Dr. Foster ging nach Gloucester
Wählte einen Weg quer durchs Tal. Ging grad übern Bach, als der Steg plötzlich brach. Wählte den Weg nicht noch mal.‹ Das sagen sie bestimmt dauernd zu ihr.«
»Zu wem?«
»Dr. Foster.«
»Bestimmt nicht«, sagte Jackson Brodie.
Sie hatte ihn endlich gefunden, und jetzt hielt sie treu Wache an seinem Bett, Greyfriars Reggie.
Wie Kriminalhauptkommissarin Monroe schien auch Dr. Foster Reggie nicht wirklich zu glauben, als sie erzählte, dass sie Jackson Brodie das Leben gerettet hatte.
»Wirklich?«, sagte Dr. Foster sarkastisch. »Ich dachte, dass hätten wir hier im Krankenhaus getan.« Sie schien genervt von Reggies Fragen zu Jackson Brodies Zustand. »Wer bist du?«, fragte Dr. Foster rundheraus. »Bist du eine Verwandte? Ich kann nur gegenüber nahen Verwandten Auskunft über seinen Gesundheitszustand geben.«
Gute Frage. Wer war sie? Sie war die berühmte Reggie, sie war Regina Chase, Detektivin, sie war die Virgo Regina, die sturmgeschüttelte Königin der beherzten verlassenen Waisen. »Ich bin seine Tochter Marlee«, sagte Reggie.
Dr. Foster runzelte die Stirn. Dr. Foster runzelte immer die Stirn, wenn sie etwas sagte, und ziemlich oft, wenn sie schwieg. Sie sollte an die Falten denken, die sie in ein paar Jahren haben würde. Mum machte sich immer Sorgen um Falten. Eine Weile lang war sie abends wie ein Unfallopfer mit hochgebundenem Kinn ins Bett gegangen.
»Du bist die Erste, an die er sich erinnert hat«, sagte Dr. Foster.
»Das ist nett.«
»Bleib nicht so lange, er muss sich ausruhen.«
Man sollte denken, dass sie nach einem Ausweis fragen würden, nach einem Beweis, dass sie war, wer sie behauptete zu sein. Sie konnte jeder sein. Sie konnte Billy sein. Nur gut, dass sie bloß Reggie war.
Er hatte ein eigenes kleines Zimmer. Als sie nach ihm suchte, hatte sie Angst, sie würde ihn nicht erkennen, aber sie erkannte ihn. Er sah hagerer aus, aber weniger tot. Ein nicht angerührtes Frühstück stand auf einem Tablett. Es schien eine schreckliche Verschwendung von Essen für jemanden, der zwei Tage in Folge Karamellwaffeln gefrühstückt hatte. Heute Morgen brauchte Reggie schlaftrunken eine Weile, bis sie begriff, dass sie auf Ms MacDonalds unbequemem Sofa geschlafen hatte und dass der Krach, der sie geweckt hatte, von dem schweren Gerät am Gleis stammte. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder von ihrem eigenen Wecker in ihrem eigenen Bett geweckt würde. Zu einer von ihr festgesetzten Zeit.
Der Becher, aus dem sie den Instantkaffee trank, hatte eine Aufschrift, die für diese frühe Morgenstunde zu kompliziert war. (»Kaufurkunde. Das ewige Leben voll bezahlt mit dem Blut von Jesus Christus.«) Dann rief sie im Krankenhaus an, und – Abrakadabra – sie hatten ihn gefunden.
Er schlief, und eine Schwester kam herein, kontrollierte seinen Tropf und sagte laut: »Sie haben Besuch. Man hat Sie doch nicht vergessen. Er ist noch ein bisschen benommen vom Unfall«, sagte sie zu Reggie. »Er wird bald aufwachen.«
Reggie saß geduldig auf einem Stuhl neben seinem Bett und beobachtete ihn. Sie hatte schließlich nichts anderes zu tun. Er war alt genug, um ihr Vater zu sein. »Dad«, sagte sie versuchsweise, aber er wachte nicht auf. Nie zuvor hatte sie dieses Wort zu jemandem gesagt. Es fühlte sich an wie ein Wort in einer fremden Sprache. Pater.
Er war Kriminalpolizist. (»Früher«, murmelte er.) Er war früher auch Soldat gewesen. Was tat er jetzt?
»Dies und das.« Alles und nichts.
Sie zog einen Zehn-Pfund-Geldschein aus dem festen Bündel, das ihr der knauserige Mr. Hunter gestern gegeben hatte. Sie legte ihn auf seinen Nachttisch. »Falls Sie was brauchen«, sagte sie. »Sie wissen schon, Schokolade oder eine Zeitung.«
»Ich geb’s dir zurück«, sagte er.
Reggie fragte sich, wie er das bewerkstelligen wollte. Er hatte kein Geld, keinen Penny. Er hatte keine Brieftasche, keine Kreditkarten, kein Telefon, überhaupt nichts. Er hatte gerade erst seinen Namen zurückbekommen (»Ja, wir hatten Probleme, deinen Vater zu identifizieren«, sagte Dr. Foster). Kein Wunder, dass das Krankenhaus keine Akte über ihn hatte, als sie das erste Mal anrief, er war mit jemand anderem verwechselt worden. Wie Reggie hatte er gar nichts mehr. Reggie hatte jetzt zumindest eine Topshop-Tüte mit Kleidung. Und einen Hund.
»Ich dachte, Sie wären gestorben«, sagte sie zu ihm.
»Ich auch«, sagte er.
