Ein sauberer, gutbeleuchteter Ort

Der Prius stand nicht mehr in der Garage. Hinten im Haus brannte Licht. Es war sechs Uhr an einem Samstagmorgen, vielleicht war Neil Hunter früh aufgestanden, wahrscheinlicher war, dass er überhaupt nicht im Bett gewesen war. Durch die französischen Fenster sah sie ihn zusammengesackt und mit geschlossenen Augen auf dem Sofa sitzen. Louise klopfte ans Glas, der Geist von Miss Jessel, und Neil Hunter zuckte zusammen, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht, der sich entspannte, als er sie erkannte. Er stand wacklig auf und öffnete die Tür. »Sie schon wieder«, sagte er. Er sah vollkommen ausgebrannt aus.

»Wollen Sie mir sagen, wer Ihre Freunde sind?«, sagte sie, betrat das Zimmer, und er lachte grimmig und sagte: »Freunde? Welche Freunde? Wie sich herausstellt, habe ich keine Freunde.« Der Mann war eine wandelnde Leiche.

»Und Ihre Frau? Was ist mit ihr passiert, Mr. Hunter? Ich glaube, Sie haben uns lange genug an der Nase herumgeführt. Sie hat nie ein Auto geliehen, um damit nach Yorkshire zu fahren, die Tante hat nicht angerufen, ja, die Tante – und das erscheint mir nicht unwichtig –, die Tante ist vor zwei Wochen gestorben. Was genau geht hier vor?«

Neil Hunter ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Louise ging neben ihm in die Hocke und sagte leise: »Sagen Sie es mir einfach, wurde sie entführt, ja oder nein?« Er atmete hörbar ein und schwieg.

Louise stand auf und sagte mit ihrer besten offiziellen Stimme: »Neil Hunter, ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen. Sie sind nicht verpflichtet zu antworten, aber wenn Sie etwas sagen, wird es zu Protokoll genommen und kann gegen Sie verwendet werden.«

Er brach in Tränen aus.

 

Louise stand auf der Treppe vor dem Haus der Hunters und atmete die kalte Morgenluft ein. Zu Zeiten wie dieser wünschte sie, sie würde rauchen, dann wäre sie nicht so versucht, über Neil Hunters Laphroaig herzufallen.

Es war jetzt mitten am Morgen, und auf der Straße wimmelte es von Polizei. Sie dachte an Pferde, Pfeile und Stalltüren.

 

Sie brachten Neil Hunter zur Befragung aufs Revier, doch was er bislang gesagt hatte, ergab nicht viel Sinn, die Polizei von Strathclyde hatte Anderson in seinem Luxuspenthouse einen Besuch abgestattet, aber er war von Anwälten umgeben. Niemand hatte eine Ahnung, wo sie anfangen sollten, nach Joanna Hunter zu suchen.

Auf der M8 hatten sie den Nissan mit dem Kennzeichen, das Reggie ihnen gegeben hatte, aufgehalten, aber die beiden Männer darin schwiegen eisern.

Louise war überzeugt, dass Joanna Hunter tot war. Das Baby auch. Sie lagen in irgendeinem Graben oder wurden an Schweine verfüttert. Hunter sagte, dass sie bereits verschwunden war, als er am Mittwochabend nach Hause kam, und eine Stunde später erhielt er einen Anruf, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er sie nie wiedersehen würde, wenn er zur Polizei ging. »Beschaffen Sie das Geld, um Anderson zu bezahlen, oder überschreiben Sie ihm alles«, sagte Neil Hunter zu Louise, bevor er aufs Revier gebracht wurde.

»Und das war am Mittwoch?«, sagte Louise. »Und heute ist Samstag, und Sie haben ihm nicht sofort alles überschrieben?«

»Ich habe versucht, das Geld zu beschaffen.«

»Sie haben ihm nicht sofort alles überschrieben?«

»Das heißt nicht, dass mir nichts an meiner Familie liegt.«

»Sie. Haben. Ihm. Nicht. Sofort. Alles. Überschrieben.«

»Sie verstehen das nicht.«

»Ich verstehe es sehr gut – Sie haben ihm nicht sofort alles überschrieben. Die Verträge hätten vor Gericht nicht standgehalten. Sie hätten alles behalten und hätten eine Chance gehabt, Ihre Frau und Ihr Kind zurückzubekommen.«

»Und er hätte mir auf andere Weise das Kreuz gebrochen. Anderson ist ein Wahnsinniger, seine Handlanger sind Wahnsinnige. Wenn er sich in etwas verbissen hat, lässt er nicht mehr los. Wenn ich ihn vor Gericht gebracht hätte, hätte er uns alle umgebracht.«

 

Ein Uniformierter kam aus dem Haus und sagte: »Boss?« Seinem Gesicht waren wichtige Neuigkeiten abzulesen, und sie dachte, das war’s, Joanna Hunter ist tot, aber dann begann der Uniformierte zu grinsen.

»Sie werden es nicht glauben, Boss. Sie ist wieder da. Sie ist im Haus.«

»Wer? Dr. Hunter?«

»Dr. Hunter und das Baby. Und ein Mädchen.«

»Ein Mädchen?«

 

Was war das für ein Zaubertrick? Dr. Hunter saß auf dem Sofa in dem einst schönen Wohnzimmer. Sie trug eine saubere Jeans und einen weichen blauen Pullover, der aus Kaschmir sein musste. An den Ärmelsäumen befanden sich kleine Knöpfe aus Perlen. Es waren diese Kleinigkeiten, die in Widerspruch zu allem anderen zu stehen schienen. Sie sah sauber aus. Ihr Haar war feucht, als hätte sie gerade geduscht. »Das Baby schläft in seinem Bettchen«, sagte sie, bevor Louise fragen konnte.

