Ursache und Wirkung
So romantisch und süß unser Nest in Saint-Germain auch war, es war uns längst zu eng geworden. Endlich hatten wir eine größere Wohnung gefunden. Was für ein Tag, als dann mein ganzer Umzugskrempel und vor allem meine heiß ersehnten Bücherkisten aus Wien eintrafen! Ende der Übergangslösung, Start in ein richtiges Leben! Beim Auspacken fiel mir das kleine grüne Heft aus der Zeit in Bad Hersfeld wieder in die Hände. »Nur Mut!«, stand auf der ersten Seite mit Kugelschreiber geschrieben. Lichtjahre schien mir das her zu sein, so viel war seitdem passiert.
Mein Französisch war inzwischen absolut top. Trotzdem wünschte ich mir mehr Literatur über den Buddhismus des Nichiren Daishonin in meiner Muttersprache. Es sollte noch ein bisschen dauern. Das Internet war noch nicht erfunden und somit konnte ich über den Verleger des kleinen grünen Heftchens nichts herausfinden.
Bemerkenswert und nicht gerade lustig war die Tatsache, dass sich, seitdem es diesen Gohonson in unserem Haushalt gab und regelmäßig zu unmenschlich früher Morgenstunde in unzumutbarer Lautstärke gechantet wurde, mit einem Mal meterhoch Probleme auftürmten. Diese Schwierigkeiten betrafen zwar in erster Linie meinen Partner, aber es war ja auch mein Leben. Das kann’s doch nicht sein! »Du machst so viel. Du chantest, engagierst dich in der Organisation und kümmerst dich um andere Mitglieder! Dieser Müll ist doch kontraproduktiv und gegen jede Regel. C’est merdique! Ich denke, man erhält positiven Nutzen!«, ereiferte ich mich extrem genervt. Fast gerieten wir in Streit.
Ich rufe mir diese Zeit heute immer wieder ins Gedächtnis zurück, weil meine Reaktion so ganz typisch war, so menschlich, als Folge davon, dass man die Dinge eben nicht mit dem Kopf begreifen kann! Wer mit Logik zu Werke geht und sich eigene Strategien bastelt, folgt der irrigen Annahme, dass die Probleme und Schwierigkeiten aufhören, wenn man Buddhismus praktiziert. Doch so läuft das nicht. Und das Verständnis für die tieferen Zusammenhänge stellt sich erst ein, wenn man wirklich chantet. Das ist schwer zu verstehen, ich weiß, und ich selbst habe es im Lauf der Zeit auch immer wieder vergessen …
»Tu es vraiment dans l’état d’enfer! Du bist wirklich in der Welt der Hölle!«, kommentierte die Liebe meines Lebens meinen ziemlich aggressiven Zustand. »Sieh dich an! Du bist Opfer deiner eigenen Negativität! Il est temps que tu comprenne quelque chose hyper-important: les dix états! Ich habe dir doch schon von den Zehn Welten erzählt. Es wird Zeit, dass du endlich etwas grundsätzlich kapierst! Dieser Zeitpunkt passt perfekt, weil die »Welt der Hölle« die niedrigste von allen ist. Alors, eines der Hauptprinzipien im Buddhismus ist die Lehre von den »Zehn Welten« oder »Zehn Lebenszuständen«. Das heißt: alle Wesen, alle Dinge in diesem Universum – Menschen, Tiere, Pflanzen …«
»Auch Steine, Wasser und Atomteilchen?«, warf ich ein.
»Ja, alles! L’Univers ne choisit pas – das Universum unterscheidet nicht. Auch du bist nur ein Atomteilchen in diesem Universum. Also: Alles und jedes besitzt diese Lebenszustände. Wichtig dabei ist: Auch wenn in einem Moment einer dieser Zustände aktiv und dominant ist, sind die anderen Zustände trotzdem vorhanden, caché, sie sind versteckt.«
»Das heißt, ich kann mich in einem Moment ärgern und im nächsten vor Freude tanzen? Das ist doch nichts Neues!«, bemerkte ich lapidar. »Kennst du Goethe?«
»Bien sur! Wofür hältst du mich?«
»Ich meine: ›Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt …‹ sagt Clärchen im Egmont!«
Der Mann an meiner Seite ließ sich von meiner literarischen Bildung allerdings wenig beeindrucken. »Wie auch immer«, führte er unbeirrt fort, »ein Mensch kann innerhalb weniger Minuten alle Lebenszustände durchlaufen, je nach äußerem Anlass oder innerer Ursache.«
»Wie bitte?«
»D’accord …«, seufzte mein Liebster, »dann also noch einmal zurück zu Ursache und Wirkung. Das hast du, glaube ich, noch nicht ganz verinnerlicht. Äußere Ursachen sind Ereignisse, die innere Ursache ist deine Befindlichkeit!«
»Das macht es nicht klarer.«
»Alors, ein Beispiel: tu m’aimes?«
»Was hat das damit zu tun? Klar liebe ich dich. Weißt du doch.«
»Das ist deine innere Befindlichkeit.«
»Aha.«
»Et maintenant, je te donne une claque. Jetzt verpasse ich dir eine Ohrfeige!«
»Untersteh dich!«, grinste ich.
