Zuflucht

Sadie stellte die Ohren auf. Der Hund hörte Dr. Hunters Wagen immer lange vor Reggie. Er drückte seine Aufregung mit einem winzigen Wedeln der Schwanzspitze aus, aber wenn Reggie sie berührte, stand Sadies gesamter Körper vor Vorfreude wie unter Strom. Das Baby auch. Wenn es Dr. Hunter die Küche betreten sah, spürte Reggie, wie die Aufregung seinen soliden Torso durchfuhr, als es sich darauf vorbereitete, sich in die Luft zu katapultieren, die kleinen dicken Arme seiner Mutter entgegengestreckt.

»Hoppla, Cowboy, immer mit der Ruhe.« Dr. Hunter nahm ihn lachend in die Arme und drückte ihn fest an sich. Dr. Hunter hatte einen Schwall eisiger Luft mitgebracht. Sie trug wie üblich ihre teure Mulberry-Tasche (Die Bayswater – ist sie nicht schön, Reggie?), die Mr. Hunter ihr im September zum Geburtstag geschenkt hatte, und über dem Arm hing in Plastik gehüllt eins ihrer schwarzen Kostüme – sie hatte drei identische Kostüme, eines trug sie, eins hing im Schrank, eins war in der Reinigung.

»Quelle horreur«, sagte sie und zitterte theatralisch. »Still und starr ruht der See. Es ist eiskalt draußen.«

»Baltisch«, sagte Reggie.

»Es weht der Wind aus dem Norden, für Schnee wird er sorgen, was wird das Rotkehlchen dann tun, das arme Ding?«

»Es wird in der Scheune sich verstecken, den Kopf mit dem Flügel bedecken, das arme Ding, Dr. H.«

»Ist hier alles in Ordnung, Reggie?«

»Total, Dr. H.«

»Wie geht’s meinem Schatz?«, fragte Dr. Hunter und schnüffelte am Nacken des Babys (»Er ist essbar, meinst du nicht auch?«), und Reggie spürte etwas im Herzen, einen kleinen Schmerz, und sie wusste nicht genau warum, aber sie dachte, es wäre traurig (ja, sehr traurig), dass niemand sich an die Zeit als Baby erinnern konnte. Was hätte Reggie nicht dafür gegeben, wieder ein Baby zu sein, umschlungen von Mums Armen. Oder Dr. Hunters Armen. Von irgendjemandes Armen eigentlich. Außer Billys natürlich.

»Es ist so traurig, dass er sich nicht daran erinnern wird«, sagte sie zu Dr. Hunter. (War Dr. Hunters Traurigkeit irgendwie ansteckend?)

»Manchmal ist es gut zu vergessen«, sagte Dr. Hunter. »Wildschweinkinder leben herrlich, wühlen stets in Sumpf und Moor, und die liebe Wildschweinmutter macht es ihnen vor.«

Reggies Mutter hatte gern umarmt und geküsst. Vor Gary und vor dem Mann-der-vor-Gary-kam saßen sie abends auf dem Sofa, aneinander geschmiegt, sahen fern, aßen Kartoffelchips oder geliefertes Essen. Reggie schlang den Arm um Mums Taille und spürte die behagliche Speckrolle, die ihre Mitte umspannte, und ihren weichen Bauch (»Mein Schwabbelbauch«, sagte Mum dazu). Das war es – Reggie erinnerte sich am liebsten daran, wie sie gemeinsam ER gesehen und Hähnchen Chow-mein gegessen hatten und sie dabei den Schwimmreifen ihrer Mutter spürte. Es war ein bisschen Pipifax, wenn man darüber nachdachte. Man sollte hoffen, dass zwei so verbundene Leben sich zu mehr summieren würden. Reggie stellte sich vor, dass Dr. Hunter und ihr Sohn sich wahrhaft erstaunliche Erinnerungen verschaffen würden, sie würden den Amazonas in einem Kanu befahren, die Alpen erklimmen, in die Oper in Covent Garden gehen, Shakespeare in Stratford sehen, den Frühling in Paris und Silvester in Wien verbringen, und Dr. Hunter hinterließe kein Fotoalbum, in dem sie sich überhaupt nicht ähnlich sah. Der Gedanke, dass das Baby zu einem Jungen und dann zu einem Mann würde, war komisch. Es war einfach nur ein Baby.

