»Eine alte Tante«

Louise hatte keinen Frühstückswhisky mit Neil Hunter getrunken, obwohl sie im Gegensatz zu den meisten den medizinischen Geschmack des Laphroaig zu schätzen wusste. Wenn sie musste (manchmal musste sie), konnte sie die meisten Männer unter den Tisch trinken, aber sie hielt sich an die Regeln. Wenn sie trank, fuhr sie nicht Auto, und sie trank nie im Dienst – sie hätte sich in Grund und Boden geschämt, wenn die Kollegen den Whisky in ihrem Atem gerochen hätten. Nur Alkoholiker rochen morgens um neun nach Alkohol. (Ihre Mutter. Immer.) Stattdessen kaufte sie an der Straße einen doppelten Espresso und fuhr ins Büro, setzte sich und ging zum hundertsten Mal durch, wo David Needler angeblich gesehen worden war.

Der Fall war nicht länger heiß, Louise spürte, wie er jeden Tag kälter wurde, wie er ihr entglitt. Eine Weile war er groß in den Medien gewesen, und jetzt war es fast so, als wäre nie etwas passiert, und allmählich meinte sie, dass er für alle Beteiligten zu einer nie enden wollenden Hölle wurde, zu einem Fall, über dem die Kriminalpolizei jahrzehntelang brütete. Louise nahm diesen höchst negativen Gedanken und hielt ihn unter Wasser, bis er schlaff wurde, dann zwang sie ihre verrostete Truhe am Grund des Meeres, sich zu öffnen, und warf ihn hinein.

David Needler war überhaupt nicht gesehen worden, bis über den Fall in Crimewatch berichtet wurde, und danach waren sie überschwemmt worden von Anrufern, die behaupteten, ihn überall gesehen zu haben, von Bangor bis Bognor, aber nichts hatte sich ergeben. Der Mann war vom Radarschirm verschwunden. Er hatte weder eine Kreditkarte noch seinen Pass benutzt. Sein Wagen wurde in der Nähe von Flamborough Head gefunden, aber Louise glaubte, dass das das Werk von jemandem war, der sich für schlauer als die Polizei hielt. Sie war überrascht, dass er nicht das Wort »Spur« in großen schwarzen Buchstaben auf die Seite des Wagens gemalt hatte. Sie glaubte nicht, dass er sich umgebracht hatte, er war nicht der Typ dafür, er hielt sich für viel zu wichtig.

»Hitler hat sich umgebracht«, sagte Karen Warner. »Er hat sich auch wichtig genommen.« Sie stand vor Louises Schreibtisch und aß ein Krabbensandwich von Marks and Spencer, bei dessen Anblick Louise schlecht wurde.

»Napoleon hat sich nicht umgebracht«, sagte Louise. »Ebenso wenig Stalin, Pol Pot, Idi Amin, Dschingis Khan, Alexander, Cäsar. Seien wir ehrlich, Hitler war die Ausnahme von der Regel.«

»Oje, hast du eine Laune«, sagte Karen.

»Nein, habe ich nicht.«

»Doch.« Karens Bauch war riesig. Louise konnte sich nicht erinnern, dass sie bei Archie so dick gewesen war, er war winzig gewesen, fast wie ein Frühchen. Louise gab sich die Schuld, sie hatte während der ersten drei Monate geraucht, weil sie nicht gewusst hatte, dass sie schwanger war. Louise war überzeugt, dass tief in ihrem Inneren, im schlammigen Labyrinth ihres Herzens eine unglaublich gut erzogene Person lauerte und sich fragte, wann sie endlich herausgelassen würde. Patrick fragte sich das wahrscheinlich auch. Der geduldige Patrick, der darauf wartete, dass sie zu einem guten Menschen wurde. Da kannst du lange warten, Baby.

Karen hatte recht, sie war heute besonders unleidlich, der viele Kaffee hatte es eine Weile gemildert, aber jetzt spürte sie die Kopfschmerzen einsetzen wie einen Seenebel, der den Forth hinaufzieht.

»Ich wollte dir nur von der Frau berichten, die behauptet hat, sie hätte David Needler auf der Hafenmauer in Arbroath sitzen und Fish and Chips essen sehen«, sagte Karen.