»Was würde passieren?«
»Ich wäre sauer!«
»Eh bien, voilà. Das wäre dann dein Lebenszustand, als Wirkung auf die Ursache, die ich mit meiner Ohrfeige gesetzt habe. Deine innere Befindlichkeit, sprich, dass du mich liebst, wird dich aber davon abhalten, mich deswegen zu erschießen. D’accord?«
»Und wenn ich sofort zurückhaue?«
»Das wäre dann fast der Beweis für die Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung!«
»Was soll das denn schon wieder heißen?«
»Tiens, nach dem Gesetz des Lebens sind alle Phänomene im gesamten Universum dem Prinzip von Ursache und Wirkung unterworfen. Sie sind alle miteinander verbunden und beinhalten sich gegenseitig. Ça veut dire: Jede kleinste Veränderung des winzigsten Teilchens bewirkt eine Veränderung des Ganzen. Somit bist du Teil deiner Umgebung und mitverantwortlich für das Gesamtgeschehen. C’est clair?«
»Ja, ich bin ja nicht blöd. Wenn ich als Anja-Kruse-Teilchen salziger bin als alle anderen in der Riesensuppe, wird die ganze Suppe allein durch mich ein bisschen salziger. Und das bedeutet auch, dass es keinen Zufall gibt.«
»Bien sur que non!«, bestätigte mir der Liebste, »auf keinen Fall! Zufall ist bloß die Wirkung einer nicht erkannten Ursache! Also, wenn dir deine Umgebung nicht gefällt, musst du dich ändern. Ganz einfach! Wir neigen dazu, die Ursachen für unsere Probleme und Hindernisse, unsere Fehler, unser Unglück und unser Leid außerhalb unserer selbst zu suchen. Doch durch das Chanten, voilà, erkennen wir, dass die Ursachen in uns selbst liegen.«
»Das heißt«, warf ich ein, »niemand ist schuld daran, dass mir dies oder jenes passiert. Also keine Fremdschuldzuweisungen mehr.« Da sprach ich ein großes Wort gelassen aus. Ich ahnte zu jener Zeit nicht, in welchem Maße ich mit diesem Thema in Bezug auf gewisse Menschen in meinem Leben noch konfrontiert werden würde. Ich war selbst erstaunt, wie schnell ich es verstanden und verinnerlicht hatte. Die Haltung, etwas oder jemanden als Verursacher dessen zu sehen, was einem passiert, ob es nun negative oder positive Dinge sind, ist allseits beliebt und stark verbreitet. Doch mit dieser Einstellung wird man in seinem eigenen Leben nie etwas ändern können!
»Bravo«, sagte die Liebe meines Lebens ganz schlicht, um dann frech hinzuzufügen: »Geht ja doch was rein in deinen Dickschädel! Also, je répète: Wenn wir die innere Ursache ändern, können wir die Wirkung, also ein bestehendes Problem oder ein Lebensthema, beseitigen beziehungsweise ändern.«
»Und damit auch das Karma?«
»Bien sur! Darum geht es doch! Weil Karma die Summe aller Ursachen ist!«
»Aber«, hakte ich nach, »ich habe gehört, dass mein Schicksal unveränderlich ist, dass also grundlegende Dinge wie meine Lebensdauer und die Rahmenbedingungen meines Daseins festgelegt sind. Demnach trifft das, was du sagst, nur auf mein jetziges Leben zu.«
»Oui et non! Es gibt beides: Zum einen das sogenannte unveränderliche Karma, genannt »Schicksal«, will heißen »geschickte Mühsal«, also nach Shakyamuni, wie du weißt, die Vier Leiden, die allem Leben innewohnen. Aber, bonne nouvelle, sogar dieses Karma können wir durch das Chanten verändern – wir nennen das »Gift in Medizin verwandeln« – und somit ein glücklicheres, längeres Leben führen. Zum anderen gibt es das veränderliche Karma, das dich und deine Umgebung betrifft. Höchstwahrscheinlich gibt es irgendeinen anderen Menschen, der Komplize deines Karmas ist. Wenn du mit dieser Person ein Problem hast, fang bei dir an, damit sich aufgrund deiner eigenen menschlichen Revolution dein Gegenüber und damit deine Umgebung ändert. Das nennt man auch die »Einheit von Mensch und Umgebung«. Da das Prinzip von Ursache und Wirkung nun aber das ganze Universum durchdringt, liegt auch auf der Hand, dass es keinen Unterschied zwischen gestern, jetzt und morgen gibt. Alles ist immer da. Das ist die zweite Bedeutung des Bildes der Lotosblume.«
»Wie? Ich denke, Schlamm – also Leid – oder irdische Begierden, eben dieser ganz normale Alltagskram, sind der Nährboden für die Erleuchtung, das heißt für die schöne Blüte und unzerstörbares Glück? Was kommt denn nun noch?« Langsam wurde mir das ein bisschen zu viel …
»Weißt du nicht, dass der Lotos eine der wenigen Pflanzen ist, die gleichzeitig Samen und Blüten tragen? Musst mal drauf achten.«
»Echt?«, fragte ich und konnte nur schwer der Versuchung widerstehen, augenblicklich nach draußen zu flitzen und diese Behauptung im nahe gelegenen Park mit dem Seerosenteich zu überprüfen.
»Tu peux me croire. Es stimmt. Und damit haben wir das Bild von der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung: Saat und Ernte.«
»Und was habe ich jetzt davon, dass ich das alles weiß?«, bemerkte ich trocken. »Mir brummt der Schädel!«
»Du bist unverbesserlich!«, lachte mein Liebster. »Kannst du die Dinge nicht einmal so akzeptieren, wie sie sind? Brauchst du immer eine Beweisführung?«
»Ja!«, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
»Dann bist du hier richtig! Bienvenue au Bouddhisme du Nichiren Daishonin! Buddhismus ist beweisbar, Buddhismus ist Vernunft. Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist Vernunft. Man kann es sehen, man kann es nachvollziehen. Wenn ich meine Hand in einen Topf mit kochendem Wasser halte, verbrenne ich mich. Ursache – Wirkung. Und der Wirkung ist es ziemlich egal, ob ich sie als böse, unmoralisch oder gemein bezeichne. Sie ist nicht »schuld daran«. