Die Ewigkeit des Lebens
Ein prunkvoller barocker Spiegelsaal, Menschen in prächtigen Kleidern, die auf und ab spazieren, Gesellschaftsgeplapper, Lachen, heitere Stimmung. Mittendrin eine Frau, umschwärmt von Kavalieren, die ihr schmeicheln. Zu Recht, denn sie ist wirklich wunderschön. Ihre rotbraunen Haare und die elfenbeinfarbene Haut wirken durch den weichen tannengrünen Samt ihres Kleides mit dem cremefarbenen Spitzenbesatz noch leuchtender. Aus einem anderen Saal weht leichte Barockmusik herüber. Die Frau bewegt sich zwischen den plaudernden Menschen durch den Raum, gefolgt von zwei schwarz gekleideten Herren, die Masken tragen. Ist dies ein Maskenball? Wohl kaum, denn die beiden Männer sind die einzigen maskierten Besucher und sie sind der Frau unheimlich. Sie beschließt, das Fest zu verlassen. An ihrem Schloss angekommen, bemerkt sie, dass die beiden »Kavaliere« ihr dicht auf den Fersen sind. Sie nimmt den Nebeneingang links, der über eine steile Wendeltreppe direkt in das Turmzimmer führt. Auf der Treppe wird sie angegriffen, ein Fechtkampf auf Leben und Tod beginnt. Sie schafft es, sich zu wehren und die Männer vorerst loszuwerden.
Die Frau verbarrikadiert sich im Turmzimmer. Die hölzerne Tür ist solide, sie besteht aus drei dicken Eichenbalken. Das Schloss hält den Angreifern jedoch nicht lange stand. Die Frau kann über eine Außentreppe fliehen, schnappt sich eines der Pferde, die die Männer vor dem Schloss stehen gelassen haben, und galoppiert los, flüchtet durch den lang gezogenen Schlossgraben, der aus einer einzigen riesigen Grasfläche besteht. Die Sonne steht schon tief. Die Frau reitet auf eine Mauer aus roten Backsteinen zu. Dahinter, in den Blumen- und Gemüsegärten des Schlosses, wird sie in Sicherheit sein. Doch einer der beiden »Kavaliere« ist ihr dicht auf den Fersen. Am Fuße der Mauer angekommen, rafft sie ihre Röcke und schwingt sich, auf dem Rücken des Pferdes stehend, die Mauer hoch. In diesem Augenblick ist ihr Verfolger so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem spüren kann. Der ranzige Geruch seines ungewaschenen, strähnigen Haars raubt ihr fast den Atem. Nur noch wenige Zentimeter – und sie ist oben auf der Mauer. Der Angreifer bekommt ihr Kleid zu fassen, das Geräusch von reißendem Stoff ist zu hören. Endlich oben auf der Mauer angelangt, sieht die Frau hinab auf die wunderschöne Gartenanlage mit dem kleinen Gärtnerhäuschen in der Mitte. Davor befinden sich Gemüsebeete, dahinter Obstspaliere. Und rechts und links des Häuschens eine Allee von getrimmten Buchsbäumen. Es ist heller Mittag und die Sonne blendet sie, während der bärtige, weißhaarige Gärtner lächelnd auf sie zukommt. Sein Gesicht ist voller Güte und Mitgefühl. Er trägt eine grüne Schürze und schiebt eine ebenfalls grüne Schubkarre vor sich her. Er winkt der Frau zu, einladend. Sie lässt sich fallen und weiß sich in Sicherheit.
Das, liebe Leser, ist keine Filmszene, weder eine, die ich selbst gedreht habe, noch eine, die ich im Fernsehen oder Kino gesehen habe. Die Geschichte stammt auch nicht aus einem historischen Roman. Und falls doch, habe ich dieses Buch niemals gelesen! Es ist vielleicht so etwas wie ein Traum – einer, den man über viele Jahre hinweg in exakt der gleichen Form immer wieder träumt und der immer an der gleichen Stelle endet. Es ist mein Traum und, wie ich eingangs erwähnte, meine ganz persönliche Erinnerung an ein anderes Leben.
Ich habe diese Geschichte nie wirklich ernst genommen, bis zu jenem Samstagnachmittag, an dem mein Mann und ich einen Ausflug in die Umgebung von Paris unternahmen. Wir stiegen aus der RER, der »Vorortbahn«, gingen im Bahnhof die Treppe nach oben, wendeten uns nach links – und ich dachte, mich trifft der Schlag. Ich sehe ein Schloss, das mir merkwürdig bekannt vorkommt. Wir erreichen den Schlosshof. In der Mitte befindet sich das Hauptportal, links davon eine kleinere Tür. Mein Blick wandert nach oben – ein kleines Türmchen … Das Schloss ist Touristen zur Besichtigung zugänglich, also zögere ich nicht lange. Mein Mann ist etwas irritiert, weil ich so zielstrebig losgehe. »Ich war schon einmal hier«, sage ich atemlos. Er versteht sofort, was ich meine, und folgt mir schweigend. Ich glaube, das Ganze ist ihm ein bisschen unheimlich. Hinter der Tür des Nebeneingangs führt eine steile Wendeltreppe nach oben. Die Stufen sind ausgetreten und ziemlich glatt. Am Ende der Treppe befindet sich eine schlichte, aus drei Längsbalken gefertigte Holztür, solide Eiche. Die Tür ist angelehnt. Wir gehen hindurch und betreten das Turmzimmer. Es gibt zwei Fenster, eines mit einem kleinen Austritt und einer schmalen Treppe, die in den seitlichen Schlosshof hinabführt. Der Mann an meiner Seite spürt meine Nervosität und schlägt vor, diesen Ort zu verlassen. »Weißt du, eigentlich wollte ich mit dir hierherkommen, weil hinter dem Schloss eine wirklich schöne Gartenanlage liegt.« Es reißt mich herum. »Wie bitte???« Hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch geglaubt, meine Fantasie spiele mir einen Streich, so war nun endgültig Schluss damit. »Wie kommen wir dorthin?«
»Ich denke, wir müssen wieder zurück auf die Straße, denn den Graben können wir ja wohl schlecht durchqueren.«
Die Straße führt schnurgerade an der linken Seite des Schlosses entlang. Rechter Hand befindet sich der einige Meter tiefer gelegene ziemlich breite Schlossgraben, eine große grüne Wiese, an deren Ende eine Mauer aus roten Backsteinen steht – ein nicht gerade »typisches« Mauerwerk für diese Gegend. Langsam wird mir richtig heiß. Zu Fuß die Straße entlang dauert der Weg natürlich um einiges länger als auf einem Pferd, noch dazu im gestreckten Galopp. Ich nutze diese Zeit, um meinen Mann aufzuklären, was da gerade passiert ist. Er sieht mich fasziniert an. »Je t’envie. Vraiment. – Ich beneide dich darum, dass du ein bisschen mehr von der Ewigkeit des Lebens weißt!«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das gut finde«, antworte ich, »es ist auch eine Belastung. Das ist sicher auch der Grund, warum wir uns nicht erinnern. Das wäre doch schrecklich. Stell dir das doch einmal vor!«
Inzwischen haben wir die Mauer erreicht. Und tatsächlich: Vor uns erstreckt sich eine wunderschöne Gartenanlage mit Gemüsebeeten im Vordergrund, dahinter befinden sich Obstspaliere, an den Seiten Buchsbäume. In der Mitte steht ein Gärtnerhäuschen, so, als wäre die Zeit stehen geblieben …
