Die berühmte Reggie
Auf dem Weg in die Wohnung schaute Reggie in Mr. Hussains Laden an der Straßenecke vorbei. Alle nannten ihn den »Paki-Laden«, ein so beiläufiger Rassismus, dass es nahezu liebevoll klang. Mr. Hussain erklärte jedem, der zuhörte (es waren nicht viele), dass er eigentlich Bangladescher war. »Ein Land im Aufruhr«, sagte er einmal düster zu Reggie.
»Dieses hier auch«, sagte Reggie.
Reggie dachte an den hübschen indischen Polizisten und fragte sich, ob er auch Bangladescher war. Er hatte wunderschöne Haut, vollkommen makellos wie die eines Kindes, wie die von Dr. Hunters Baby. Dr. Hunter hätte Reggie mitnehmen sollen. Sie hätte sich um das Baby kümmern können, während Dr. Hunter sich um die sogenannte Tante kümmerte.
»Wie heißt sie?«, hatte sie Mr. Hunter gefragt.
»Wie heißt wer?«, sagte Mr. Hunter gereizt.
»Die Tante«, sagte Reggie.
Mr. Hunter zögerte eine Sekunde, bevor er sagte: »Agnes.«
»Tantchen Agnes?«
»Ja.«
»Oder Tante Agnes?«
»Ist das wichtig?«, sagte Mr. Hunter.
»Für die Tante vielleicht.«
Reggie kaufte eine Lokalzeitung und ein Mars. Mr. Hussain tippte auf die Titelseite, während er den Preis in die Kasse eingab. »Schrecklich«, sagte er.
Die Evening News machte das meiste aus dem Zugunglück, »CARNAGE!«, Blutbad, schrie die Schlagzeile über dem Farbfoto eines Waggons, der nahezu entzweigebrochen war. »Carnage« vom lateinischen carne, Fleisch. Gleiche Wurzel wie »carnival«, Karneval. »Die Wegnahme des Fleisches.« Zwei unterschiedlichere Worte waren kaum vorstellbar. Überall – na ja, vielleicht nicht überall, nicht in Bangladesch zum Beispiel, aber jedenfalls in sehr vielen Ländern – gab es einen Karneval vor der Fastenzeit, aber in Großbritannien gab es nichts außer Pfannkuchen. Der letzte Faschingsdienstag war einer der dunklen Tage zwischen Mums Tod und dem Arbeitsbeginn bei Dr. Hunter gewesen. Dennoch hatte Reggie Pfannkuchen gebacken, allein Rebus geschaut und sie alle aufgegessen. Danach war ihr schlecht.
Das Foto auf der Titelseite gab überhaupt nicht wieder, wie es gestern Abend gewesen war, im Dunkeln, im Regen. Oder wie es war, wenn einem das Blut eines anderen an den Händen klebte, oder wie es sich anfühlte, wenn das Leben eines Mannes so schwer wie die ganze Welt auf den schmalen Schultern einer einzigen Person lastete.
»Schrecklich«, stimmte Reggie Mr. Hussain zu.
Als die Sanitäter endlich kamen, um Reggie die Last abzunehmen, drückte einer dem Mann eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, während ein anderer sein Hemd aufriss und ihm zwei Elektroden auf die Brust knallte. Der Mann zuckte und wand sich zurück ins Leben. Es war so sehr wie eine Episode aus ER, dass es unwirklich schien.
»Gut gemacht«, sagte ein Sanitäter.
»Wird er überleben?«
»Du hast ihm eine Chance gegeben«, sagte er, und dann hievten sie ihn in den Hubschrauber. Und das war’s. Reggie hatte ihn verloren.
Reggie seufzte, nahm die Zeitung und das Mars. »Ich muss weiter, hab viel zu tun, Mr. H.«
»Hast du nichts vergessen?«, fragte er. Mr. Hussain schenkte Reggie immer Tic Tac. Sie mochte Tic Tac nicht besonders, aber einem geschenkten Gaul und so weiter. Er schüttelte die Schachtel in der Luft, bevor er sie ihr zuwarf.
»Danke«, sagte Reggie und fing sie mit einer Hand.
»Wir sind ein gutes Team«, sagte Mr. Hussain.
»Total gut.«
Letzte Woche hatte Mr. Hussain ihr die Ausgabe einer Immobilienzeitung von Edinburgh gezeigt, in der stand, dass ihre Gegend im Aufstieg und im Kommen war. »Heiße Gegend«, sagte er pessimistisch. Reggies Genossenschaftsblock war weder im Aufstieg noch im Kommen. Im Hof roch es immer unangenehm, und Reggie war die Einzige, die die Treppe putzte. Der Block stand in einer Sackgasse, an deren Ende sich ein verlassenes, unter Zollverschluss stehendes Lagerhaus befand, die schwarz vergitterten Fenster so finster wie bei Dickens.
Mr. Hussain sprach von einem Gerücht, dass Tesco das Lagerhaus abreißen und einen neuen Tesco Metro bauen wollte, aber Reggie und Mr. Hussain waren einer Meinung, nämlich dass sie es erst glauben würden, wenn sie es mit eigenen Augen sahen und sich Mr. Hussain wegen der Konkurrenz bis dahin keine Sorgen machen müsste.
Die Tür zu Reggies Wohnung war nicht schön. Dr. Hunter sagte, dass es die schönsten Türen der Welt in Florenz gäbe, am »Battistero«, das war italienisch für Taufkapelle. Dr. Hunter war mit einem Schülerprogramm sechs Monate in Rom gewesen (»Ah, bella Roma«) und »überall« hingefahren, Verona, Firenze, Bologna, Milano. Dr. Hunter sprach italienische Worte richtig aus, ob es »Leonardo da Vinci« oder »Pizza napolitana« war (Dr. Hunter hatte Reggie zum Geburtstag zum Abendessen eingeladen, Reggie hatte sich für den Pizza Express in Stockbridge entschieden). Reggie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als ein halbes Jahr in Florenz zu leben. Oder in Paris, Wien, Granada, St. Petersburg. Wo immer.
Auf Reggies Wohnungstür war willkürlich etwas gesprayt, nichts Künstlerisches, von einem Jungen, der eines Abends die Treppe hinauf- und hinuntergegangen war und eine wacklige Schneckenspur roter Farbe hinterlassen hatte. Auf der Wohnungstür waren außerdem Kratzspuren, als hätte eine Riesenkatze versucht, sich mit den Krallen Einlass zu verschaffen (Reggie hatte keine Ahnung, wie das passiert war), und Spuren, die aussahen, als hätte sich jemand eines Abends mit der Axt Zutritt erzwungen (so war es gewesen, auf der Suche nach Billy natürlich). Nichts davon war neu. Neu war ein mit Kaugummi an die Tür geklebter Zettel, auf dem stand: »Reggie Chase – du kanst dich nicht vor uns verstecken.« Mit einem »N«. Sie brauchte eine Weile, um die Botschaft zu lesen, und dann brauchte sie eine Weile, um darüber nachzudenken, warum die Tür nicht verschlossen war. Vielleicht war die Riesenkatze zurückgekommen. Die Tür schwang auf, kaum hatte sie sie berührt.
War der verantwortungslose, lästige Billy hier gewesen? Er hatte eine Wohnung in the Inch, aber er benutzte ihre Adresse in Gorgie häufig, um die Leute zu verwirren, und schaute gelegentlich vorbei, um nachzusehen, ob er interessante Post hatte. Manchmal gab er Reggie Geld, aber sie fragte nicht, woher es stammte. Eins war sicher, er hatte es nicht verdient, in keinem Sinn des Wortes. Sie zahlte das Geld stets auf ihr Konto bei der Genossenschaftsbank ein und hoffte, dass es sich selbst säubern und Billys Spuren abschütteln würde, indem es dort still lag.
Reggie stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer und starrte hinein. Ihr Gehirn brauchte eine Weile, um zu verarbeiten, was ihre Augen sahen. Das Zimmer war vollständig verwüstet. Die Schubladen der Anrichte waren herausgezogen und auf den Boden geleert, das Ledersofa war aufgeschlitzt, Mums liebste Nippes waren heruntergefallen und zerbrochen, Fingerhüte und Miniaturteekännchen lagen auf dem Teppich verstreut. Reggies Aufsätze und Notizen waren aus Mappen und Karteikästen gerissen, und ihre Bücher lagen in einem großen Haufen mitten auf dem Wohnzimmerteppich wie ein Lagerfeuer, das darauf wartete, angezündet zu werden. Der Haufen verströmte einen komischen Geruch, wie Katzenpisse.
In Mums Schlafzimmer waren die Schubladen ausgeleert, und Mums Kleider lagen auf dem Boden und waren mit einem Messer oder einer Schere behandelt worden. Etwas, was aussah wie Schokolade, war auf der rosa Bettwäsche mit Lochstickerei verschmiert. Reggie war sicher, dass es nicht Schokolade war. Es roch jedenfalls nicht nach Schokolade.
Reggie bewahrte ihre Kleidung in ihrem alten Schlafzimmer auf, und auch hier war alles herausgezerrt und auf den Boden geworfen. Es roch widerlich, doch Reggie brachte es nicht über sich, ihre Kleider eingehender anzusehen.
In der Küche war alles aus den Schränken geworfen worden, der Kühlschrank stand weit offen, überall lagen Lebensmittel und Besteck. Teller und Tassen waren zerbrochen. Milch war über den Boden gegossen, eine Flasche mit Tomatensoße gegen die Wand geschmettert worden, wo sie einen großen arteriell roten Fleck hinterlassen hatte.
Die Wände der Dusche – ein im Flur eingebauter Schrank, der gefliest und ans Wasser angeschlossen war – waren ungeschickt mit den Worten »Du bist tot«, besprüht. Reggie spürte, wie Galle in ihr aufstieg, wovon ihr leicht schlecht wurde. Du kanst dich nicht vor uns verstecken. Wer waren »uns«? Wer waren diese Leute, die nicht wussten, wie man »kannst« schreibt? Sie mussten auf der Suche nach Billy sein. Billy kannte viele ungrammatikalische Menschen.
Sie stieß einen leisen Schrei aus, es klang wie ein kleines verwundetes Tier. Das war ihr Zuhause, das war Mums Zuhause, und es war verwüstet. Entweiht. Nicht, dass es viel gewesen wäre, aber es war alles, was Reggie hatte.
Dann stieß eine Hand sie heftig, und sie stürzte in die Dusche, riss im Fallen den Vorhang herunter. Ein paar unglückselige Bilder aus Psycho gingen ihr durch den Sinn. Sie schlug sich die Stirn an, als sie aufprallte, und sie hätte am liebsten geweint.
Zwei Männer. Jung, gangsterhaft. Einer mit roten Haaren, einer blond gebleicht, sein Gesicht übersät mit alten Aknenarben, schartig wie Orangenschale. Sie hatte keinen von beiden je zuvor gesehen. Der Blonde hielt ein Messer mit gezackter Klinge, das aussah, als könnte man damit einen Hai aufschlitzen. Reggie sah einen Fetzen von Mums Bettwäsche mit Lochstickerei an einem Zacken hängen. Ihr drehte sich der Magen um. Sie hatte Angst, sich nass zu machen, oder Schlimmeres. Ich bin kein Kind mehr, hatte sie gestern Abend zu den Polizisten gesagt, aber es stimmte nicht.
Sie dachte an ihre Mutter, die in ihrem wenig schmeichelhaften organgefarbenen Badeanzug aus Lycra neben dem Pool lag. Reggie wollte nicht in der Dusche als unwürdiges Häufchen tot gefunden werden, in Ms MacDonalds schrecklichen Kleidern. Sie hatte nicht einmal Unterwäsche an. Sie spürte ihren Herzschlag unangenehm heftig im Hals. Wollten sie sie umbringen? Vergewaltigen? Beides? Schlimmeres? Sie konnte sich Schlimmeres vorstellen, das Messer und die Zeit spielten dabei eine Rolle. Sie musste etwas tun, etwas sagen. Sie hatte gelesen, dass es wichtig war, mit den Angreifern zu sprechen, damit sie einen als Menschen, nicht als Objekt sahen. Reggies Mund war trocken, als hätte sie Sandpapier gegessen, und Worte zu bilden war mühsam. Sie wollte sagen, »Bringt mich nicht um, ich habe noch nicht gelebt«, aber stattdessen flüsterte sie: »Billy ist nicht da. Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen. Ehrlich.«
Die Männer wechselten einen verwirrten Blick. Rothaar sagte: »Wer ist Billy? Wir suchen nach einem Typ namens Reggie.«
»Nie von ihm gehört. Ich schwör’s.«
Unglaublicherweise wandten sich die Männer zum Gehen. »Wir kommen wieder«, sagte der Blonde. Dann sagte der Karottenhaarige, »Wir haben ein Geschenk für dich«, zog ein Buch aus der Tasche – unverwechselbar ein Klassiker von Loeb – und warf es ihr zu wie eine Handgranate. Sie versuchte nicht einmal, es aufzufangen, dachte, es würde in ihren Händen explodieren, konnte nicht glauben, dass es nur etwas so Harmloses wie Worte enthielt. Sie hörte Ms MacDonalds Stimme sagen: »Worte sind die mächtigsten Waffen, über die wir verfügen.« Wohl kaum. Worte konnten einen nicht vor einem riesigen Schnellzug retten, der mit Höchstgeschwindigkeit auf einen zuraste. (Hilfe!) Sie konnten einen nicht vor Gangstern retten, die Geschenke brachten. (Nein, danke.)
»Hasta la vista, Baby«, sagte der Rothaarige, und beide gingen. Sie waren Idioten, Idioten mit Klassikern von Loeb.
Sie nahm den grünen Loeb, der in der Duschwanne gelandet war. Der erste Band der Ilias. Wie konnte das eine Botschaft sein? Sie las die verblasste Inschrift auf dem Deckblatt: Moira MacDonald, Girton College, 1971. Komisch, sich Ms MacDonald jung vorzustellen. Komisch, sie sich tot vorzustellen. Noch komischer, sich vorzustellen, dass sich einer ihrer fehlenden Loebs in den Händen von Billys Feinden befand.
Trojanische Pferde hatten ein überraschendes Innenleben und so auch Ms MacDonalds Ilias. Als Reggie das Buch aufschlug, stellte sie fest, dass es einer rasiermesserscharfen Operation unterzogen worden war, sein Herz in einem ordentlichen Quadrat herausgeschnitten. Ein Sarg für etwas. Ein Sarg und ein Grab. Ein perfektes Versteck. Wofür?
Reggie glaubte, sie wären verschwunden, aber dann steckte der Blonde plötzlich den Kopf durch die Tür. Reggie schrie.
»Hab was vergessen«, sagte er und lachte über ihr Entsetzen. »Erzähl der Polizei nichts von diesem kleinen Besuch oder, rate mal!« Er formte mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole und zielte auf sie. Dann ging er wieder.
Reggie erstaunte sich selbst, indem sie plötzlich den ganzen Toast in die Toilette erbrach. Es dauerte eine Weile, bis sie aufhörte zu zittern. Sie fühlte sich, als hätte sie Grippe, aber sie nahm an, dass es nur der Schrecken war.
Sie stolperte die Treppe hinunter, in kaltem Schweiß gebadet und mit hämmerndem Herzen. Sie torkelte zurück zu Mr. Hussains Laden. »Alles in Butter?«, fragte Mr. Hussain, und sie murmelte: »Nein, die Hälfte in Margarine.« Das war ein schlechter Witz von Billy, den er als Kind gemacht hatte. Er war damals schon nicht komisch gewesen. Sollte sie es Mr. Hussain erzählen? Was würde passieren? Er würde ihr hinten im Laden eine Tasse Tee mit viel Zucker machen und die Polizei rufen, und kämen dann die Männer zurück und erschössen sie mit einer imaginären Pistole? Würden sie sie mit Worten umbringen? Sie sahen aus wie Typen, die echte Pistolen hatten. Sie sahen aus wie Billy.
»Muss weiter, Mr. H. Sonst verpasse ich den Bus.«
Wenn nur Sadie bei ihr wäre, dachte Reggie, als sie so schnell wie möglich zur Bushaltestelle ging. Wenn man einen großen Hund dabeihatte, überlegten es sich die Leute zweimal, ob sie sich mit einem anlegen wollten. »Es ist, als ob sich das Rote Meer teilt, wenn man mit Sadie unterwegs ist«, hatte Dr. Hunter einmal zu ihr gesagt und die Ohren des großen Hundes gekrault. »Mit ihr fühle ich mich immer sicher.« Musste Dr. Hunter sich sicher fühlen? Warum? Hatte es etwas mit ihrer Geschichte zu tun?
Waren sie wirklich auf der Suche nach ihr gewesen? Hatten sie sich in ihrem Geschlecht getäuscht (ein Typ namens Reggie)? Warum? Sie hatte nichts weiter verbrochen, außer Billys Schwester zu sein. Vielleicht reichte das schon. Sie versuchte, ihren Bruder anzurufen und hatte »Die Person, die Sie sprechen wollen, ist derzeit nicht erreichbar« in der Leitung. Sie wählte Dr. Hunters Nummer, und es klingelte und klingelte, ohne dass sich jemand meldete. Du bist tot. Reggie und die Toten. Es gab schon genug davon.
Das Komische war, dass Reggie, als sie mit Mr. Hunter telefoniert hatte, Sadie im Hintergrund bellen hörte. Wenn sie nicht in der Arbeit war, nahm Dr. Hunter Sadie überallhin mit. Warum sollte sie sie zurücklassen?
»Ihre Tante ist allergisch.«
»Tante Agnes?«
»Ja.«
»Kann Dr. Hunter ihr nicht etwas dagegen geben? Antihistamine oder so? Warum geht sie nicht an ihr Handy, Mr. Hunter?«
»Lass Jo in Ruhe, Reggie. Sie macht eine schwere Zeit durch. Es reicht schon, dass die Vergangenheit sie wieder heimsucht, da musst nicht auch du noch hinter ihr her sein. Okay?«
»Aber –«
»Weißt du was, Reggie?«, sagte Mr. Hunter.
»Was?«
»Belassen wir’s dabei. Ich habe im Augenblick eine Menge anderer Dinge um die Ohren.«
»Ich auch, Mr. H. Ich auch.«