Reggie hatte den Hund in der Nähe des Taxistands friedlich auf der Grasfläche vor dem Krankenhaus liegen lassen. Auf ein Blatt Papier schrieb sie, Das ist kein streunender Hund, seine Besitzerin macht einen Besuch im Krankenhaus, sie steckte es unter sein Halsband für den Fall, dass jemand beschloss, den Tierschutzverein zu rufen. Wohin man auch ging, überall mussten »Hunde draußen bleiben«. Was sollte man tun? Es wäre vorteilhaft, wenn sie ein Blindenhundgeschirr hätte, das sie Sadie anlegen könnte. Dann könnte sie sie überallhin mitnehmen. Und, ein zusätzlicher Pluspunkt, die Leute hätten Mitleid mit dem armen, kleinen blinden Mädchen und wären besonders nett zu ihr.
»Braver Hund«, sagte Reggie zu Sadie, als sie ging, und der Hund antwortete mit einem leisen Winseln, und Reggie glaubte, es hieß: »Vergiss nicht, zurückzukommen.« Die Hundesprache war ziemlich einfach zu verstehen im Gegensatz zur Menschensprache. (Alles und nichts, dies und das, hier und da.)
Soweit sie es beurteilen konnte, war Jackson Brodie okay. Es wäre eine Schande, sollte sich herausstellen, dass sie einem schlechten Menschen das Leben gerettet hätte, wenn sie jemanden hätte retten können, der ein Mittel gegen Krebs erforschte oder die einzige Stütze einer großen, bedürftigen Familie war und womöglich ein behindertes Kind hatte.
Jackson Brodie hatte eine Frau und ein Kind, sie wären ihr demnach dankbar. War Jackson Brodies Frau auch Marlees Mutter? Es war merkwürdig, wie man eine andere Person zu sein schien, je nachdem, wem man zugeordnet wurde. Jackies Tochter. Billys Schwester. Dr. Hunters Haushaltshilfe.
Jackson Brodie wollte seine Frau nicht beunruhigen, indem er sie von dem Unglück benachrichtigte, was sehr altruistisch von ihm war. Das Wort des Tages. Aus dem Lateinischen, alteri huic, für den anderen. Seine Frau (»Tessa«) war »bei einer Konferenz in Washington«. Wie weltläufig das klang. Wahrscheinlich trug sie ein schwarzes Kostüm. Reggie dachte an die beiden schwarzen Kostüme von Dr. Hunter, die geduldig in ihrem Schrank hingen und darauf warteten, dass sie nach Hause kam und sie anzog. Wo war sie?
Die automatischen Krankenhaustüren öffneten sich zischend, und Reggie ging hinaus, blieb einen Augenblick stehen, um sich zu vergewissern, dass keine mit Loebs bewaffneten Vandalen auf sie warteten. Sie hatte Billy noch nicht erreicht, er war die am schwersten zu findende Person, die sie kannte. Obwohl es schien, als wollte Dr. Hunter es mit ihm aufnehmen.
Sadie sah Reggie, sobald sie aus dem Krankenhaus trat. Sie stand auf, spitzte die Ohren, wie sie es tat, wenn sie Wache halten musste. Reggie spürte so etwas wie ein Glücksgefühl in sich aufwallen. Es war gut, jemanden zu haben (wenn ein Hund jemand war), der sich freute, einen zu sehen. Sadie wedelte mit dem Schwanz. Hätte Reggie einen Schwanz gehabt, hätte sie auch damit gewedelt.
»Einen Freund besucht?«, fragte eine alte Dame in der Schlange für den 24er Bus vor dem Krankenhaus.
»Ja«, sagte Reggie. Er war nicht wirklich ein Freund, aber er würde einer werden. Eines Tages. Er gehörte jetzt ihr.
»Ich komme wieder«, hatte sie zu Jackson Brodie gesagt. »Ganz bestimmt«, hatte sie hinzugefügt. Reggie würde nie zu jemandem werden, der nicht wiederkam.
Sie hatte vergessen, ein Buch mitzunehmen, aber sie fand die verstümmelte Ilias in ihrer Tasche und las um das Loch in der Mitte herum. Der Anfang des Sechsten Gesangs war intakt, und sie kontrollierte ihre Übersetzung – Nestor anjetzt ermahnte mit lautem Ruf die Argeier: Freund’, ihr Helden des Danaerstamms, o Genossen des Ares! Lasst keinen zurück. Ziemlich gut.
Die Busfahrt wurde schicksalhaft gestört von einem Anruf von Wachtmeister Wiseman, der sie davon in Kenntnis setzte, dass Ms MacDonald noch nicht »verfügbar« sei. »Toxikologische Tests und so weiter«, sagte er vage.
»Wann glauben Sie denn, dass sie beerdigt werden kann?«, fragte Reggie.
Reggie überlegte, ob Ms MacDonald (ihre Tote), überhaupt beerdigt werden wollte. Wurmfutter oder Asche? Sie ist tot; wer immer stirbt, sich auflöst in die ersten Elemente. Das hatten sie in der Schule durchgenommen. Sie hatten Donne gelesen. Ha.
In Reggie tat sich eine schreckliche Leere auf, als hätte jemand alle lebenswichtigen Organe entfernt. Die Welt zog sich zurück. Panik machte sich in ihr breit, so wie damals, als man sie von Mums Tod unterrichtet hatte. Wo war Dr. Hunter? Wo war Dr. Hunter? Wo war sie?
Er war Kriminalpolizist. Früher. Sie wussten, wie man Leute findet. Leute, die verschwunden waren.