»Eines verstehe ich nur nicht«, sage ich nach einer Weile. »Warum hört dieser Traum oder diese Erinnerung, wenn du so willst, immer an der gleichen Stelle auf? Außerdem ist mir aufgefallen, dass – cineastisch gesprochen – ein gewaltiger ›Licht-Anschlussfehler‹ darin vorkommt: Die eine Szene spielt kurz vor Sonnenuntergang und dann ist es plötzlich heller Mittag. Da stimmt doch der »Anschluss« nicht!«
»Eh bien«, meint die Liebe meines Lebens, »du weißt nicht, was das Licht bedeutet? Denk doch einmal nach. Das Licht sehen … das war dein Tod. Du hast deinen eigenen Tod erlebt. In dem Moment, in dem du oben auf der Mauer warst, hat der Kerl dich umgebracht. Evidemment …«
Ich schnappe nach Luft und bin erst einmal sprachlos. Irgendwie will ich das alles gar nicht so genau wissen. Ich habe das Gefühl, durch eine »verbotene Tür« zu linsen und Dinge zu sehen, die mich im Grunde genommen nichts angehen. Es fällt mir ein, dass es immer wieder Kleinigkeiten in meinem Leben gegeben hatte, die mich irritierten. Warum hatte ich mich, ohne darüber groß nachzudenken, bei der Schönen Wilhelmine oft allein angezogen, noch bevor die Garderobiere kam? Woher wusste ich, welche »Unterbauten« bei den Kleidern wo hingehörten? Die komplizierte Schnürtechnik bei den Miedern erledigte ich mit links. Als ich bei der Probe für meine Hochzeit zum allerersten Mal in einem Damensattel saß, bin ich gleich losgaloppiert und fühlte mich viel sicherer und wohler. Französisch lernte ich in atemberaubender Geschwindigkeit relativ akzentfrei, ohne Unterricht zu nehmen, als wäre es immer schon irgendwo in den Tiefen meines Selbst gewesen …
Verehrte Leser, vielleicht sagen manche von Ihnen jetzt: »Die hat sie nicht mehr alle!« Ich kann es Ihnen nicht verübeln. Trotzdem habe ich den Entschluss gefasst, dieses Thema anzufassen und diese eine Geschichte – und es ist nicht die einzige – mit Ihnen zu teilen. Glauben Sie mir, ich bin Realistin genug, um solchen Dingen mit gesundem Zweifel zu begegnen, und ich bin auch kein Befürworter von sogenannten Rückführungen, einfach so zum Spaß. Wie schon gesagt, ich bin der tiefsten Überzeugung, dass es einen Grund gibt, warum wir uns nicht erinnern können. Wahrscheinlich würden wir sonst wahnsinnig werden mit all dem Leid, das wir in so vielen Leben erlebt haben. Wir würden vom Babyalter an einen Psychoklempner dauerbeschäftigen und das Krankenkassensystem würde zusammenbrechen.
Die Konfrontation mit meiner oder besser gesagt einer meiner Vorvergangenheiten fand in meinem jetzigen Leben genau zum richtigen Zeitpunkt statt. Nachdem die großen Themen wie Karma, Ursache – Wirkung und die Zehn Welten »abgehakt« waren, schien es nun offensichtlich an der Zeit zu sein, sich mit dem universellen Verständnis von Leben und Tod auseinanderzusetzen.
Meine Ansichten über den Tod haben im Laufe meines Lebens einen ordentlichen Wandel durchgemacht. Ich habe alle Möglichkeiten ausgelotet und in Betracht gezogen. Und ich habe hinter jeder Theorie, jeder Lehre immer wieder die gleichen Fragen gefunden: Warum sind wir hier und warum müssen wir sterben? Was bedeutet »leben«? Und was passiert nach dem Tod?
Seit Jahrhunderten bieten uns Philosophie und Religion für das Verständnis von Leben und Tod mehrere Möglichkeiten.
Erstens: Die westlich-christliche beziehungsweise jüdische und auch die islamische Lehre vertreten mit dem Konzept von Himmel und Paradies das Prinzip der »jenseitigen Erlösung«, mit einem Gott, der über allem wacht und den Tod gelegentlich auch als »Strafmaßnahme« einsetzt.
Zweitens: Als krasses Gegenbeispiel gibt es die aufgrund von rationaler, nihilistischer Betrachtungsweise völlige Ablehnung eines oder mehrerer göttlicher Wesen. Der Tod bedeutet somit komplette »Auslöschung«, das Auflösen und Verschwinden in einem totalen Nichts. Alles wird abgelehnt, was sich nicht bombenfest beweisen lässt.
Drittens: Die Vorstellung von der Seelenwanderung der individuellen Seele mit Persönlichkeitsstruktur funktioniert in etwa nach dem Motto »Neues Spiel, neues Glück«. Viele von Ihnen, liebe Leser, halten dieses Konzept vermutlich für recht pragmatisch. Ich selbst tue das inzwischen auch.
Es gibt noch einen vierten Ansatz, der für mich am meisten Sinn macht und der die wenigsten Fragen offenlässt. Doch gehen wir zunächst einmal die ersten drei Wege kurz durch.
Nummer eins: Wir im christlichen Westen sind seit Jahrhunderten daran gewöhnt, dass der Tod das Ende vom Leben ist und damit eine Tragödie, weil dann alles vorbei ist. Diese Einstellung prägt unser gesamtes Leben und verdirbt uns mitunter gewaltig den Spaß daran. Außerdem raubt sie uns Energie, weil wir uns schon zu Lebzeiten vor dem Moment des Todes fürchten. Es drängt sich der Gedanke auf: »Wir leben, um zu sterben.«
Ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich auf den eigenen Tod, denn die Tatsache, dass das Ableben eines Menschen, der uns nahesteht, einfach schrecklich ist, weil wir etwas verlieren, das wir lieben, liegt auf der Hand. Der Verlust tut weh. Und dieses Gefühl ist einfach menschlich und somit religionsübergreifend. Auch in Asien habe ich Menschen bei Totenfeiern weinen sehen, trotzdem scheinen sie gelassener damit umzugehen, da sie lediglich den Verlust betrauern, nicht aber die »schreckliche Tatsache, dass dieser arme Mensch jetzt tot ist«. Das ist ein gewaltiger Unterschied!
Die christliche, jüdische und die islamische Lehre bieten als Trost – denn Trost braucht der Mensch nun einmal – den Himmel beziehungsweise das Paradies an. Ob das aber lebensbejahend ist? Ich weiß nicht. Lohnt es sich denn angesichts der Aussicht auf ein Paradies, in dem per se alles besser ist, überhaupt, sich durch ein irdisches Dasein zu quälen? Islamische Fundamentalisten, die mit Flugzeugen in Wolkenkratzer fliegen und dabei auch den eigenen Tod bereitwillig in Kauf nehmen, sind offenbar nicht wirklich dieser Ansicht. Unsere westliche Literatur ist voller Figuren, die auf Erfüllung im Jenseits hoffen, von Märtyrern über Lyriker, die »Komm, süßer Tod« beschwören, bis zu Liebenden mit Romeo und Julia als Paradebeispielen.
Der fast morbid-erotische Umgang mit dem Tod in früheren Jahrhunderten wurde in jüngster Zeit übrigens in dem Musical Elisabeth in Form einer Liebesbeziehung zwischen dem Tod und der Kaiserin sehr schön verständlich auf die Bühne gebracht, angelehnt an die große Lovestory in Jean Cocteaus Theaterstück Der Doppeladler: Die lebensüberdrüssige Kaiserin begegnet und verfällt dem jungen Terroristen, der ihr Mörder sein wird.