»Und?«

»Die Polizei von Tayside bezweifelt es«, sagte sie mit vollem Mund. »Niemand sonst kann sich an ihn erinnern, und als sie das Foto gesehen hat, war sie sich nicht mehr sicher.«

»Er ist untergetaucht«, sagte Louise. »Er ist nicht der Typ, der öffentlich herumhängt und in Arbroath Pommes isst.« David Needler war von der cleveren, schlauen Sorte, und er war Engländer, er war wahrscheinlich über die Grenze. Er hatte im Süden noch viele Kumpel, die ihm vielleicht geholfen hatten, natürlich leugneten sie es stur, aber ein paar von ihnen hatten Geld, es war also nicht ausgeschlossen, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Doch Louise glaubte, dass er noch irgendwo im Land war, der ganz normale Mann, der Nachbar von nebenan. Vielleicht machte er schon wieder einer Frau den Hof.

Sie nahm das Foto aus der Akte und studierte sein ausdrucksloses Gesicht, das sie anstarrte. Alison Needler hatte kein neues Foto von ihm allein gefunden (Fotos waren Erinnerungen, vielleicht wollte sich niemand an ihn erinnern), deswegen hatten sie dieses ausgeschnitten und vergrößert. Auf dem ursprünglichen Foto war die ganze Familie zu sehen, aufgenommen in Disneyland Paris – drei Kinder und eine Ehefrau um ihn geschart, lächelnd, als nähmen sie an einem Glückswettbewerb teil. (»Es war ein schrecklicher Tag«, sagte Alison bitter. »Er war mies drauf.«) Louise dachte an Joanna Hunters dreißig Jahre altes Schwarzweißfoto, Menschen festgehalten in einem Augenblick, der nie wiederkam.

Marcus betrat ihr Büro, wedelte mit einem Blatt Papier herum wie mit einer Fahne. Sein Blick fiel auf das Foto, und er sagte: »Neuigkeiten von Graf Lucan?«

Alle erinnerten sich an Graf Lucan, aber kaum einer an Sandra Rivett, das Kindermädchen, das er erschlagen hatte. Die falsche Person zur falschen Zeit am falschen Ort. Wie Gabrielle Mason und ihre Kinder, vom kollektiven Gedächtnis nahezu vergessen. Wer konnte die Namen der Opfer des Yorkshire Rippers aufzählen? Oder die von Wests Opfern? Die vergessenen Toten. Opfer verblassten, Mörder lebten in der Erinnerung weiter, nur die Polizei verhinderte das Erlöschen des ewigen Feuers, gab es Jahr für Jahr weiter.

»Wie hieß das Kindermädchen, das er umgebracht hat?«, fragte Louise Marcus. Hier beginnen die Fragen.

»Weiß ich nicht«, sagte Marcus.

»Sandra Rivett«, sagte Karen.

»Sie hat ein Elefantengedächtnis«, sagte Louise zu Marcus.

»Und brütet einen Elefanten aus«, sagte Karen. »Ich kann es gar nicht erwarten, bis der kleine Arsch draußen ist.«

»Zügle deine Zunge, wenn du ein Kind hast«, sagte Louise.

»Hast du das getan?«

»Nein.«

»Du sollst angeblich ein Vorbild für mich sein.«

»Ja? Dann hast du Probleme.«

»Boss?«, sagte Marcus und reichte ihr das Blatt Papier. »Unser Mr. Hunter hatte in letzter Zeit etwas Pech. Zwei Wochen vor dem Brand in der Bread Street wurde der Geschäftsführer angegriffen, als er das Geld abholte, und ein Fenster in einer anderen Spielhalle wurde letzte Samstagnacht eingeworfen. Und einer seiner Fahrer wurde vor dem Foot of the Walk aus seinem Taxi gezerrt und verprügelt, bei einem anderen Wagen wurden die Fenster eingeschlagen, als es einen Fahrgast in Livingston aufnehmen wollte –«

»Livingston?«, sagte Louise scharf.

