian lässt das Besteck sinken und sieht mir in die Augen. Kornblumenblau. Oh Gott. Mein Magen verschnürt sich wie von selbst, ich kriege kaum noch das Pizzastück runter, das ich gerade zerkaue.
»Kleines, ich würde meinen rechten Arm dafür geben, wenn du mit mir nach London kämest.«
Sehr witzig.
»Ohne den bist du nicht mehr wirklich arbeitsfähig«, sage ich und schlucke tapfer.
»Doch, das schon. Allerdings dürfte er mir bei anderen Aktivitäten sehr fehlen.« Er grinst, weil er mir die Auswirkung seiner Worte wahrscheinlich sofort ansieht.
Mein Gesicht glüht und mein Unterleib zieht schon wieder sehnsüchtig. Ja, ich weiß genau, wovon er spricht. Und ich wünsche mir ... ach du je, ich habe keine Ahnung, was ich mir wünsche! Außerdem will ich eigentlich immer noch sauer auf ihn sein, nach allem, was in London geschehen ist. Wir sehen uns lange an, sein Blick ist intensiv, als ob er vorhätte, den wahren Grund meiner Ablehnung zu erkunden. Was vermutlich stimmt.
»Bitte hör auf damit, Adrian. Ich kann nicht. Außerdem hat sich gerade eine neue berufliche Möglichkeit für mich ergeben, die ich auf keinen Fall ablehnen kann.«
»Ich habe nicht vor, aufzugeben, Gwen. Ich bin gewohnt zu kämpfen, wenn ich etwas will. Und in den letzten Jahren wollte ich nichts so sehr wie dich.«
Mein Herz scheint auf einmal eine Tonne zu wiegen. Ich schlucke und versuche, seinem Blick auszuweichen, als er erneut nach meinen Fingern greift. Großer Gott, wenn er nur nicht so unverschämt gut aussähe! Wenn nicht dieser perfekte Bogen seiner Augenbrauen wäre. Diese winzige Narbe am Auge. Das markante Kinn mit dem ordentlichen Bärtchen, und dazu Augen, die sich gerade in mich hinein bohren und mir den Atem nehmen.
»Warum kannst du uns nicht zulassen?« Er legt den Kopf auf die Seite, sein Gesichtsausdruck ist ernst. Ich sollte mich jetzt nicht mit Sarkasmus oder Ironie retten, nicht bei diesem Gespräch, das ahne ich.
»Du hast heute die Premiere eines kleinen Theaters in Newcastle gestört, um zu verhindern, dass ein anderer Mann mich küsst. Auf der Bühne, vor allen Leuten. Das ist nicht normal, Adrian, das ist krank! Du hast mich in London heimlich beobachtet, durch einen Spiegel. Auch das ist nicht gesund. Du willst mich gar nicht, du willst einfach jemanden, den du besitzen kannst. Und kontrollieren. Um dein schlechtes Gewissen zu heilen. Und ich bin höchst allergisch gegen alles, was mit Kontrolle zu tun hat.«
Er verzieht getroffen das Gesicht. »Ich brauche dich, Gwen. Ich lasse dir alle Freiheiten, die nötig sind, aber ich brauche dich bei mir. Ich will deinen Rat, aber vor allem, dass du bei mir bist. Ich bin nicht mehr ganz, wenn du nicht da bist.« Jetzt umklammert er meine Finger, beugt sich weiter über den Tisch zu mir. »Es tut mir sehr leid, was in London passiert ist. Deine Worte haben mich verletzt und ich habe lange darüber nachgedacht. Du hast mich falsch verstanden, weil du vieles nicht verstehst und dich davor verschließt, aber ich bin bereit, neu anzufangen und es diesmal besser zu machen.«
Ich nehme eine Haarsträhne und wickle sie mir um den Finger. Irgendwie muss ich meine freie Hand beruhigen. Schon sein Anblick macht mich kribbelig, und der Gedanke, was er heute getan hat, nur um mich zu beeindrucken ... oder mich zu kontrollieren? Was jemand aus Liebe tut, bewegt sich oft auf einem schmalen Grat zwischen Romantik und Wahnsinn. Was zunächst wie eine romantische Geste wirkt, kann plötzlich umschlagen in Stalking, in Starrsinn.