Natürlich gibt es auch jenseits von alledem jede Menge gläubige Christen, die sich darum bemühen, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen, und sich schlichtweg auf ein »weiches Himmelbett« zum Ausruhen freuen, die ein »Leben in Liebe« leben, um nach ihrem Tod, jenseits von Zeit und Raum, in »Gottes Liebe« aufgenommen zu werden. Andere wiederum achten nur deshalb auf ein anständiges Leben im Diesseits, weil sie »Gottes Gericht« fürchten und nicht ewig »in der Hölle schmoren« wollen. Doch woher kommt diese Angst? Ein jenseits von Zeit und Raum existierendes Wesen (Gott) kann das wohl kaum erzählt haben. Nein, diese Botschaft wird von den »Instanzen« verbreitet, von der Kirche oder dem, wie ich es gerne nenne, »Bodenpersonal«. Damit ist der gottesfürchtige Mensch in Wahrheit ein dogmenfürchtiger Mensch. Dogmen werden aber in der Regel von Menschen erhoben, die Macht ausüben, also sind jene, die ihnen folgen, automatisch fremdbestimmt. In der heutigen aufgeklärten Welt, in der Menschen durchs All fliegen und die Wissenschaft so viele Fragen beantwortet hat, ist das mit der Fremdbestimmung allerdings nicht mehr so einfach. Klar, man kann unbeirrt an seinem Glauben festhalten, in der christlichen Kirche wird das jedoch immer schwieriger. Werte wie die allumfassende Liebe, der wir entstammen und in die wir zurückkehren, Werte, die einst selbstverständlich waren, gehen immer weiter verloren. Ich glaube, die Problematik liegt darin, dass die christliche Kirche ungeachtet der Erkenntnisse, die wir inzwischen über das Leben und den Tod gewonnen haben, an alten Mustern und Dogmen festhält. Da fällt es schwer, an ein Paradies jenseits von Zeit und Raum zu glauben. Vor einigen Jahrhunderten, als die Menschen noch weniger »zivilisiert« waren, war der Tod zwar schrecklich, aber irgendwie »normal«. Heute, in unserer hoch entwickelten Kultur, wird er verdrängt und wegrationalisiert. Und leider liefern jedoch weder die Wissenschaft noch die Kirche klare Antworten zum Beispiel auf die Fragen, warum man überhaupt sterben muss (die Antwort »Materialermüdung« seitens der Wissenschaft ist wohl mehr als dürftig) oder warum Menschen schon in jungen Jahren aus dem Leben gerissen werden oder zu Tausenden bei einem Erdbeben sterben (die Antwort der Kirche, dies sei als Prüfung Gottes zu verstehen, finde ich mega-unbefriedigend!).
Nummer zwei: Angesichts der verloren gegangenen christlichen Werte verwundert es nicht, dass sich inzwischen immer mehr Menschen der »Gott ist tot«-Theorie Nietzsches anschließen und damit auch das Thema Tod unter diesem Aspekt betrachten. Nach dieser Auffassung gibt es kein Leben nach dem Tod, alles ist nur Leere und es ist aus und vorbei. Folgerichtig heißt das also für die Zeit hier auf Erden: freie Fahrt für ein Leben ohne Moral, Rücksicht und Verantwortung, ausgerichtet auf Macht und Geld und »Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll«. Wie praktisch! Für mich ist eine solche Einstellung undenkbar! Wie blind muss man sein, um nicht zu erkennen, dass alles in der Natur einer gewissen Gesetzmäßigkeit unterliegt und somit im Kleinen wie im Großen einen Sinn ergibt? Man muss nur genau hinsehen. Lediglich unser menschliches Dasein soll ohne Sinn und Bedeutung sein und im Dunkel des ewigen Nichts verschwinden? Mit dieser Einstellung macht es somit gar keinen Sinn, ein sogenanntes anständiges Leben zu führen. Wozu auch? Und es gibt ebenfalls keine Antwort auf die Frage »Warum sind wir hier?«. Nein. Diese Auffassung ist nichts für mich!
Nummer drei: die Seelenwanderung. Es ist wichtig, die einmal ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Nahezu alle Berichte von Nahtoderfahrungen enthalten Beschreibungen des sich aus dem eigenen Körper Herauslösens und des Gefühls, durch eine Art Tunnel in ein helles Licht zu fliegen, das magische Anziehungskraft besitzt. In diesem Licht hört dann meistens alles auf. Das bedeutet, dass außerhalb des Körpers noch irgendeine Art von »Bewusstsein« vorhanden ist. Die Vorstellung von der Existenz eines körperlosen Individuums aus reiner Energie, genannt Seele, die fortbesteht, auch wenn der Körper nicht mehr da ist, findet man in frühbuddhistischen Lehren ebenso wie in der christlichen. Anders als in der christlichen Anschauung ist im Buddhismus die Seele jedoch ein Wandergeselle. Sie manifestiert sich undendlich viele Male, immer wieder in einem anderen Körper, den sie sich ihrer eigenen Entwicklung entsprechend aussucht, bis sie dann, endlich erlöst, ins Nirwana oder Paradies gelangt. Wohin diese allerletzte Reise genau geht, wird in der frühen buddhistischen Lehre allerdings nicht erklärt! Interessanterweise gab es, wie bereits erwähnt, das Konzept der Seelenwanderung vor langer Zeit auch im Westen, bei den alten Griechen und – ja, tatsächlich – ebenfalls im frühen Christentum. Die Christen waren jedoch der Meinung, dass das Prinzip »Neues Spiel, neues Glück« die Menschen davon abhält, ein gutes, bedeutungsvolles Leben zu führen – ähnlich wie beim Film: Es macht nichts, wenn der erste Take misslingt, es gibt immer einen zweiten, dritten oder vierten mit der Chance auf Verbesserung. Auch die kirchlichen »Instanzen« begriffen schnell, dass es ihrer Machtausübung dienlich ist, wenn es nach einem einzigen Leben heißt: »Rien ne va plus«, und wenn die Angst vor der Hölle, die keine Möglichkeit der Wiedergutmachung bietet, hochgehalten wird.
In der buddhistischen Philosophie ist die Seelenwanderung jedoch geblieben. Allerdings gibt es hier einige grundlegende Unterschiede. In Indien zum Beispiel wird die Seelenwanderung noch relativ simpel betrachtet, denn der indische Hinduismus basiert auf den ganz frühen Lehren Buddhas, Hinayana oder auch »Kleines Fahrzeug« genannt. Dort ist »Karma« das unabänderliche »Schicksal« (die geschickte Mühsal), dem man nicht entrinnen kann. Die Seele wird immer wieder geboren und muss sich langsam hinaufarbeiten. Wenn man sich in einem Leben nicht anständig benimmt, geht es sofort wieder rückwärts Richtung Ameise, Hamster oder – noch schlimmer – Amöbe. Dann beginnt alles wieder von vorn – wie beim »Mensch ärgere Dich nicht«-Spiel. Das würde doch heißen, ein Leben möglichst schnell hinter sich zu bringen, denn – wenn’s nicht so der Knaller ist – macht ja nichts, kann ja beim nächsten Mal besser werden. Neues Spiel mit neuen Chancen. Man sollte sich nur einigermaßen anständig benehmen, denn sonst droht, wie gesagt, der Rückwärtsgang, der ein wenig lästig ist, möchte man doch so schnell wie möglich ins Nirwana, damit diese mühsame Herumreiserei endlich aufhört. Selbstmord ist allerdings keine Option, das verstößt gegen die Spielregeln und wäre ja auch zu einfach. Aber man kann fasten und sich zu Tode hungern.