»Ist in Ordnung, Boss – hat nichts zu tun mit unserer Frau.«

Louise wusste nicht, wann oder warum Marcus begonnen hatte, Alison Needler »unsere Frau« zu nennen, aber es brachte Louise jedes Mal aus der Fassung. Unsere Frau von Livingston. Unsere Frau von den Schmerzen.

Louise konnte Karens Bauch deutlich durch die dünne Schwangerschaftsbluse aus Jersey sehen. Der Nabel stand heraus wie ein Klingelknopf, der darum bat, darauf zu drücken. Als sich das Baby bewegte, pulsierte der Bauch wie etwas aus Alien. Louise erinnerte sich an das merkwürdige, flatterige Gefühl eines sich bewegenden Babys im Bauch, unabhängig und abhängig zugleich, die ewige mütterliche Dialektik. Ein Fuß, ein kleiner Fuß, ein winziges, winziges Füßchen trat gegen das dünne Trommelfell aus Fleisch und Stoff. Louises Übelkeit wurde dadurch nicht besser.

»Und?«, sagte sie. »Hat der Mann ein schlechtes Karma, oder versucht jemand, ihm eine Botschaft zu übermitteln? Er gehört übrigens ganz Ihnen, er sagt nichts, sieht aber aus, als hätte er große Sorgen.«

Kriminaloberkommissar Sandy Mathieson, ein Mann, der Louises Ansicht nach über seine Fähigkeiten hinaus aufgestiegen war, steckte den Kopf zur Tür herein. Wenn es einen Sammelbegriff für Polizisten wie Sandy gab, dann war es »Trottel«.

»MAPPA hat angerufen, wegen Decker.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist verschwunden.«

Eine schwarze Krähe flog über die Sonne, ein schwarzer Fleck, ein schlechtes Gefühl in Louises Bauch. Ein reales, körperliches Gefühl, verursacht wahrscheinlich von einem Glas mit Mayonnaise, das Karen Warner gerade hervorgeholt hatte und jetzt mit einem Teelöffel bearbeitete. Die Frau hielt es keine fünf Minuten aus, ohne etwas zu essen. Etwas Ekelhaftes für gewöhnlich.

»Ein Streifenwagen in Doncaster hat heute Morgen routinemäßig überprüft, ob er da ist, wo er sein soll.«

»Und er war es nicht?«

»Die Mutter hat gesagt, dass er am Mittwochabend ausgegangen und nicht mehr zurückgekommen ist.«

»Er wusste, dass die Presse Wind gekriegt hat«, sagte Louise. »Wahrscheinlich wollte er sich nur ein bisschen entziehen.« Wieder dieses Wort. Was hatte Joanna Hunter gesagt: Ich könnte wegfahren, mich für eine Weile entziehen? Liefen sie beide vor der gleichen Sache davon? Zwei Menschen, die nie voneinander loskommen würden. Joanna Hunter und Andrew Decker würden für immer zusammengehören, ihre Geschichten miteinander verwoben und verquickt.

»Zumindest hat das Zugunglück für ein, zwei Tage verhindert, dass es in die Presse kommt«, sagte Sandy.

»Jede Katastrophe hat auch was Gutes, was, Sandy?«, sagte Karen. »Es wird nicht lange dauern, und die Pressehunde nehmen die Fährte wieder auf. Ein Zugunglück macht wie lange Schlagzeilen – drei Tage? Außerdem ist er in England, oder? Er ist nicht unser Problem. MAPPA hat ein Foto gemailt«, fügte sie hinzu und legte es vor Louise auf den Schreibtisch.

Decker sah vollkommen anders aus als der junge Mann, der einen dreißig Jahre zuvor aus den Zeitungen angestarrt hatte (Louise hatte sein Gespenst gegoogelt). Er war natürlich ein anderer Mensch. Zwischen den zwei Bildern lag ein ganzes verschwendetes Leben.

 

Auf dem Rückweg von einer Arbeits- und Koordinierungsbesprechung in St. Leonard’s hatte Louise Heißhunger und fuhr auf den Parkplatz von Cameron Toll und kaufte einen riesigen Schokoladenriegel bei Sainsbury’s. Sie aß nie Schokolade, aber sie aß den ganzen Riegel, kaum saß sie wieder im Wagen, und kaum war sie im Revier, erbrach sie den ganzen Riegel in die Toilette. Geschah ihr recht dafür, dass sie versucht hatte, sich in ein diabetisches Koma zu versetzen.