»Mein kleiner Prinz«, gurrte Dr. Hunter das Baby an.

»Wir sind alle Könige und Königinnen, Dr. H.«, sagte Reggie.

 

»Ist Neil schon da?«

»Mr. Hunter? Nein.«

»Er muss babysitten, hoffentlich hat er es nicht vergessen. Ich gehe mit Sheila zu Jenners, heute ist Weihnachtseinkaufabend. Du weißt schon – ein Glas Wein gratis, Plätzchen, die Leute singen Weihnachtslieder, all so was. Warum kommst du nicht mit, Reggie? Ach, nein, heute ist ja Mittwoch. Du musst zu deiner Freundin.«

»Ms MacDonald ist nicht meine Freundin«, sagte Reggie. »Gott bewahre.«

 

Dr. Hunter brachte Reggie immer mit dem Baby auf dem Arm zur Tür und sah ihr nach. Sie versuchte dem Baby beizubringen, zum Abschied zu winken, und bewegte seinen Arm, als wäre es die Puppe eines Bauchredners, und sagte immer wieder (mehr zum Baby als zu Reggie): »Tschüss, Reggie, tschüss.« Sadie, die neben Dr. Hunter saß, trommelte zum Abschied mit dem Schwanz auf die Fliesen.

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Reggie versucht, sich an die letzten gemeinsamen Momente zu erinnern. Ohne Hilfe des Taxifahrers hatten sie zu zweit den riesigen, hässlichen Koffer in den Wagen gehievt, einen Koffer, der vollgestopft war mit billigen knappen Oberteilen und dünnen Baumwollhosen und dem peinlich kleinen Badeanzug aus schrecklichem orangefarbenem Lycra, der schließlich das letzte Kleidungsstück war, das sie trug, abgesehen von dem Leichentuch, in dem sie begraben wurde (weil sich in ihrer Garderobe nichts fand, was für die Ewigkeit geeignet schien).

Reggie konnte sich nicht an den Ausdruck ihrer Mutter erinnern, als sie in den Urlaub aufbrach, aber sie nahm an, dass er hoffnungsvoll gewesen war.

Ebenso wenig erinnerte sie sich an ihre letzten Worte, obwohl ein »Auf Wiedersehen« bestimmt darunter gewesen war. Normalerweise verabschiedete sie sich mit einem »Bin gleich zurück«. Je reviens. Reggie betrachtete ihren Aufbruch als die erste Hälfte von etwas, was nie vervollständigt wurde. Die zweite Hälfte hätte sich in umgekehrter Reihenfolge abspielen sollen, vale atque ave, Mum am Flughafen, Mum im Flugzeug, Mum landete in Edinburgh, stieg in ein Taxi, fuhr vor der Tür vor, stieg aus – braun gebrannt und wahrscheinlich fülliger – und sagte: »Hallo.« Aber das ereignete sich nie, Bin gleich zurück, ein nicht erfülltes Versprechen. Ihre letzten Worte, und sie waren eine Lüge.

Reggie erinnerte sich, dass sie gewunken hatte, als das Taxi losfuhr, aber hatte sich ihre Mutter umgewandt und ebenfalls gewunken, oder hatte sie an ihrem Koffer herumgefummelt? Die Erinnerung war trübe, halb erfunden, die fehlenden Teile vorgestellt. Jedes Mal, wenn sich eine Person von einer anderen verabschiedete, sollten sie wirklich achtsam sein für den Fall, dass es das letzte Mal war. Erste Dinge waren gut, letzte nicht so sehr.