Der Glaube an ein »Kismet«, das viele Wiedergeburten voraussetzt, um endlich das Paradies zu erreichen, ist nicht nur in Indien, sondern auch in einigen Teilen Westasiens sehr verbreitet. Immerhin ist in diesem Glauben der Tod eine ganz normale Sache, eine Tatsache, die zum Leben gehört. Allerdings stellt sich die Frage, wozu die vielen Umwege nötig sind. Im Vergleich dazu erscheint das Christentum doch wesentlich einfacher und übersichtlicher. Nicht ganz. Denn bei dieser Überlegung darf man nicht außer Acht lassen, dass die individuelle Seele angesichts der zahlreichen Reinkarnationen sehr viel lernt! Und zwar ohne einen Gott, der belohnend oder strafend dazwischenfunkt.
Nichtsdestotrotz sind die frühen Lehren Buddhas ebenso jenseitsbezogen wie die christliche Lehre. Es geht nicht um das Leben selbst, das Hier und Jetzt. Ist es nun ein besserer »Trost«, wenn ich weiß, dass ich nach meinem Tod wieder auf die Welt kommen werde und sich alles wiederholt? Dass ich das alles durchlaufe, um letztendlich – dem gleichen Erlösungsgedanken folgend – im ersehnten Paradies zu landen? Vorausgesetzt natürlich, ich bin »brav«. Und wo turnen denn bitte schön die gerade einmal nicht inkarnierten »Seelen« herum? Im Weltall? Und was ist mit dem Paradies? Müsste man das nicht auch sehen können – vielleicht auf »Google Maps Universe«? Das müsste sich doch heutzutage energetisch messen lassen.
»Klar sind die Seelen da irgendwo!«, werden jetzt diejenigen unter Ihnen sagen, die Erfahrungen mit Parapsychologie und Channeling haben und mit ihren »Toten« sprechen. Mir persönlich ist das zutiefst suspekt. Meiner Meinung nach sind das Dinge, die sich nur in unserem eigenen Bewusstsein spiegeln: Ich habe ein energetisches Band mit jemandem geknüpft, das so lange in meinem Unterbewusstsein besteht, bis ich es loslasse. Es ist nur eine Illusion. Und die Widerspiegelung unserer Erinnerungen ist wie ein Theaterstück in unseren Köpfen. Es gibt Versuche, diese Phänomene wissenschaftlich zu erklären, PSI-Factor und andere Fernsehserien präsentieren uns angeblich von Experten beglaubigte Erklärungen für paranormale Ereignisse. Doch die Wissenschaft ist längst nicht so wissend, wie sie behauptet zu sein. Das Mystische Gesetz des Universums geht über unser Verständnis hinaus und lässt sich einfach nicht wissenschaftlich erklären.
Dass ich an Reinkarnation glaube, dürfte Ihnen schon anhand der eingangs erzählten Geschichte klar geworden sein. Ich bin zutiefst davon überzeugt, denn mir sind von anderen Menschen ähnliche Erlebnisse bekannt. Und ich meine damit nicht solche albernen »Rückführungsspielchen« vor laufender Kamera, wie sie vor Kurzem im TV bei Fräulein Katzenberger in Natürlich Blond zu sehen waren.
Doch gehen wir weiter. Aus den späteren Lehren Buddhas entwickelte sich der Mahayana-Buddhismus, auch »Großes Fahrzeug« genannt, der über China nach Japan gelangte und inzwischen den Weg Richtung Westen angetreten hat. Er eröffnet uns eine vierte Form des Verständnisses von Leben und Tod.
»Fais tes affaires«, sagte mein Ehemann eines schönen Abends zu mir, »pack ein paar Sachen zusammen. Wir fahren übers Wochenende ans Meer.« Herrlich! Es war Herbst und wie es aussah, würden wir schönes Wetter haben. Am nächsten Morgen wirft mich mein Liebster, den ich in diesem Moment zum Teufel wünsche, um vier Uhr aus dem Bett. »Sind wir auf der Flucht?«, knurre ich unwirsch.
»Nein, aber ich möchte, dass du es so erlebst, wie alle Franzosen es kennen.« Ich verstehe kein Wort. »Patience, ma petite. Du wirst schon sehen.« Du meine Güte, was hat er nun wieder vor?! In der Dunkelheit klemme ich mich hinter das Steuer meines Wagens. Wir fahren los. Schweigend. Ich bin wirklich noch nicht richtig wach. »Un homme et une femme«, sinniert der Mann an meiner rechten Seite vor sich hin. »Ein Mann und eine Frau.«
Ja, was denn sonst?, denke ich, allerdings hätte er höflicherweise die Frau zuerst nennen können …
Da wir antizyklisch fahren – die meisten müssen zur Arbeit nach Paris hinein und nicht aus der Stadt hinaus –, geht es recht flott voran. Nach gut zwei Stunden kann ich schon das Meer riechen. Es wird langsam hell, doch leider fängt es an zu regnen. »Oh bitte nicht!«
»C’est génial!«, freut sich mein Liebster und ich zweifle gerade erheblich an seinem Verstand. Er fingert eine Musikkassette aus seiner Jackentasche und steckt sie in den Rekorder. Ich werfe ziemlich frustriert die Scheibenwischer an.
»Commes nos voix ba da ba da da, da ba da da ba da ba da …«, tönt es aus den Lautsprechern. Dieser Mann ist unglaublich! Er inszeniert unsere Wochenendfahrt wie den berühmten Film von Lelouche Un homme et une femme – Ein Mann und eine Frau. Und der Himmel spielt auch noch mit. Wie süß! Ich bin total gerührt, als wir im Regen genau wie die beiden Protagonisten Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant szenengetreu in die Hauptpromenade von Deauville einbiegen. Jetzt müssten nur noch die Scheibenwischer quietschen, dann wäre es perfekt …
Nach einem ausgiebigen Frühstück am Strand unter großen weißen Schirmen – der Regen hat inzwischen aufgehört – spazieren wir noch eine Weile die Promenade entlang. Es ist traumhaft. Kein Wunder, dass der Film hier gedreht wurde! »Lass uns weiterfahren«, meint mein Ehemann schließlich. »Ich möchte dir etwas zeigen!« Da solche Initiativen noch nie in einer Enttäuschung geendet haben (ganz im Gegenteil!), vertraue ich ihm auch nun wieder blind und lasse ihn dirigieren. Ich fahre und er sagt an. Ich bin gespannt, was mich erwartet.
Ein knappes Stündchen später durchqueren wir den süßen kleinen Ort Honfleur mit seinen weißen Holzhäusern. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Wenig später erreichen wir die Felsen von Étretat. Was für ein Anblick. Ich will ganz nah ran, diese gewaltigen Felsen hautnah erleben und den Sand unter meinen Füßen spüren. Wir finden einen Weg, der zum Strand führt. Scheinbar kilometerhoch türmen sich die Klippen über mir auf, ich fühle mich ganz klein. »Wir haben Glück, es ist gerade Ebbe. Komm, nicht trödeln!«, treibt mich mein Liebster an. Man kann unter den Felsen hindurchgehen wie durch ein großes Tor und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern. »Wenn du aber noch nicht unter den Felsen durch bist, wenn die Flut kommt, siehst du ziemlich alt aus«, bemerkt mein Ehemann trocken, »du kannst weder vor noch zurück. Hier passieren jedes Jahr einige schlimme Unfälle!« Und schwimmen? Beim Anblick der Brandung streiche ich diese Option augenblicklich aus meinen Überlegungen. Also spurten wir los, klettern durch den gigantischen Bogen im Stein, direkt vor unseren Füßen das Meer. Ein atemberaubendes Erlebnis! Auf der anderen Seite angekommen, ist Fitnesstraining angesagt. Schweigend stapfen wir auf dem gewundenen Pfad die Klippe hinauf auf das grüne Plateau. Mein Mann ist sehr still und nachdenklich geworden. Er setzt sich ins Gras und blickt weit aufs Meer hinaus. »Was ist los?«, will ich wissen.
»An dieser Stelle ist vor zwölf Jahren mein kleiner Bruder verunglückt. Sie haben eine Rallye gemacht, tu sais … comme dans le film de James Dean. Ich wollte dir diesen Ort zeigen. Es bedeutet mir viel.«
Ich schweige, da ich nichts Sinnvolles zu sagen weiß. Worte sind oft so banal. Die Liebe meines Lebens legt die Handflächen aneinander – und chantet. Und ich denke wieder einmal darüber nach, wie »ungerecht« das Leben oft scheint.
»Er war der Sonnenschein der Familie«, sagt mein Mann nach einer Weile, »meine Mutter hat seinen Tod nie verwunden. Übrigens hatte er eine deutsche Freundin« – ein Lächeln huscht über sein Gesicht – »ich führe eben die Familientradition fort.«
»Glaubst du, seine Zeit auf Erden war einfach zu Ende? Wo ist seine Seele hingegangen? Was sagt eigentlich unser Buddhismus dazu? Das, was ich bisher weiß und gelernt habe, befriedigt mich ehrlich gesagt noch nicht so ganz. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht verstanden.«
»Weißt du, was ich glaube?«, sagt mein Liebster nachdenklich. »Die Menschen haben Angst vor dem Tod, weil sie vergessen haben, dass das Leben ewig und unzerstörbar ist. Denn damit ist es irrelevant, wie lange man auf dieser Erde ist. Die Menschen machen sich einen Wahnsinnsstress, indem sie denken: Morgen ist vielleicht alles vorbei. Also kaufen sie alles, was sie kriegen können, auch wenn sie es sich nicht leisten können. Schulden? Egal! Gibt es in meinem Leben Konkurrenz? Dann muss ich sie möglichst flächendeckend ausschalten. So rennen sie der Zeit hinterher, können nicht genug davon bekommen oder einsparen, je nachdem, denn, wie gesagt, morgen ist es vielleicht vorbei, die Uhr tickt. Die Menschen sind fremdbestimmt durch die ›Drei Gifte‹: Gier, Ärger, und damit meine ich den Konkurrenzkampf, und Dummheit. Das wird so lange nicht aufhören, bis wir endlich erkennen, dass das Leben ewig ist. Ich sagte es schon: Ich habe meinen Bruder sterben sehen und gespürt, dass er keine Angst hatte zu gehen. Er hat es gewusst. An diesem Tag habe ich endlich begriffen, worum es geht, warum ich der buddhistischen Praxis begegnet bin, warum ich chante. Es geht um so viel mehr, als sich hier auf Erden ein schönes Leben zu schaffen.«
»Und? Hast du deine Angst verloren?«, frage ich. Die Antwort war ein klares Ja.
»Ikeda hat einmal gesagt: ›Bei der Frage nach dem Tod geht es eigentlich um die Frage nach dem Leben. Solange die Frage nach dem Tod unbeantwortet bleibt, kann das Leben nicht wirklich erfüllt sein.‹ Mein Bruder hat die Antwort gewusst.«
»Aber was ist die Antwort? Kennst du sie?«
Ich erinnere mich sehr gut an diese Szene in meinem Leben. Es war ein bedeutender Moment, ein wichtiger Schritt zum Verständnis der fundamentalen Frage nach Leben und Tod. Mir wurde damals klar, dass ich mit meinem Halbwissen und meiner selbstgestrickten Theorie über den Tod von einem tieferen Verständnis noch weit entfernt war. Ich glaube, es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, dem ich dankbarer sein könnte als meinem Mann – dankbar dafür, dass er mir dieses immens wichtige Thema nahegebracht und mir Klarheit gegeben hat. Auch wenn wir inzwischen nicht mehr zusammen sind, hat er schon allein deswegen einen ewigen Platz in meinem Herzen.
An dem Tag, als ich mich von meiner Mutter verabschiedet habe, habe ich gespürt, dass das alles richtig so ist und dass die Angst nur in unserer Illusion besteht. Ich habe ihr ein leises Nam Myoho Renge Kyo ins Öhrchen geflüstert. Erst hat sie mich aus tiefblauen Augen erstaunt angesehen, dann folgte ein Lächeln, als ob sie sagen würde: »Ach ja, stimmt, diese Tasche sollte ich unbedingt mitnehmen auf meine Reise. Es war friedlich, hell und warm, nicht dunkel, kalt und trostlos, wie man im Allgemeinen annimmt.
So, Ihr Lieben, an dieser Stelle brauche ich eine Pause. Zu viele Bilder und Gedanken – wie Hummeln in meinem Kopf.
Ich werde nun meinen mit Teekannen und Mineralwasserflaschen vollgestellten Schreibtisch verlassen, mir etwas Warmes anziehen – man friert ja immer ein bisschen beim Fasten – und einen Spaziergang auf der Kurpromenade machen. Der Nebel über dem Bodensee hat sich inzwischen verzogen und gibt ein herrliches Panorama frei. Die Sonne kämpft sich langsam durch die Wolken. Ich setze mich, in meinen dicken Daunenmantel gehüllt, in der »Freiluft-Raucher-Lounge« vor dem Strandcafé in einen der weißen Korbsessel und bestelle mir verbotenerweise einen Kaffee, allerdings schwarz, ohne Milch und Zucker. Eine lässliche »Sünde«, befinde ich. Mein Kreislauf braucht einfach einen kleinen Schubs an diesem Nachmittag.
Ich habe das Geschriebene zum Weg Nummer vier noch einmal durchgelesen. Damals, an jenem Wochenende in der Normandie, unternahm ich die ersten Schritte …
»Wenn ich das also richtig verstehe«, nahm ich den Faden wieder auf, dem Gespräch mit meinem Mann eine etwas wissenschaftlichere Wendung gebend, »geht der Buddhismus konform mit der Evolutionstheorie.« – »Ja und nein, » entgegnete mein Mann, »in der Evolutionstheorie geht es zwar um das Entstehen von Leben, seine Entwicklung und anschließenden Auslöschung durch Tod …« »›Werden und Vergehen‹, wie die Dichter sagen«, unterbrach ich, weil ich fand, dass das gerade so schön passte. »Schon richtig, nur darfst du nicht vergessen: In der Evolution geht es ausschließlich um Materie und die eher oberflächliche Entwicklung des menschlichen Daseins in einer zeitlichen Abfolge. Der Buddhismus geht weit darüber hinaus. Daisaku Ikeda hat dazu Folgendes gesagt: ›Unsere Leben existieren und existierten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer gleichzeitig mit dem Universum. Sie sind weder vor dem Universum noch durch einen Zufall entstanden und sind auch nicht von einem übernatürlichen Wesen erschaffen worden. Nichiren lehrte, dass das Leben und der Tod die abwechselnden Erscheinungsformen unseres wahren Ichs sind und dass beide zum Wesen des Kosmos gehören.‹ Wie du siehst, ist dieser Rhythmus von Leben und Tod weitaus mehr als die Abfolge von ›Werden und Vergehen‹, wie du es eben so schön gesagt hast.«
»Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«, grinste ich. An Shakespeare komme ich einfach nicht vorbei.