Als sie aus der Toilette kam, klingelte ihr Handy. »Reggie Chase«, sagte eine Stimme. Der Name kam ihr bekannt vor, aber Louise wusste nicht mehr, wer es war. Das Mädchen sprach so rasend schnell, dass Louise ihr nicht folgen konnte. Das Wesentliche war, dass »irgendetwas mit Dr. Hunter passiert war«.

»Joanna Hunter?«, sagte Louise. Meine Frau, dachte sie, noch eine. Louises Frauen. Reggie Chase, das kleine Mädchen, das ihr am Dienstag Joanna Hunters Tür geöffnet hatte. »Wie meinst du das, dass ihr was passiert ist?«

 

Ein kleines Mädchen und ein großer Hund. Dr. Hunters Hund. Er wedelte mit dem Schwanz, als er sie sah, und Louise fühlte sich absurderweise geschmeichelt. Vielleicht könnte ein Hund den Raum zwischen ihr und Patrick füllen, den er mit einem Baby besetzen wollte. Gab es einen Raum zwischen ihnen? War das gut? Oder schlecht?

Sie traf sich mit dem Mädchen in der Stadt. Sie ließen den Hund auf dem Rücksitz von Louises Wagen, während sie bei Starbucks in der George Street Kaffee tranken. Louise hasste Starbucks. Yankee Dollars. »Jemand muss für die bösen Kapitalisten Geld machen«, sagte sie zu dem Mädchen und kaufte ihr eine Latte und ein Schokomuffin. »An manchen Tagen sind das du und ich. Heute ist so ein Tag.«

Das Mädchen sagte: »Ach, wir tun vieles, was wir nicht tun sollten.«

Das Mädchen hatte eine hässliche Beule auf der Stirn, für die sie eine Ausrede fand, aber Louise glaubte, dass sie von jemandem geschlagen worden war. Reggie Chase. Joanna Hunters Kindermädchen, wie Sandra Rivett – nein, nicht Kindermädchen, »Haushaltshilfe«. Mother’s little helpers. Louise hatte nach Archies Geburt Valium genommen. »Um den Schock ein bisschen abzumildern«, sagte ihr Arzt. Der Kerl war ein Dealer gewesen, verteilte Beruhigungsmittel, als wären es Bonbons. Louise konnte sich nicht vorstellen, dass Joanna Hunter so etwas tat. Louise stillte nicht, als sie die Drogen nahm, ihr war die Milch nie richtig eingeschossen, und nach einer Woche hatte sie keine mehr. (»Stress«, sagte der Arzt gleichgültig.) Archie schien eine Flasche emotional tröstlicher zu finden als die Brust seiner Mutter.

Nach einer Woche hörte sie mit dem Valium auf, sie wurde davon geistig so träge, dass sie Angst hatte, das Baby fallen zu lassen oder es zu verlieren oder zu vergessen, dass sie überhaupt eins hatte.

War Reggie, die selbst fast noch ein Kind war, alt genug, um sich um das Kind einer anderen Frau zu kümmern? Sie war genauso alt wie Archie. Bei dem Gedanken, Archie ein kleines Baby anzuvertrauen, schauderte sie.

»Schaun Sie, schaun Sie, was Sadie in Dr. Hunters Garten gefunden hat«, sagte das Mädchen und drückte ihr ein dreckiges Stück grüner Baumwolle in die Hand.

