Große Erwartungen

Jackson wartete vor dem Krankenhaus, den Kragen gegen die Kälte hochgeschlagen. Sie ignorierte ihn und ging an ihm vorbei, und er streckte die Hand aus und fasste nach ihrer. Ihre Haut war kalt und trocken. Sie entriss sie ihm und ging weiter. Er folgte ihr.

»Es tut mir leid wegen deinem Jungen Marcus.«

 

Sie saßen in ihrem Wagen, und er hielt sie fest, während sie weinte. Als sie sich beruhigt hatte, schüttelte sie ihn ab, als wäre er ihr lästig, und putzte sich die Nase.

»Du weißt, dass wir sie gefunden haben?«, sagte Louise. »Oder?«

»Dr. Hunter? Ja, ich habe es gehört. Reggie hat’s mir gesagt.«

»Wie?«

»Sie hat mich angerufen.«

»Du hast kein Telefon.«

»Ja, das stimmt.«

»Willst du nicht einmal versuchen zu lügen?«, sagte sie. »Ich weiß, dass du mir was verheimlichst, es steht dir ins Gesicht geschrieben. Du bist ein schlechter Lügner.«

Was sollte er ihr erzählen? Dass er den Stift aus dem Auge des Mannes gezogen hatte, dass er das Messer in eine Mülltonne auf der Straße geworfen hatte, kurz bevor die Müllabfuhr kam? Dass er ein Haus in Brand gesteckt und einen Tatort zerstört und Beihilfe bei der Vertuschung eines zweifachen Mordes geleistet hatte? Sie war bei der Polizei, und er war es früher gewesen. Zwischen ihnen klaffte ein Abgrund, der nicht zu überbrücken war, weil er ihr nie die Wahrheit sagen konnte. Sie würde immer in seiner Vergangenheit bleiben, nie in seiner Zukunft sein.

»Du solltest nach Hause fahren, Louise.«

»Du auch.«

 

Er fuhr mit dem Bus. Er wusste nicht, warum er nicht früher daran gedacht hatte. Es war überraschend bequem, ein Nachtbus, der ihn praktischerweise bei Tagesanbruch in Heathrow absetzte. Seine Odyssee war endlich vorbei. Er trank einen Kaffee und wartete darauf, dass seine Frau landete.

 

Laut Anzeigetafel im Terminal 3 sollte Flug VS 022 vor zwanzig Minuten in Heathrow gelandet sein. Es dauerte eine Weile, einen riesigen Vogel wie den Airbus A-340 zu entleeren, und dann mussten sich die Fluggäste natürlich einer weiteren Prüfung unterziehen und ihr Gepäck holen, deswegen hatte Jackson auf Warten geschaltet, ein nichtreflektiver zenähnlicher Zustand, den er sich als Privatdetektiv angeeignet hatte, in endlosen Stunden, die er im Auto saß und darauf wartete, dass vermisste Ehemänner oder fremdgehende Ehefrauen auf seinem Radar aufkreuzten.

Am Ausgang des Gates standen massenhaft Leute, um Passagiere abzuholen. Jackson hatte noch nie so ein Sortiment Nationalitäten an einem Ort gesehen, jedenfalls nicht so gut Gelaunte, insbesondere angesichts der frühen Stunde. Eine Reihe wesentlich weniger enthusiastischer Chauffeure hatte am Rand der Menge Stellung bezogen, ausgestattet mit Firmenschildern oder Zetteln mit handgeschriebenen Namen. Technisch gesehen, gehörte Jackson zur ersten Gruppe, doch er identifizierte sich mit seinen Brüdern von der zweiten.

Seit mehreren Minuten passierte nichts, und unter den Wartenden machte sich eine leise Aufregung breit, und als sich die automatischen Türen plötzlich zischend öffneten, war sie mit Händen zu greifen – die ersten Passagiere kamen heraus. Erste-Klasse-Geschäftsleute in Anzügen und mit Kabinengepäck, heroisch gleichgültig gegenüber den wartenden Menschen.

»Kommen Sie aus Washington?«, fragte Jackson einen genervten Mann, der murmelnd bejahte, als könnte er nicht glauben, dass ihn ein Fremder so früh am Morgen ansprach.

Ein paar Minuten später wälzte sich ein beständiger Strom von Ankömmlingen durch die Türen und wurde von der Ankunftshalle absorbiert. Nach einer Weile dünnte der Strom aus, bis sich nur noch erschöpfte Familien mit Kindern und Babys herauskämpften. Die Rollstühle bildeten das Ende.

Seine Frau war nirgendwo zu sehen.

 

Dafür gab es natürlich mehrere Erklärungen. Ihr Gepäck konnte verlorengegangen sein, und sie füllte noch immer die entsprechenden Formulare aus. Oder sie war beim Zoll oder an der Passkontrolle aufgehalten worden, für eine Überprüfung oder aus Versehen. Jackson war einmal stundenlang festgehalten worden, weil sich die Beschichtung in seinem abgenutzten Pass löste. Er wartete weitere zwanzig Minuten, diesmal nicht mit buddhistischer Geduld, sondern mit hirtenhundgleicher Aufregung.

Sie musste den Flug versäumt haben, sagte er sich. Sie hatte ihm wahrscheinlich eine SMS geschickt oder ihn angerufen. Vielleicht hatte Andrew Decker eine frohgemute Nachricht auf seinem BlackBerry gelesen (Musste Flug umbuchen oder Wurde rausgeschmissen! Komme mit dem nächsten Flug).

Vielleicht hatte er sich mit dem Flug getäuscht, sein Gehirn war bei dem Zugunglück durcheinandergeraten, Hackfleisch im Hirn, hatte Louise gesagt.

Er versuchte Tessa an einem Münztelefon anzurufen, aber er hatte kaum Münzen, Reggies Geld war nahezu vollständig für die Busfahrt draufgegangen.

Schließlich machte er sich auf die Suche nach jemandem von der Fluglinie, und eine Frau (»Lesley«), gekleidet in eine Uniform, in der sie in einem Kessel Heinz-Tomatensuppe hätte ertrinken können, ohne dass es jemand gemerkt hätte, setzte ihn davon in Kenntnis, dass niemand namens Tessa Webb auf der Passagierliste stand.

»Dann hat sie den Flug verpasst«, sagte Jackson.

»Sie war nicht auf diesen Flug gebucht«, sagte Lesley und starrte auf den Bildschirm. »Auch nicht auf einen anderen Flug. Wir haben überhaupt niemanden mit diesem Namen in unserem Computer.«

Vielleicht hatte sie ihm die falsche Fluglinie genannt, er hatte ihr Ticket nicht gesehen, vielleicht war sie mit British Airways und nicht mit Virgin geflogen. Die Frau bei BA schien nicht wild darauf, mit ihm zu sprechen – vielleicht wegen der Prellungen oder der Schlinge oder seines allgemein verzweifelten Ausdrucks, es gab viele Gründe, nichts mit ihm zu tun haben zu wollen –, aber sie sagte, dass der nächste Flug von Dulles in einer Stunde landen würde. Er wartete darauf. Keine Tessa. Er wartete den ganzen Morgen, bis er aufgab, mit dem Heathrow Express nach Paddington fuhr und dann zu Fuß bis nach Covent Garden ging. Schließlich hatte er nichts anderes zu tun.

Mit Reggies letztem Geld kaufte er eine Tüte Croissants. Er freute sich auf eine gute Tasse Kaffee aus seiner Industriemaschine. Er hatte keinen guten Kaffee mehr getrunken, seitdem er am Mittwochmorgen aufgebrochen war.

Was er nicht bedacht hatte, was ihm jetzt vollkommen logisch erschien, war, dass Tessa mit einem früheren Flug gekommen war, vielleicht schon gestern, und sich keinen Reim darauf machen konnte, dass er nicht zu Hause war. Er redete sich diese Sichtweise so sehr ein, dass er optimistisch pfiff, als er die Treppe zu ihrem kleinen Horst hinaufstieg (»Liebesnest« hatte er es einmal genannt, und sie hatte laut herausgelacht über seine Sentimentalität oder das Klischee, er wusste es nicht).

Er klopfte laut an die Tür. Er hatte natürlich keinen Schlüssel, aber seine Frau war zu Hause, wozu brauchte er einen Schlüssel? Sie schlief ihren Jetlag aus. Sie schlief tief und fest. Oder sie war kurz weggegangen, um eine Tüte mit Croissants zu kaufen. Frischen Kaffee für ihren Geliebten, mit dem sie ihn in ihrem Nest der Liebe überraschen würde. Unserer Häuser Balken sind aus Zedern, unser Getäfel Zypressen.

Verdammt noch mal, wo war sie?

Ohne dass der Nachbar, der unter ihnen wohnte, etwas davon wusste, bewahrte Jackson einen Ersatzschlüssel auf seinem Türsturz auf. Ein Dieb mochte dort nach einem Schlüssel suchen, aber er begriff wahrscheinlich nicht, dass er für eine andere Tür war. Im Allgemeinen waren Diebe opportunistisch und dumm. Er dachte an den Schlüssel für den Prius hinter der Dose Umwölkte Perle. In einem anderen Leben wäre es ein guter Name für Joanna Hunter gewesen. Ein unerforschliches chinesisches Leben. Sie sagte, dass sie die beiden Männer, die sie in dem Haus festhielten, umgebracht hatte, weil sie vorhatten, sie und das Baby umzubringen, aber er war sich nicht sicher. Sie wäre mit Notwehr davongekommen, davon war er überzeugt, doch in dem Haus hatte ein Blutbad stattgefunden, sie wäre berüchtigt gewesen. Für den Rest ihres Lebens wäre sie die Frau, die ihre Entführer getötet hatte, und das Baby wäre der Sohn dieser Frau. Er verstand sie. Sie war dreißig Jahre lang vor einem Alptraum davongelaufen, nur um schnurstracks in den nächsten zu stürzen.

 

Er war erleichtert, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Er drehte ihn und war zu Hause. Endlich.

Keine Spur von Tessa. Kein Becher mit frischem Kaffee auf dem Tisch. Keine Croissants. Wo ist denn deine Freundin hingegangen?

 

Er roch es, bevor er es sah. Kein Kaffee, so viel stand fest. Es war mindestens einen Tag alt, dem Schlachthofgeruch nach zu urteilen. Nicht ein »Es«, ein Mann. Eine Pistole lag neben seinen Füßen, eine russische – Makarow oder Tokarow, er erinnerte sich nicht –, am Golf gab es eine Menge davon, viele Männer hatten sie als Trophäe nach Hause mitgenommen. Vielleicht war er ein Exsoldat, wollte auf saubere Weise allem ein Ende setzen und blies sich die Schädeldecke weg. Nein, nicht sauber, das Gegenteil. Überall Blut, Gehirn, anderes Zeug, er schaute nicht allzu genau hin, wollte den Tatort nicht verunreinigen. Er hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden einen Tatort zerstört, diesen sollte er wahrscheinlich bewahren.

Da der Großteil seines Kopfes fehlte, konnte Jackson nur schwer beurteilen, ob er den Mann kannte. Der Anzug kam ihm bekannt vor, sah sehr nach dem schlaffen Anzug aus, der im Zug neben ihm gesessen hatte, ein Allerweltstyp. Fremder oder nicht, warum brach jemand hier ein und brachte sich um? Jackson war den Anblick von Leichen gewohnt, er hatte in seinem Leben nicht wenige gesehen, was er nicht gewohnt war, war, sie bei sich zu Hause zu finden. Es war nicht eingebrochen worden, Türen und Fenster waren nicht gewaltsam geöffnet worden.

Vorsichtig und darauf bedacht, nicht in Blut zu treten, näherte sich Jackson der Leiche und zog mit Daumen und Zeigefinger eine Brieftasche aus der Innentasche der Jacke des Toten. Es befanden sich zwei vertraute Fotos und ein Führerschein darin. Er betrachtete das Foto auf dem Führerschein. Er hatte es nie gemocht, er war nicht fotogen, aber auf dem Führerscheinfoto sah er wie ein Kriegsflüchtling aus. Er war versucht, auch die anderen Taschen des Mannes abzusuchen, aber er widerstand. Auf dem Führerschein stand es schwarz auf weiß – der Mann hieß Jackson Brodie.

Er überlegte, ob er Louise anrufen und ihr mitteilen sollte, dass Andrew Decker nicht mehr durch die Gegend lief, aber schließlich wählte er nur die Notrufnummer.