Reggie saß neben ihr auf dem Sofa mit einer glücklichen milden Miene, als wäre sie entschlossen, kein Wort über nichts zu sagen. Joanna Hunter war vollkommen entspannt. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände gemacht habe«, sagte sie, als würde sie sich entschuldigen, weil sie zu spät zu einem Zahnarzttermin gekommen war.

»Ich war ein paar Tage weg. Leider erinnere ich mich an nichts mehr. Ich glaube, ich leide an temporärer Amnesie. ›Dissoziative Fugue‹ ist der medizinische Fachausdruck, wenn ich mich richtig erinnere. Ein von einem früheren Trauma ausgelöstes neues Trauma. Andrew Decker vermute ich. Und so weiter.«

»Und so weiter?«, wiederholte Louise.

Sie versuchte sich eine Verhörmethode für die beiden perfekten Lügnerinnen zu überlegen – sie wusste nicht, wie sie die Wahrheit herausfinden, geschweige denn sie verfolgen sollte –, doch das Problem wurde vertagt, weil jemand an die Tür klopfte. Karen Warner watschelte ins Zimmer.

»Entschuldige die Störung, Boss.« Sie atmete heftig, als wäre sie gelaufen. Sie würdigte die auf wundersame Weise wieder anwesende Joanna Hunter keines Blicks. Ihr Ausdruck war so grimmig, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

»O Gott«, sagte Louise und fasste sich ans Herz. »Es ist Needler, nicht wahr? Er ist wieder da«, und Karen sagte: »Ja. So ist es.«

»Jemand ist tot«, sagte Louise. »Ich seh’s deinem Gesicht an. Wer? Alison? Ein Kind? Alle Kinder?«

»Nein, Boss. Marcus.«

 

Touch-and-go. Ein komischer Ausdruck, wenn man darüber nachdachte. Marcus war im Operationssaal. Louise und Karen saßen in der verlassenen »Zufluchtsstätte« des Royal Infirmary. Nichtkonfessionelle grüne Zweige verwiesen auf Weihnachten.

»Was ist passiert?«, fragte Louise.

»Ich weiß es nicht, es ist alles ein ziemliches Durcheinander. Er hat den Funkspruch gehört und ist hingefahren, ich glaube, er war auf der Ringstraße, auf dem Weg zur Arbeit. Uniformierte aus der Gegend waren schon da, ich glaube, die Sache wurde etwas lässig gehandhabt. Sie wissen schon, die Frau, die zu oft ›Wolf‹ geschrien hat.«

»Lässig. O Gott.«

 

Needler hatte seine Familie die ganze Nacht mit entsicherter Pistole bedroht. Eins der Kinder schaffte es irgendwann, den Panikknopf zu drücken, und die Polizei war ausgerückt, »der erste Beamte am Tatort« klingelte an der Tür, Needler öffnete und schoss ihm in die Brust. Der »erste Beamte am Tatort« war Marcus. »Er trug keine kugelsichere Weste«, sagte Karen. »Er hätte auf die bewaffneten Kollegen warten sollen. Idiot.«

»Herz über Kopf«, sagte Louise. »Er wollte helfen.«

Als Karen und Louise ankamen, war alles vorbei – nur geweint wurde noch.

Needler war aus dem Haus gekommen, eine saubere Zielscheibe für einen sicheren Schützen, aber bevor sie schießen konnten, richtete er die eigene Waffe auf sich.

»Der Scheißkerl«, sagte Louise. Sie wäre gern dabei gewesen, wenn sie ihn umbrachten, sie hätte ihn gern mit den bloßen Händen zerrissen, wie eine rasende Mänade.

 

Marcus war in das Krankenhaus St. John’s in Livingston gebracht und dann ins Royal Infirmary nach Edinburgh verlegt worden, wo er operiert wurde.

Als der Chirurg aus dem Operationssaal kam, erkannte er Louise und hob minimal die Augenbrauen, eine winzige Geste, die Marcus’ Mutter entging, die Louise aber sah.

»Oh, Gott«, stöhnte sie.

»Glaub bloß nicht, dass Er helfen wird«, sagte Karen.

 

Louise stand am Fuß des Bettes. Marcus’ Mutter saß neben dem Bett, hielt die Hand ihres Sohnes. Er lag auf der Intensivstation und wurde künstlich am Leben erhalten.

»Er ist ein Einzelkind«, sagte seine Mutter. Sie hieß Judith, aber Louise konnte nur als »Marcus’ Mutter« an sie denken.

»Sein Vater ist tot«, sagte sie. »Ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass mir etwas passieren würde und er allein wäre.« Ein mutterloses Kind. Nun wäre sie eine kinderlose Mutter. Auch Louise verlor ihn, ihren süßen Jungen.

Ein Mädchen wurde von einer Schwester hereingeführt und setzte sich auf die andere Seite des Betts. »Das ist Ellie«, sagte Marcus’ Mutter zu Louise. Ellie grüßte keine von beiden, wenn sie Marcus mit der Kraft ihrer Gedanken hätte zurückbringen können, dann wäre er durchs Zimmer marschiert. Seine Mutter langte über seinen Körper und nahm die Hand des Mädchens. Mit der freien Hand streichelte sie die kurzgeschnittenen Locken ihres Sohnes. »Er ist so ein guter Junge«, sagte sie. »Er sieht aus, als würde er schlafen.«

Louise sagte: »Ja, das tut er.« Er tat es nicht. Er sah nicht aus, als würde er schlafen, niemand sah so aus, wenn er schlief, aber na und.

Er war bereits gegangen, er wartete nur noch, dass sie sich von ihm verabschiedeten. In die Unendlichkeit und weiter.