»Sadie?«

»Dr. Hunters Hund.«

»Was ist das?«, fragte Louise unsicher und hielt den Fetzen zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Das ist die Decke des Babys, sein Maskottchen«, sagte Reggie. »Es nimmt es überall hin mit. Dr. Hunter hätte es nie dagelassen. Ich habe es im Garten gefunden. Warum lag es im Garten? Es war schon dunkel, als ich gegangen bin, und er hat es in der Hand gehalten, und schauen Sie sich das an, das ist Blut.«

»Nicht unbedingt.«

Archie hatte etwas Ähnliches gehabt, ein Stück eidottergelben Plüsch, das eine Enten-Handpuppe gewesen war, bevor sich die Nähte auflösten und die Ente enthauptet wurde. Er konnte abends ohne es nicht schlafen, hielt es fest umschlossen in der Hand, als hinge sein Leben davon ab. Nur im Schlaf entspannten sich seine Finger. Er schlief so tief. Louise schlich sich mitten in der Nacht in sein Zimmer, um seine Zehennägel zu schneiden, Splitter zu entfernen, Schnittwunden und Kratzer zu desinfizieren, all die kleinen Kinderwartungsarbeiten, bei denen er untertags das Haus zusammengeschrien hätte. Er hätte sich eher von Louise getrennt als von dem kleinen Stück gelben Stoffs.

Sie gab es dem Mädchen zurück und sagte: »Sachen gehen verloren.« Unfälle passieren. Milch wird verschüttet. Plattitüden regnen vom Himmel.

»Mr. Hunter hat gesagt, dass Dr. Hunter gefahren ist«, sagte Reggie, »aber ihr Wagen steht in der Garage. Als sie gestern nach Hause gekommen ist, war alles in Ordnung damit. Sie ist weg, aber sie hat mir nicht gesagt, dass sie weg wollte, was ihr überhaupt nicht ähnlich sieht, und Mr. Hunter sagt, dass sie eine kranke Tante besucht, aber sie hat die Existenz einer Tante nie erwähnt, ich habe mit ihrer Freundin Sheila gesprochen, und gestern hätte sie zum Weihnachtsabend von Jenners gehen sollen, aber sie hat ihr nicht gesagt, dass sie nicht kommt – was ganz untypisch für Dr. Hunter ist, glauben Sie mir –, und ihr Handy liegt irgendwo im Haus, ich habe es klingeln gehört, ich habe es eindeutig klingeln gehört, der Krebskanon von Bach – sie würde ihr Handy nie vergessen, es ist ihre Rettungsleine –, sie ist überhaupt nicht vergesslich, Dr. Hunter vergisst nie etwas, und ihr Kostüm fehlt, sie würde nie in ihrem Kostüm die ganze Strecke fahren und –«

»Hol mal Luft«, riet ihr Louise.

»Sie ist verschwunden«, sagte das Mädchen. »Ich glaube, jemand hat sie mitgenommen.«

»Niemand hat sie mitgenommen.«

»Oder Mr. Hunter hat ihr etwas angetan.«

»Etwas angetan?«

Das Mädchen senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ermordet.«

Louise seufzte lautlos. Das Mädchen war eine von denen. Sie hatte eine überbordende Phantasie, konnte sich in eine Idee verrennen und von ihr davontragen lassen. Sie war eine Romantikerin, wahrscheinlich eine Phantastin. Catherine Morland in Northanger Abbey. Reggie Chase war ein Mädchen, das überall etwas Interessantes sah. Sie übte, eine Heldin zu sein, damit hatte Catherine Morland die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens verbracht, und sie wäre nicht überrascht, wenn Reggie das Gleiche tat.

»Zufälligerweise war ich heute Morgen bei Mr. Hunter«, sagte Louise. »Wegen etwas ganz anderem.«

»Das ist ein komischer Zufall.«

»Und mehr ist es nicht«, sagte Louise scharf. »Ein Zufall. Mr. Hunter hat mir erzählt, dass seine Frau zu einer Tante gefahren ist, der es nicht gutgeht.«

»Ja, ich weiß, das habe ich doch gesagt, mir hat er das gleiche erzählt, aber ich glaube es nicht.«

»Die Tante ist keine Glaubensfrage, sie ist nicht der Weihnachtsmann, sie ist eine Verwandte. Sie ist nicht Teil einer großen Verschwörung, um Dr. Hunter zu verstecken.«