 

Während er auf seine neuen Kreditkarten wartete, bat er Josie, ihm Geld zu leihen und es online auf sein Konto zu überweisen (Was hast du jetzt wieder getan, Jackson?). Wenn er an seinen Pass gekommen wäre, hätte er zur Bank gehen und Geld abheben können, aber sein Pass befand sich in der Wohnung, und in die Wohnung durfte er erst wieder, wenn die Polizei sie freigab. »Potenzieller Tatort«, sagte ein Kriminalpolizist. »Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass es Selbstmord war.« – »Ja«, sagte Jackson. »Ich war früher Polizist.«

 

Bevor er sich an Josie wandte, hatte er Julia angerufen, aber sie interessierte sich nicht für seine missliche Lage. Ihre Schwester Amelia war am Mittwoch auf dem Operationstisch gestorben. (»Komplikationen«, schluchzte sie. »Auf Amelia ist Verlass.«)

Das Geld reichte für die nächsten paar Tage. Er ging in ein billiges Hotel nahe King’s Cross, während die Wohnung in Covent Garden ein Tatort war, nicht dass er daran dachte, dort wieder einzuziehen. Er konnte sich nicht vorstellen, sich in einem Zimmer, in dem sich jemand buchstäblich das Gehirn herausgeblasen hatte, auf dem Sofa auszustrecken und eine Dose Bier zu trinken.

Das Hotel war eine Absteige. Letztes Jahr zur gleichen Zeit wohnte er mit Marlee im Le Meurice, machte Weihnachtseinkäufe in Paris, schlenderte abends zu den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern der Galeries Lafayette. Jetzt lebte er in einem Flohzirkus. Wie sind die Helden gefallen.

 

Am Montagmorgen ging er ins Britische Museum.

Eine Tessa Webb war dort nicht bekannt. »Sie ist Kuratorin«, beharrte er. »In der assyrischen Abteilung.« Keine Tessa Webb, keine Tessa Brodie. Keine Konferenz in Washington, von der jemand wusste.

Ein Typ namens Nick, der bis vor kurzem für Bernie gearbeitet hatte, ein ehemaliger Informatiker bei der Londoner Polizei, schuldete ihm noch einen Gefallen. Bernie selbst war verreist.

Nick berichtete, dass nie eine Tessa Webb auf die Mädchenschule St. Paul’s oder aufs Keble College, Oxford, gegangen war, es gab keine Sozialversicherungsunterlagen auf diesen Namen, keinen Führerschein. Jackson fragte sich, wie die Polizei reagieren würde, wenn er seine verlorene Frau vermisst melden würde. Und wie meldete man jemand als vermisst, der überhaupt nie existiert zu haben schien?

 

Der verantwortliche Beamte sagte: »Die Autopsie ist beendet, der Pathologe ist sich zu hundert Prozent sicher, dass Decker sich selbst umgebracht hat.«

»In meiner Wohnung?«

»Irgendwo musste er es tun. Er hatte Ihre Schlüssel und Ihre Adresse. Vielleicht hat er sich auf irgendeine Weise mit Ihnen identifiziert. Wir haben keine Ahnung, woher er die Pistole hatte, aber er hatte während der letzten dreißig Jahre Umgang mit Verbrechern, es wird nicht sonderlich schwierig gewesen sein.«

 

Am Dienstag durfte er wieder in die Wohnung in Covent Garden. Er holte seinen Pass und ging zur Bank, um Geld abzuheben, nur um festzustellen, dass er keins hatte. Dito seine Wertpapiere.

»Mann, das ist eine clevere Puppe, deine sogenannte Frau«, sagte Nick bewundernd. »Sie hat deine Konten leer geräumt und alles auf andere unauffindbare Konten einbezahlt. Raffiniert, wirklich raffiniert.«

Tessa weg, Geld weg, Bernie weg. Es war alles ein großes abgekartetes Spiel gewesen, von der ersten »zufälligen« Begegnung in der Regent Street an. Gemeinsam hatten sie eine Person entworfen, zu der er sich hingezogen fühlte – wie sie aussah, wie sie sich verhielt, was sie sagte –, und er war darauf hereingefallen wie der größte Idiot. Es war ein perfekter Schwindel gewesen und er das perfekte Opfer.

Er war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Und schließlich hatte er das Geld nie verdient, und jetzt besaß es jemand anders, der es nicht verdiente.