Trotzdem ... im Moment bin ich beeindruckt, geschmeichelt und vielleicht sogar verliebt, falls sich das so anfühlt. Ich bin jedenfalls so verwirrt wie nie und habe keine andere Erklärung dafür. Mein Herz zieht sich zusammen, sobald ich ihn anschaue. Mein Magen flattert, wenn ich in seine Augen sehe. Meine Finger zittern, sobald er mich berührt. Und jedes Wort von ihm löst eine Gänsehaut auf meinem Körper aus. Was zum Teufel ist das? Seine Präsenz hat schlimmere Auswirkungen auf mich als eine Droge! Warum kann ich nicht einfach vernünftig sein, ihn in die Wüste schicken und mein langweiliges Leben wiederhaben?
»Und falls du nicht Ja sagst, muss ich wohl endlich das Ass aus meinem Ärmel ziehen.«
»Ass im Ärmel?« Ich ziehe die Brauen hoch und sehe ihn fragend an. »Ich war mir sicher, dass du dich auf das Ass in deiner Hose verlassen wirst.« Durch meinen Unterleib fährt ein unmissverständliches Zucken. Ich verdränge die unzüchtigen Gedanken an das, was sich in seiner Hose befindet, und schlucke trocken.
»Ich werde nicht so leicht aufgeben, Kleines«, raunt er.
Der tiefe Blick aus den blauen Augen verstärkt das Zucken. Hastig presse ich meine Oberschenkel zusammen.
»Fliegst du heute zurück nach London?«, frage ich, um ihn abzulenken. Ich kann einfach nicht. Nicht, wenn er mir gegenübersitzt und mich ... so ansieht.
»Nein. Ich habe ein Zimmer im Malmaison gemietet.«
Das Boutique-Hotel an der Tyne-Brücke. Nett. Ich kenne es nur von außen, aber es ist wohl eins der schönsten Hotels in Newcastle. Jedenfalls muss der Blick über den Fluss bestimmt traumhaft sein.
»Leistest du mir noch Gesellschaft? Nur auf einen Drink?«
Er muss nicht mehr sagen als das. Ich weiß genau, was er meint. »Nein. Ich ... besser, ich gehe nach Hause.«
Seine Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben, aber ich bin stolz darauf, hart geblieben zu sein. So leicht lasse ich mich nicht rumkriegen, nicht mal von Adrian Moore, der wahrscheinlich jede Frau auf der Welt haben könnte, aber trotzdem verrückterweise hinter mir her ist.
»Dann erlaube mir wenigstens, dich zu begleiten. Ich möchte dich ungern nachts allein durch die Stadt laufen lassen.«
Ich muss lachen. »Ich wohne nur zwei Straßen weiter, aber gern.«
Er will zahlen, aber ich halte seine Hand fest und schüttle den Kopf. »Ich lade dich ein. Keine Widerrede.« Rashid grinst und schreibt unser Essen auf meine Rechnung, die ich wie immer am Monatsende begleichen werde.
Ich zupfe an meiner Unterlippe während des kurzen Spazierganges, auf dem wir kaum miteinander sprechen. Es ist nicht wirklich kalt, trotzdem hat er sein Sakko ausgezogen und es über meine Schultern gelegt. Es riecht nach ihm, ist schwer, viel zu warm und seltsam tröstend. Mein ganzer Körper summt wie elektrisiert, dann stehen wir vor dem dunkelroten Backsteinhaus. Unsere Fenster sind dunkel, also ist Cat nicht zu Hause.
»Tja, also ...«, sage ich und drehe mich lächelnd zu ihm um. Und schlucke.