»Niemand hat Dr. Hunter gesehen. Niemand hat mit ihr gesprochen.«

»Mr. Hunter schon.«

»Das behauptet er.«

Louise seufzte laut. »Reggie – wie wär’s, wenn ich dich nach Hause fahre?«

»Sie sollten sich die Telefonnummer von Dr. Hunters Tante geben lassen und sich vergewissern, dass es ihr gutgeht. Vielleicht könnten Sie jemand zu dem Haus der Tante in Yorkshire schicken, jemand von dort. Hawes, H-a-w-e-s. Mr. Hunter will mir die Adresse oder die Telefonnummer nicht geben, aber Ihnen muss er sie geben.«

»Genug.« Louise hob die Hand wie eine Verkehrspolizistin. »Schluss jetzt. Dr. Hunter ist nichts zugestoßen. Komm, mein Wagen steht dort drüben.«

»Finden Sie heraus, ob die Tante existiert. Suchen Sie Dr. Hunters Handy, es ist im Haus, dann können Sie sehen, ob die Tante wirklich angerufen hat.«

»Zum Wagen. Jetzt. Nach Hause.«

 

Sie behauptete, einem Mann bei dem Zugunglück das Leben gerettet zu haben. Offenbar noch so eine Phantasiegeschichte. Louise hätte jemanden in Uniform zu ihr schicken sollen. Hätte es sich um jemand anders gehandelt, hätte sie es getan, aber sie beanspruchte Joanna Hunter für sich und konnte sie nicht mehr loslassen. Ihre Frau.

Ich könnte wegfahren, mich für eine Weile entziehen. Die Finanzen ihres Mannes befanden sich in Kernschmelze, er bewegte sich auf der dunklen Seite, hatte Umgang mit ein paar fragwürdigen Gestalten, die Ehe war wahrscheinlich am Zerbrechen, und Andrew Decker trieb sich irgendwo herum. Wer würde nicht untertauchen? War die Ehe am Zerbrechen, oder projizierte sie ihre eigenen Gefühle auf Joanna Hunter?

Joanna Hunter hatte Reggie nicht erzählt, was ihrer Familie passiert war. Sie hatte es, soweit Louise wusste, niemandem erzählt außer ihrem Mann, und Louise würde dieses Vertrauen nicht brechen. Es war Joanna Hunters Entscheidung, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, und nicht Louises, sie weiterzuerzählen. »Ich möchte nicht, dass Reggie es weiß«, sagte Joanna Hunter. »Es würde sie beunruhigen. Die Menschen sehen einen anders, wenn sie wissen, dass einem etwas Schreckliches zugestoßen ist. Sie finden es dann am interessantesten an einem.«

Aber es war am interessantesten. Menschen, die Katastrophen überlebt hatten, waren immer interessant. Sie waren Zeugen des Undenkbaren. Wie Alison Needler und ihre Kinder.

»Eine Last, die man für den Rest seines Lebens tragen muss«, sagte Joanna Hunter. »Es wird nicht besser, es hört nicht auf, es begleitet einen bis zum Ende.« Louise dachte an Jackson, dessen Schwester vor langer Zeit ermordet worden war, und jetzt war er der Einzige, der sie gekannt hatte. Bei Samantha war es anders. Wenn ihr Mann und ihr Sohn sich nicht mehr an sie erinnerten, dann erinnerten sich noch ihre Dinge. Sie lebte weiter, vergessen, aber nicht verschwunden, der Geist von Patricks Frau für immer einbalsamiert in ihren Servietten und Vasen und dem guten silbernen Fischbesteck. Samantha war die wahre Ehefrau, Louise war die bleiche Schwindlerin.

 

Natürlich musste sie nicht die ganze Strecke bis nach Musselburgh fahren und im Berufsverkehr zurückkriechen.

»Es liegt nicht auf Ihrem Weg«, sagte Reggie.

Das stimmte, aber es machte ihr nichts aus. Nicht aus wahrer Rücksichtnahme auf das Mädchen, sondern weil es die Zeit streckte, die unvermeidliche Rückkehr nach Hause hinausschob. Sie war den ganzen Tag unterwegs gewesen, ihre ganz persönliche Hedschra, und die Vorstellung, anzuhalten, war beunruhigend. Unfähig, an einem Ort zu bleiben, war sie den halben Tag mit dem Wagen herumgefahren, die andere Hälfte hatte sie damit verbracht, sich Orte auszudenken, zu denen sie fahren könnte. (Tut mir leid, es wird spät, es ist etwas dazwischengekommen. Wer hatte darauf bestanden, Bridget und Tim für fünf volle Tage einzuladen? Louise.)