»Ich weiß, dass das dein Lieblingsautor ist. Und eigentlich liegt er ziemlich richtig damit, ich muss ihn nur ein bisschen korrigieren. Es muss heißen: Sein und Nichtsein, es gibt kein ›Oder‹. Tu peux me suivre – kannst du mir folgen?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Bien. Du kennst Ke und Ku, den geistigen und den physischen Aspekt des Lebens, ja?« Ich nickte. »Und wenn ich ›Leben‹ sage, dann meine ich das ›große Ganze‹, nicht nur das, was gerade hier auf der Erde stattfindet. Okay? Es ist wichtig, dass du verstehst, dass eigentlich alles permanent, immer und ewig, existiert – oder auch nicht existiert – je nachdem, wie die Bedingungen sind.«
»Du meinst, dass die, nennen wir es einmal ›Nichtexistenz‹, dass sie das sichtbare Leben, also die ›Existenz‹ in sich trägt. Wenn also zum Beispiel eine Eizelle befruchtet wird, ist die Bedingung geschaffen, dass das Unsichtbare sichtbar wird. Es fängt aber nicht erst dann an zu leben.«
»Tout à fait vrais! Im Buddhismus gibt es die ›Fünf Bestandteile‹: Gestalt, Wahrnehmung, Vorstellungsvermögen, Wille und Bewusstsein. ›Verschmelzen‹ diese sozusagen miteinander, sind die Bedingungen geschaffen für ein Leben im Hier und Jetzt.«
»Und dieses Leben existiert so lange«, klinkte ich mich ein, »bis diese ›Fünf Bestandteile‹ sich wieder auflösen. Der Körper, die Gestalt zerfällt, damit sind die Wahrnehmung und das Vorstellungsvermögen, also unsere Sicht der Dinge, ausgelöscht und somit auch der Wille und das Bewusstsein. Das entspricht doch genau dem wissenschaftlichen Prinzip des Zusammenwirkens von Genen, Atomen und Molekülen, die einen Körper bilden!«
»Ich habe dir immer schon gesagt: Buddhismus ist Ratio, also Vernunft! Und vernünftig wäre auch, jetzt langsam zu gehen«, fügte mein Liebster mit einem Lächeln hinzu. »Die Sonne geht gleich unter, dann wird es ganz schön kalt hier oben.«
»Ja, aber …«, ich war mit den bisherigen Erkenntnissen noch nicht zufrieden, »wohin verschwindet dann die Energie, ich traue mich ja schon gar nicht mehr, ›Seele‹ zu sagen? Geht sie zurück in die Nichtexistenz?«
»Lass uns morgen darüber sprechen. – C’est déjà beaucoup pour aujourd’hui – ich denke, das reicht für heute. Außerdem manifestiert sich gerade so etwas wie Hunger in mir. Und der ist ziemlich existent!« Damit beendete er charmant, aber bestimmt die Diskussion.
»Nicht die Dinge selbst beunruhigen den Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen. So ist der Tod nichts Furchtbares – nein, die Vorstellung vom Tode, er sei etwas Furchtbares, das ist das Furchtbare,« sagte der griechische Philosoph Epiktet.
Genau um mit dieser »Vorstellung« einmal gründlich aufzuräumen, wurde dieser Wochenendtrip unternommen. Und ich sollte auch bald erfahren, warum wir unbedingt ans Meer fahren mussten.
Am nächsten Morgen nahmen wir bei strahlendem Sonnenschein die Küstenstraße in Richtung Süden, passierten noch einmal Honfleur und Deauville und gelangten nach Sainte-Mère-Église. Dieser Ort steckt voller Geschichte. Die Kirche, auf deren Dach im Jahr 1944 Fallschirmspringer gelandet waren, kennt vermutlich jeder, und sei es nur aus dem Hollywood-Film Der längste Tag. Ich versichere Ihnen, falls Sie selbst noch niemals in Sainte-Mère-Église gewesen sein sollten: Es sieht dort haargenau so aus wie im Film. Wir ließen das Auto stehen und spazierten zum Strand.
Auf dem graugelben Sand zwischen den lang gestreckten Dünen liegen Überreste von Gefechtsständen und bröckelnder, grauer Beton von ehemaligen Bunkern – Mahnmale aus einer Zeit, die Krieg und Tod bedeutet hatte und die hoffentlich nie wiederkehrt. Hand in Hand gehen der Mann meines Lebens und ich die Dünen hinunter. Er, der Franzose, ich, die Deutsche. Einstmals Feinde. Noch gar nicht so lange her. Unter dem Aspekt der Ewigkeit betrachtet nicht einmal einen Atemzug. Wir schweigen. Sind dankbar dafür, dass uns heute, im Hier und Jetzt, keine Instanzen, keine Regierungen und Grenzen daran hindern, unsere Liebe zu leben. Doch das gestrige Thema lässt mich nicht los. Es gibt noch so viele Fragen.
»Also«, unterbreche ich das Schweigen, »wo geht die Seele oder – wenn du so willst – die Energie hin? Welchen Weg nimmt das, was nach der physischen Auflösung übrig bleibt?« Ich vermeide es, konkret die Frage nach der Seele des verstorbenen Bruders zu stellen, doch mein Mann greift das Thema selbst wieder auf.
»Regarde, ce qui concerne mon frère – was meinen Bruder betrifft, so ist er auf gewisse Weise noch mit mir, mit uns verbunden.«
»Also glaubst du wirklich an diesen parapsychologischen Quatsch mit Geistern und …« Ein finsterer Blick trifft mich und lässt mich augenblicklich verstummen. »Okay, ist ja gut. Ich halte schon die Klappe.« Ich beschließe, augenblicklich eine »brave Schülerin« zu sein.