Dr. Hunter wurde von der Tür eingerahmt, wie ein Porträt, das Baby langte nach ihrem Haar, der Hund blickte hingebungsvoll zu ihr auf. Unter ihrem Kostüm trug sie ein weißes T-Shirt, dazu wie gewöhnlich schwarze Schuhe mit flachem Absatz und eine feine Strumpfhose, eine schmale Perlenkette und passende Stecker in den Ohren. Reggie sah auch das Baby in seinem kleinen Matrosenanzug, den Mund mit dem Daumen zugestöpselt, das Stück grüne Decke in derselben Hand, mit der es sich an Dr. Hunters Haar klammerte.

Und dann wandte Dr. Hunter sich ab und ging zurück ins Haus.

 

Reggie stand an der Bushaltestelle und las in Große Erwartungen, als sie eine Hand in ihrem Nacken spürte, und bevor sie schreien konnte, stieß ihr jemand etwas Hartes in den unteren Rücken und flüsterte ihr ins Ohr: »Keinen Ton, ich habe eine Knarre.«

»Okay«, flüsterte Reggie. Sie tastete in ihrem Rücken nach der »Waffe«. »Eine Rolle Trebor Mints?«, sagte Reggie sarkastisch. »Mann, hab ich Angst.«

»Extra scharf«, sagte Billy und grinste.

»Ha, beschissenes Ha.« In Dr. Hunters Haus benutzte Reggie nie Kraftausdrücke. Sowohl Reggie als auch Dr. Hunter (die behauptete, dass sie früher »geflucht habe wie ein Landser«) gebrauchten harmlose Ersatzworte, improvisierten Unsinn – Zucker, Sprudel, Strandschnecke, Tassen und Untertassen –, aber der Anblick ihres Bruders verdiente mehr als ein »Heiliger Strohsack, hilf mir«. Reggie seufzte. Wenn Mum die Gelegenheit gehabt hätte, ein paar letzte Worte zu Reggie zu sagen, dann wären es, davon war sie überzeugt, »Pass auf deinen Bruder auf« gewesen. Reggie konnte sich noch daran erinnern, als sie beide Kinder gewesen waren und Billy ihr Held und Beschützer, jemand, zu dem sie aufgeblickt und auf den sie sich verlassen hatte, jemand, der auf sie aufgepasst hatte. Sie konnte ihre Erinnerungen an Billy nicht verleugnen, obwohl Billy sie jeden Tag verleugnete.

Billy war neunzehn, drei Jahre älter als Reggie, und obwohl er sich nicht wirklich an ihren Vater erinnerte, hatte er zumindest Fotos von sich und ihm, die bewiesen, dass sie beide zur gleichen Zeit auf diesem Planeten existiert hatten. Auf den meisten Bildern hielt Billy etwas aus seinem Spielzeugarsenal – Plastikschwerter, Space Guns, Pfeil und Bogen. Als er älter wurde, waren es Luftgewehre und Taschenmesser. Nur Gott wusste, worauf er jetzt stand, Raketenwerfer wahrscheinlich.

Reggie vermutete, dass er die Liebe zu Waffen von ihrem Vater hatte. Mum hatte ein paar verblasste Fotos von ihrem Soldaten-Mann mit seinen Kameraden in der Wüste, alle mit ihren großen Gewehren in der Hand. Als er Heimaturlaub hatte, schmuggelte er ein »Souvenir« nach Hause, eine große hässliche russische Pistole, die Mum in einer Schachtel oben in der Ablage ihres Kleiderschranks aufbewahrte in dem absurden Glauben, Billy würde sie dort nicht finden. Sie wusste nicht, wie sie sie loswerden sollte. »Ich kann sie doch nicht in die Mülltonne werfen, ein Kind könnte sie finden.« Sie konnte sie auch nicht bei der Polizei abliefern, denn obschon sie eine gesetzestreue Person war, hatte Mum eine Abneigung gegen die Polizei, nicht nur weil sie wegen Billy immer an die Tür klopften, sondern weil sie aus Blairgowrie war, ein Mädchen vom Lande, und ihr Vater hatte offenbar ein bisschen gewildert.