»Wie ist Dr. Hunter?«, fragte sie Reggie Chase auf der Fahrt nach Musselburgh, und das Mädchen sagte: »Also, …« Wie es schien, mochte Joanna Hunter Chopin und Beth Nielsen Chapman und Emily Dickinson und Henry James und legte eine bemerkenswerte Toleranz für die Tweenies an den Tag. Sie konnte Klavier spielen – »wirklich gut«, laut Reggie – und war mit William Morris einer Meinung, dass man nichts im Haus haben sollte, was man nicht für nützlich oder für schön hielt. Sie liebte Kaffee am Morgen und Tee am Nachmittag und aß erstaunlicherweise gern Süßes und behauptete, es sei eine medizinische Tatsache, dass man einen separaten »Nachtischmagen« habe, weswegen man auch nach einem großen Essen immer noch »Platz für ein Dessert« fand. Sie glaubte nicht an Gott, ihr Lieblingsbuch war Betty und ihre Schwestern, weil es davon handelte, wie »Mädchen und Frauen ihre Stärken entdeckten«, und ihr Lieblingsfilm war Die Spielregel, den sie Reggie einmal geliehen hatte und den Reggie mochte, wenn auch nicht so wie The Railway Children, der ihr Lieblingsfilm war. Wenn Dr. Hunter drei Dinge aus einem brennenden Haus retten müsste, wären es das Baby und der Hund, aber Reggie war nicht sicher, was das dritte wäre – Louise schlug Mr. Hunter vor, aber Reggie meinte, der könne sich wahrscheinlich selbst retten. Wenn Reggie in dem Haus wäre, würde Dr. Hunter sie retten, sagte Reggie.

Und sie liebte das Baby. Gabriel – natürlich, Gabriel, Gabrielle. Das Baby war nach Joanna Hunters toter Mutter benannt. Louise hatte die Verbindung nicht hergestellt, wahrscheinlich weil weder Joanna Hunter noch Reggie Chase ihn beim Namen nannten. Er war für beide »das Baby«. Das einzige Baby, das Licht der Welt.

»Chase und Hunter« – was war das gleich noch mal? Es klang wie eine schlechte Krimikomödie aus den siebziger Jahren. Oder »Hunter und Chase«, Immobilienmakler für gehobene Landhäuser. Reggie. Regina. Es gab nicht viele Mädchen, die Regina hießen.

»Ich habe das in der Tasche des Mannes gefunden«, sagte das Mädchen und reichte ihr schüchtern eine schmutzige Postkarte.

»Welcher Mann?«, fragte Louise und nahm die Postkarte widerwillig zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie die Babydecke war die Postkarte ein biologisches Risiko aus Dreck und Blut und sah aus, als wäre eine Herde Pferde darüber getrampelt.

»Der Mann, dem ich das Leben gerettet habe.«

Ah, der Mann, dachte Louise. Der imaginäre Mann. Auf der Postkarte war das Bild irgendeiner europäischen Stadt. Louise versuchte sie unter dem Schmutz zu erkennen.

»Brügge«, sagte das Mädchen. »In Belgien. Sein Name und seine Adresse stehen auf der anderen Seite. Ich habe ihn nicht erfunden.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.« Sie drehte die Postkarte um und las die Nachricht. Las Namen und Adresse.

»Jackson Brodie«, sagte das Mädchen hoffnungsvoll. »Ich weiß nicht, ob er tot ist oder noch lebt. Vielleicht könnten Sie ein bisschen nach ihm suchen?«

Louise gab ihr die Postkarte zurück und sagte: »Ich habe im Moment viel zu tun.«

 

Sie nahm nicht die Abfahrt von der A1. Statt nach Hause zu fahren, bog sie in Newcraighall ab und fuhr zum Krankenhaus, so gehorsam wie der Hund, den der Schäfer zu sich ruft.