»Was ich sagen wollte«, setzt mein »Meister« wieder an, »im Christentum werden individuelle Lebewesen geschaffen und zerstört. Der geistige Teil eines Individuums ist als ›Seele‹ selbst ein Individuum und besteht in irgendeiner jenseitigen religiösen Geisterwelt fort. Somit nutzt ein anständig gelebtes Leben nur dieser einen Seele allein, sie gelangt entweder in den Himmel oder in die Hölle. Im Buddhismus ist das einzelne Lebewesen in den Kontext des gesamten Universums eingebettet. Im Tod stirbt nicht das Leben, sondern nur die Gestalt, die es angenommen hat.«
»Oui, maître«, sage ich artig, »das haben wir gestern durchgenommen. Und ich habe es sogar verstanden!«
»Dis-donc! Tatsächlich? Aber Spaß beiseite: Die Dinge verändern nur ihre Form. Das Universum lebt ewig.«
»Woher weißt du das? Bist du dir da so sicher?«
»Beweise mir das Gegenteil. Mach die Augen auf in der Natur. Alles ist ein ewiger Kreislauf. Denk mal an den Kirschbaum vor unserem Haus. Wenn wir es nicht besser wüssten, würden wir jeden Winter sagen: Der Baum ist tot. Die Blüten sind aber trotzdem da, sie sind nur nicht sichtbar, weil die Umstände noch nicht passen. Im Frühjahr, wenn es wieder warm wird, können wir sie dann sehen. Alle Lebewesen sind Teil dieses Kreislaufes, wie verschieden sie auch sein mögen. Und was speziell uns Menschen betrifft: In diesem Fall nutzt ein anständig gelebtes Leben dem gesamten Universum.«
»Das heißt, wenn ich mir selbst etwas Gutes tun will, muss ich zum Beispiel nett zu dir sein!«
»Sei nicht so albern! Aber im Prinzip hast du recht. Doch was die individuelle Seele betrifft, die solltest du erst einmal vergessen. Im Buddhismus gibt es das nicht. Aber es gibt so was wie das »Wahre Wesen des Lebens«, wie Nichiren Daishonin es nennt.«
»Du sprichst von Entität?«
»Richtig. Aber das ist so ein komplizierter philosophischer Begriff. Wer versteht den schon? Nennen wir diese ›Entität‹ einfach das ›Seiende‹ oder ›das, was immer ist‹. Die Entität des einzelnen Lebewesens ist sozusagen der immer und ewig bestehende ›Kern‹, in der Vergangenheit und in der Zukunft, in allen Existenzen, also auch in der Nichtexistenz, und – ganz wichtig: alle diese ›Entitäten‹ sind miteinander verbunden und somit Teil des großen Ganzen.«
»Das heißt, sie sind nicht individuell und unabhängig?«
»Nein. Niemand ist eine Insel …«
»John Donne. Ich weiß. Das ist ein schönes und sehr passendes Bild. Vor allem wenn man sich vorstellt, dass jemand am Meeresgrund den Stopfen rauszieht und das Wasser ablässt. Dann sieht man’s deutlich.«
»So kann man es natürlich auch sehen«, lacht mein Mann, »was aber noch nicht erklärt, wie dann die individuelle Persönlichkeit, also die ›Identität‹ entsteht.«
»Die ›Fünf Bestandteile‹?« frage ich. Darüber hatten wir doch gestern kurz gesprochen. »Bravo, Mademoiselle, gut aufgepasst!«, lobt mich mein »Meister«. »Und wenn die ›Fünf Bestandteile‹ zusammenkommen, entsteht ein menschliches Ich mit einer kurzfristigen ›Identität‹, die Aussehen und Charakter bestimmt. Natürlich verändern wir uns, wir werden älter …«
»… verlieren Haare und Zähne. Und kriegen Falten«, unterbreche ich.
»Du noch lange nicht«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
»Sehr lieb, dankeschön!«
»Avec plaisir. Oft verändern wir auch unseren Charakter, je nachdem, wie unsere Lebensumstände sind. Trotzdem bleibt das ›Wahre Wesen‹ gleich.«
»Das heißt, ich, Anja, bin ich und bist du?«
»Nicht ganz. Nur das, was unser Wesen ausmacht, verändert sich nicht. Das hat mit unserem Karma zu tun. Stell dir das einfach als genetisches Profil einer Lebensenergie vor.«
»Mon Dieu, das ist aber kompliziert!«
»Eigentlich nicht. Wenn wir wiedergeboren werden, zeigt sich die Veränderung von Aussehen und Charakter noch deutlicher. Aber das Karma, also das ›genetische Profil‹ beziehungsweise unser ›Wahres Wesen‹ bleibt.«
»Stopp. Jetzt mal langsam zum Mitschreiben.«
»Pass auf«, lächelt mein Liebster, »ich glaube, ich habe da ein Beispiel, das dir gefallen wird. Denk mal an deinen eigenen Beruf. Du bist Schauspielerin. Jede Rolle, die du spielst, ist individuell. Das bist nicht du. Und doch wiederum du. Andererseits bist du es. Du passt dich der Rolle an und gibst ihr mit Make-up, Frisur, Kostüm und deiner Körperhaltung und Gestik ein ganz bestimmtes Profil, ein anderes Gesicht, eine andere Gestalt. Aber diese Figur, die du da spielst, ist nur so lange ›lebendig‹, wie du auf der Bühne stehst. Wenn du abgehst, sehen die Zuschauer sie nicht mehr. Sie ist quasi ›gestorben‹, sie befindet sich in der ›Nichtexistenz‹. Aber du selbst, das wahre Wesen dahinter, existierst weiter. Wieder ›sichtbar‹ wirst du allerdings erst, wenn du in einer Rolle auf der Bühne stehst.«
»Das ist ein Beispiel von Shakespeare, nicht von dir, du Scherzkeks. Warte, ich krieg’s sicher noch auf die Reihe …
»Die ganze Welt ist eine Bühne
Und alle Frau’n und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab.
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen,
Durch sieben Akte hin …«15
Schauspielschule, Wie es Euch gefällt. Das ist lange her.«
»Mes compliments, Madame. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, es klang sehr schön. Was ich meine, wird in der einen Stelle im fünften Akt von Macbeth noch ein bisschen klarer. Ich kann’s aber nur auf Englisch:
»Life’s but a walking shadow, a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more: it is a tale,
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing …«16
Da sitzen sie nun, ein französischer Regisseur und eine deutsche Schauspielerin, auf den Überresten eines Kriegsbunkers an einem berühmten Strand in der Normandie, philosophieren über das Leben und zitieren Shakespeare. Es ist erstaunlich, wie nah Shakespeare mit seinen Bildern und Allegorien an der buddhistischen Weisheit war. Sie sind einfach und klar: Wir sind nur Spieler auf einer Bühne und bald wieder vergessen – »a poor player … is heard no more« – der arme Schauspieler, der nicht mehr gehört wird. Das bedeutet, dass mit seinem Abgang die Rolle beendet ist. Er ist sozusagen vorübergehend »gestorben«, bis er eine neue Rolle bekommt, also die Umstände wieder passen, das heißt, bis ein Theater ihn wieder engagiert. Wenn er beim letzten Mal überzeugt hat, das heißt gute Ursachen gesetzt und damit gutes Karma angesammelt hat, wird das schnell wieder passieren. Und wenn Shakespeare Macbeth sagen lässt: »It’s a tale, told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing – ein Märchen nur, erzählt von einem Dummkopf mit viel Getöse, das nichts bedeutet« – dann meint er damit – ganz im Sinne des Buddhismus, dass unser kleines irdisches Dasein nicht das Wichtigste im Universum ist! Und je mehr wir uns aufplustern, umso alberner wird es. Endlich fügt sich alles für mich zu einem klaren Bild zusammen.
»Also unsere Identität ist im Grunde wie die Rolle, die ich spiele. Eine neue Rolle ist eine neue Identität, sie sieht anders aus, hat andere Kostüme und so weiter. Darunter aber bleibt meine ›Entität‹, das ›Wahre Wesen‹, das der neuen Figur Leben und Struktur gibt, erhalten. Ersetzen wir jetzt ›Rolle‹ durch ›wiedergeborenes Leben‹, wird klar, dass es keine individuelle Seele gibt. Richtig?«, fasse ich zusammen.
»Stimmt genau. Und da alle ›Entitäten‹, ob manifestiert oder nicht, ein großes universelles Ganzes bilden, sind sie somit untrennbar miteinander verbunden. Deswegen kann ich sagen, dass mein Bruder und ich auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind. Sieh her«, sagt mein Mann und deutet auf das riesige Meer, das sich in Cinemascope vor uns erstreckt. »Was siehst du?«
»Ähm, Wasser. Na ja, das Meer eben.«
»Und?«
»Es ist windig, deswegen sind die Wellen ganz schön hoch.«
»Eben: Wellen. Jetzt such dir eine Welle aus. Versuche, den Anfang zu finden, dort, wo sie entsteht. Verfolge sie, wie sie hochsteigt, bricht und dann wieder verschwindet.«
Ein schönes Spiel. Könnte ich stundenlang machen. Hat was unglaublich Beruhigendes.
