Trübsal

Im Nachhinein sah Reggie ein, dass sie Jackson Brodie möglicherweise von ihren kriminellen Verbindungen hätte erzählen sollen. Wenn sie ihn zum Beispiel vor ihrem Bruder gewarnt hätte, bevor sie ihn zum Übernachten zu sich einlud, dann hätte er Ms MacDonalds Wohnzimmer vielleicht nicht vor ihr betreten (während sie die Haustür zusperrte, damit sie sicher wären – Ironie, haha, et cetera) und sich von einem hässlichen Briefmesser bedroht gesehen, das die Haut über seiner Halsschlagader ritzte an nahezu genau der Stelle, an der sie in der Nacht des Zugunglücks verzweifelt nach einem Puls gesucht hatte. Am anderen Ende des Briefmessers stand Billy.

»Überraschung!«, sagte er tonlos. »Wer ist der Witzbold?« Er drückte das Messer fester an Jacksons Hals. »Was tut er hier?«

»Lass ihn los«, sagte Reggie. Es hatte keinen Sinn, an Billys bessere Natur zu appellieren, weil er keine hatte, aber man musste es versuchen. »Du kennst ihn nicht.«

Zu ihrer und auch zu Jacksons Überraschung ließ Billy ihn los, stieß ihn zu Boden, wo er schwer aufschlug, weil er den Sturz nur mit einem Arm abfangen konnte. Als Nächstes wurde Reggie von Billy überrumpelt, der stattdessen sie packte, ihr den Arm um den Hals legte und dabei nahezu ihre Luftröhre zerdrückte. Das Gleiche hatte er getan, als sie Kinder waren. Mum sagte: Gib deiner kleinen Schwester ein Küsschen, damit sie weiß, dass es dir leid tut, denn er musste sich ständig für schlechtes Betragen entschuldigen – er nahm ihr die Puppe weg, warf ihre Legobauten um, biss sie – er war ein schrecklicher Beißer –, und dann sang er »Entschuuuldiige, Reggie« und erwürgte sie halb, während er sie küsste, und Mum sagte: Böser Junge, Billy. Er blickte verschreckt drein so wie die Pferde auf der Wiese, wenn Sadie ihnen zu nahe kam.

Jackson kämpfte sich auf alle viere und stand dann langsam auf. Billy hörte auf, sie zu würgen, drückte stattdessen die Spitze des Messers an ihren Hals und sagte zu Jackson: »Denken Sie nicht im Traum daran, sich einzumischen.« Sie spürte die Klinge, kalt und scharf auf ihrer Haut. Es war ein so kleines Messer, aber es konnte ihr so viel antun.

Jackson stand mitten im Zimmer zwischen dem Inhalt von Ms MacDonalds Bücherregalen, angespannt und auf den Zehen wie ein Boxer, bereit, in den Kampf zu gehen. Sie sah, dass er nachdachte, die Möglichkeiten abwog, und sie dachte, oh, nein, nicht.

»Ich bin deine Schwester, Billy«, flüsterte sie ihrem Bruder zu. »Dein eigen Fleisch und Blut.« Bessere Natur, appellieren, sinnlos et cetera, aber man musste es versuchen.

»Er ist dein Bruder?«, sagte Jackson. »Du kleiner Scheißkerl«, sagte er zu Billy. »Es ist deine Aufgabe, auf deine Schwester aufzupassen.«

»Sagt wer und wessen Bibel?«, fragte Billy, doch sie spürte, wie sich die Klinge ein wenig zurückzog.

»Deine Freunde suchen nach dir«, sagte sie zu ihm.

»Was für Freunde? Ich hab keine Freunde.« Das Traurige war, dass er klang, als wäre er stolz darauf.

»Du hast ihnen erzählt, du heißt Reggie, stimmt’s?«, sagte Reggie. »Und dass du in Gorgie wohnst. Sie sind gekommen und haben mich bedroht und meine Wohnung angezündet.«

»Ja, es ist eine komische alte Welt, wie die liebe alte Mum gesagt hätte.«

»Sprich nicht so über Mum.« Wenn sie ihn in ein Gespräch verwickeln könnte, dann würde er sich schnell langweilen, er langweilte sich so schnell wie kein anderes menschliches Wesen, und dann würde er gehen und Jackson würde nicht tun, was immer es war, das er im Begriff stand zu tun – so wie es aussah, Billy mit bloßer Hand den Garaus zu machen.

Und dann hörte sie es. Es war der urtümliche Laut eines riesigen Wolfes, der in seinem Bau erwacht war. Die Kreatur stand in der Tür, das Fell aufgestellt, die Reißzähne gefletscht, ein lautes Knurren in der wilden Brust.

Reggie hatte Sadie vergessen. Sie war sofort nach oben gerannt in Verfolgung von Banjos Geisterspur.

Der Hund stellte sich auf die Hinterbeine und landete mit einem Sprung auf Billy, biss in seinen Unterarm und grub die Zähne hinein, und Billy ließ das Messer fallen und begann Reggie anzuschreien, sie solle den Hund zurückrufen. Reggie schrie, »Fuß, Sadie«, doch vergeblich. Dann tat Jackson etwas, was sie nicht von ihm erwartet hätte, er versetzte dem Hund einen harten Schlag seitlich auf den Kopf, seine Kiefer erschlafften, und er fiel zu Boden wie ein nasser Sack. Was folgte, bekam Reggie nur verschwommen mit. Innerhalb einer Sekunde hatte Jackson Billy zu Boden geworfen, kniete auf seinen Nieren und hielt mit der guten Hand seinen Nacken fest.

Billys Arm blutete, aber nicht auf lebensbedrohliche Weise, nicht auf eine Weise, dass Reggie ihm zu Hilfe eilen wollte. Wie jeder gute Erste Helfer kümmerte sie sich um die am schwersten verletzte Person, legte sich Sadies Kopf in den Schoß und murmelte beruhigende Worte. Jackson stand auf und sagte zu Billy: »Keine Bewegung. Nicht einmal ein Zucken.« Dann wandte er sich an Reggie: »Dein Bruder, du bist dran. Soll ich die Polizei rufen?«

 

Sie ließen Billy gehen. Gaben ihm eine zweite Chance oder vielmehr die hundertste. »Er ist mein Bruder«, sagte Reggie. »Schließlich.« Obwohl er Polizist gewesen war, schien es Jackson gleichgültig. Jeder könne sehen, sagte er, »jeder außer vielleicht seiner Schwester«, dass »Billy-Boy« in halsbrecherischem Tempo auf ein schlimmes Ende zuraste, wenn nicht jemand einschritt. Doch, versicherte sie ihm, seine Schwester sah es durchaus.

»Was wollte er?«, fragte Jackson, und Reggie zuckte die Schultern und sagte: »Ach, alles oder nichts. Dies und das. Sie müssen ins Bett. Es war ein langer Tag.«

»So kann man es auch nennen«, sagte Jackson und lachte.