Es war kein Zufall, dass Billy und die Pistole am selben Tag aus dem Haus verschwanden. »Makarow«, sagte er stolz, fuchtelte damit herum und erschreckte Reggie zu Tode. »Sag Mum nichts davon.«

»Herrgott, Billy, wir leben nicht im Wilden Westen«, sagte Reggie, und er sagte: »Doch, das tun wir.« Sie fragte sich, warum er nicht gleich zur Armee ging, dort hätte er alle Waffen, die er sich nur wünschte. Er bekäme Geld als Gegenleistung, und die Waffen wären umsonst.

Dass Billy sich in so großer Nähe von Dr. Hunters Haus aufhielt, beunruhigte sie. Ein paarmal war er vor Ms MacDonalds Haus in Musselburgh aufgetaucht und hatte angeboten, sie nach Hause zu fahren. (Er hatte immer ein Auto. Immer ein anderes.) Ms MacDonald bat ihn in die Wohnung, aber nur weil sie ihn religiös indoktrinieren wollte und er ein verstopftes U-Rohr reparieren sollte. Billy war so ganz und gar nicht die Person, die man um Reparaturdienste bitten sollte, obwohl er die Accessoires (neues Wort) mochte – Hämmer, Teppichmesser, Bohrmaschinen –, doch nicht auf gute Weise. Es war komisch, weil er in einem anderen Leben, auf einem anderen Weg Talent für solche Dinge gehabt hätte. Er war wirklich gut mit den Händen, als er noch ein Junge war. Bevor alles schieflief, verbrachte er Stunden damit, Airfix-Teile penibel zusammenzukleben, und sein Werklehrer meinte, dass er eine Zukunft als Tischler hätte, wenn er wollte. Das war, bevor er Löcher in alle Werkbänke bohrte und das Pult des Lehrers zersägte.

Jeder, der Billy heutzutage noch umdrehen könnte, wäre ein Wundertäter. Es war Reggie peinlich gewesen, wie er durch Ms MacDonalds unordentliches, vollgestopftes Haus stolzierte und mit dem Finger über die staubigen Bücher fuhr, als wäre er jemand, der sich mit Sauberkeit auskannte, was er definitiv nicht tat. Reggie hatte der durchtriebene Blick ihres Bruders nicht gefallen, sie kannte ihn nur zu gut. Als Kind hatte der Blick Ungezogenheit bedeutet, jetzt bedeutete er Ärger.

Reggie sorgte sich, dass Billy eines Tages vor Dr. Hunters Haus vorfahren würde, um sie abzuholen, und sie müsste ihn Dr. Hunter vorstellen. Sie wusste genau, wie seine verkniffenen, frettchenhaften Züge angesichts der vielen schönen Sachen im Haus der Hunters aufhellen würden. Oder noch schlimmer, dass er auf ebensolche Weise auf Dr. Hunter selbst reagieren würde. Reggie glaubte, dass sie ihn verleugnen müsste (Er ist nicht mein Bruder. Ich weiß nicht, wer er ist). »Fleisch und Blut«, hörte sie Mum sagen. Fauliges Fleisch.

»Was machst du hier, Billy?«

»Dies und das.« Er zuckte die Achseln. (Das war Billy, dies und das, alles und nichts.) »Es ist ein freies Land, oder? Als ich das letzte Mal in diesem Teil von Edinburgh war, habe ich keinen Pass gebraucht.«

»Ich traue dir nicht, Billy.«

»Was immer.«

»Quidquid.« Ha.

»Was?«

Als der Bus kam, machte Billy ein großes Theater daraus, ihr in den Bus zu helfen, als wäre er ein Lakai, der einer Prinzessin in die Kutsche hilft, zog einen imaginären Hut und sagte: »Bis dann, möchte nicht in deiner Haut stecken«, bevor er die Straße entlangschlenderte.

Horch! Horch! Die Hunde bellen, die Bettler kommen in die Stadt.