»Siehst du, genau das meine ich mit ›Verbundenheit‹. Wir alle, ob gerade sichtbar manifestiert, also gerade lebendig …«
»Du meinst, so richtig mit Körper und so?«
»Genau. Wir alle, auch wenn wir gerade nicht sichtbar, also sozusagen ›tot‹ sind, bilden zusammen das Meer. Die einzelne Welle besteht aus dem gleichen Wasser wie das übrige Meer. Sie hebt sich nur für einen kurzen Moment davon ab, dann, wenn sie eine Identität erhält, also eine ›Welle‹ wird. Danach verschmilzt sie wieder mit dem Rest des Meeres. Sie ist jedoch nicht ›tot‹ im Sinne von ›weg sein‹. Das ist kein Argument, nur weil sie nicht mehr sichtbar ist, sie ist nur …«
»Untendrunter. Also ich meine, sie ›wellt‹ in der Tiefe des Meeres so lange weiter, bis sie wieder genügend Kraft hat, an der Oberfläche eine neue Welle zu bilden. Hab verstanden. Das ergibt wirklich Sinn.«
»Und wie du siehst, gibt es verschiedene Wellen – tiens, là!«, mein Mann deutet nach rechts. »Eine riesengroße! Die perfekte Surferwelle!« Sie zieht sich lang dahin, steigt elegant in die Höhe, immer weiter hinauf, bis sie sich am oberen Ende kräuselt und mit einem Donnern in sich zusammenbricht. Es gibt noch einen kleinen Rückwärtssog, dann kehrt an der Stelle wieder Ruhe ein als wäre nichts gewesen.
Die Größe und Dauer der Welle ist also abhängig vom Zusammenspiel der Kräfte und der Energien in der Tiefe des Meeres. Damit ist die Lebenskraft des Universums gemeint. Je größer die Lebenskraft, desto größer ist auch die Welle, desto kraftvoller und länger ist das Leben. Deshalb bemühen wir uns, unsere Lebenskraft durch das Chanten zu erhöhen – um wie die Welle aus der Tiefe des Meeres mehr von dieser unendlichen Energie zu schöpfen.
Das beantwortet auch die brennende Frage, warum manche Menschen so früh sterben müssen, warum ihr Leben so kurz ist. Es hat nichts mit einer »Prüfung Gottes« oder mit »Strafe« zu tun. Nein, es geht simpel um die Lebenskraft. Das mag banal klingen, aber ich glaube, dass das Leben einfacher funktioniert, als wir denken. Zum einen kommt ein Mensch vielleicht nur mit einer geringen Lebenskraft auf die Welt und muss schnell wieder »auftanken«. Zum anderen gibt es Menschen, die anderen so viel Lebenskraft geben – und ich meine das durchaus positiv im Sinne von schenken – dass sie frühzeitig erschöpft sind und ihr »Wahres Wesen« eine Ruhepause braucht. Betrachtet man dieses Weggehen als Teil eines Ganzen, das heißt der universellen Ordnung, ist nichts Furchtbares daran, außer dem Schmerz der Hinterbliebenen.
Wahnsinn! In der Lektion über den Tod hatte ich etwas unendlich Wichtiges über das Leben gelernt!
Als hätte der Mann an meiner Seite meine Gedanken erraten, sagt er nach einer Weile: »Leben und Tod sind eins. Darum ist der Tod nicht furchtbar, abgesehen davon, dass es wehtut, die zu verlieren, die wir lieben.«
Ich rücke ein bisschen näher an ihn heran. »Ja, und das ist ganz normal.« In Gedanken an die Menschen, die ich bisher verloren hatte, füge ich hinzu: »Und das Sterben? Was weißt du darüber?«
»Hm, einer eurer Dichter hat etwas sehr Schönes und Treffendes dazu geschrieben. Ich glaube, sein Name ist Hebbel. Er sagt: ›Ist der Tod nur ein Schlaf, wie kann dich das Sterben erschrecken? Hast du es je noch gespürt, wenn du des Abends einschliefst?‹ Ich persönlich kann mir das gut vorstellen. Im Buddhismus geht es darum, während unseres ganzen Lebens so viel Lebenskraft wie möglich anzusammeln und den eigenen Lebenszustand zu erhöhen. Damit wird dann auch der Übergang in die unsichtbare Existenz leichter.«
»Aber warum sterben wir dann überhaupt, wenn wir doch sowieso wiedergeboren werden? Wenn das Leben ewig ist, warum dann das ganze Theater mit dem dauernden Geborenwerden, um dann wieder zu sterben?«
»Ich glaube, das kannst du dir selbst beantworten. Denke einmal an Vera, unseren letzten Film in Südafrika. Wer hat sich denn da beschwert über 20 Drehtage à 18 Stunden und im Anschluss daran fast eine Woche durchgeschlafen? Du hattest deine Rolle beendet und dich ausgeruht. Dein ›Wahres Wesen‹ musste wieder Lebensenergie tanken. Bis zur nächsten Rolle. Alles klar?«
»Mehr als klar«, muss ich zugeben, »schlafen und ›tot‹ sein dienen dazu, die Batterien wieder aufzuladen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich, wenn ich aus dem ›normalen‹ Schlaf aufwache, noch dasselbe Gesicht habe. Was man im anderen Fall nicht unbedingt behaupten kann.«
»Das hast du jetzt sehr schön auf den Punkt gebracht«, sagt mein Mann und küsst mich auf die Nasenspitze.
»Mal ehrlich«, frage ich ihn, »andauernd wird über das ewige Leben geredet. Die Wissenschaftler basteln daran und die Literatur ist seit Jahrhunderten voll davon: Das Bildnis des Dorian Gray, Gullivers Reisen, Der Tod steht ihr gut, Dracula und was weiß ich nicht noch alles. Würdest du gerne ewig leben? So wie Dracula?«
»Wenn ich so eine feine Beute wie dich kriegen würde …«
»Ach komm! Bleib auf dem Teppich! Das ist ein ernstes Thema!«
»Ja, das ist es. Und ich finde, wir sind jetzt schon ein bisschen zu lange ernst genug. Meine ehrliche Antwort lautet: Nie und nimmer. Das wäre eine grauenvolle Vorstellung. Das ist nur im Kino so toll und sexy. Es wäre an der Zeit, einmal einen Film über einen Vampir zu machen, der total unglücklich über sein ewiges Leben ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als den normalen Kreislauf des Lebens wieder betreten zu dürfen.«
»Da müsste eben einfach jemand kommen, am besten eine Frau – die spiele dann ich –, die ihm den Buddhismus näherbringt. Da gibt es auch keine Kreuze, von denen er Ausschlag kriegt. Und weil er sich verliebt, fängt er an zu chanten – und der Zauber ist gebrochen.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute …«
»Lass mich doch. Ich finde die Geschichte hübsch. Und sterben werden sie auf jeden Fall. Das ist ja der Sinn der Sache.«
Mein Mann und ich haben so oft herumgesponnen und uns Geschichten ausgedacht. Es ist schön, seine Kreativität mit jemandem zu teilen.
In Gedanken an dieses Wochenende in der Normandie spaziere ich nun – wieder einmal – am Wasser entlang und lasse die Vergangenheit Revue passieren. Ich blicke über den beinahe wellenlosen Bodensee und denke darüber nach, wie sehr sich mein Weltbild mittlerweile verändert hat. Trotz der Totensonntagsstimmung an diesem Spätnachmittag habe ich eine heitere Ruhe in mir. Ich habe das Leben und den Tod als Tatsache der universellen Wirklichkeit angenommen.