Seine Augen glitzern im Schein der Außenbeleuchtung, die automatisch angesprungen ist. Mit einer raubtierhaft raschen Bewegung ist er bei mir, stützt seine Hände dicht neben meinem Kopf gegen die raue Hauswand, und dann verschließen seine Lippen meinen Mund. Ich keuche und will ihn abwehren, weil alles in mir dagegen ist, aber ich kann nicht. Zu weich, zu warm. Zu schön. Stattdessen schließe ich die Augen und lasse ihn zu.
Die Straße ist leer, Newcastle schläft. Als seine Hand unter das Sakko gleitet, seine Fingerspitzen kundig meine Brustwarzen finden und sanft an ihnen reiben, durchzuckt Erregung meinen Schoß. Ich kriege keine Luft, weil sein Kuss gieriger, intensiver wird. Und plötzlich ist seine Hand unter meinem Kleid, schiebt es nach oben. Reibt über meinen Schritt, über die zarte Spitze des Strings, den ich darunter trage. Mein Atem geht flacher, meine Hände machen sich selbstständig und ertasten die Härte in seiner Hose, fahren über die muskulöse Brust unter seinem Hemd. Wieder und wieder.
Sein Daumen kreist auf mir und entlockt mir ein leises Aufstöhnen. Neckisch, verspielt fährt er über meine empfindliche Perle und reizt sie. Ich bin feucht. Gott, so feucht. Dränge mich fester an ihn, ohne meine Lippen von seinen zu lösen, ohne die Zunge aus seinem Mund zu nehmen. Klammere mich an ihn wie eine Ertrinkende, reibe über seinen Schritt und fühle, wie er unter meinem Griff wächst und härter wird. Wie zwei Teenager stehen wir im inzwischen wieder dunklen Hauseingang und fummeln. Wir erkunden unsere Körper, als wäre es das erste Mal.
Plötzlich höre ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Bin wieder fünfzehn Jahre alt, heimlich verliebt und genauso knutschend in der Bushaltestelle vor unserem Haus. Genauso verschwitzt, verschämt. Ich spüre ihren harten Griff an meiner Schulter, die Ohrfeige, die mich aus der unschuldigen Erregung reißt, höre ihre Worte, ihre Beschimpfungen. Die Erinnerung wirkt wie eine kalte Dusche, die meinen Verstand aus dem Urlaub zurückholt und mir schmerzhaft klarmacht, warum das hier falsch ist. So falsch.
Mit einem Ruck ziehe ich meinen Kopf zurück, trenne unsere Münder voneinander und schiebe ihn von mir. Er lässt mich, sieht mich nur an, den Kopf auf die Seite gelegt, die vollen Lippen zu feinen Strichen zusammengepresst.
»Gwen, bitte ...«
»Ich kann nicht, Adrian«, sage ich, schwer atmend. Mein Herz stolpert in der Brust und ich muss mich mit der Hand im Türrahmen abstützen, weil meine Beine zittern. Mein Körper will ihn, verlangt nach ihm, und noch etwas anderes tief in mir sagt mir, dass ich nachgeben soll, aber noch ist mein Verstand mächtiger und warnt mich.
»Es tut mir leid«, murmle ich, es klingt wie ein Schluchzen. Dann stoße ich die Haustür auf und stürme ins dunkle Treppenhaus. Geräuschvoll schlage ich die Tür hinter mir zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend haste ich nach oben, fummle mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss und finde auch keine Ruhe, als ich schließlich allein im düsteren Flur stehe, ohne Licht zu machen. Mit pochenden Schläfen lehne ich den Kopf gegen die verschlossene Tür, dann fange ich an, mit meinen Fäusten dagegen zu trommeln.
»Scheiße! Verdammte, verfickte, verfluchte, unendliche Scheiße!«, brülle ich laut, und es erleichtert mich. Befreit mich. So sehr, dass ich den Tränen endlich freien Lauf lasse und an der Tür entlang nach unten rutsche, wo ich sitzen bleibe und hemmungslos in sein Sakko schluchze.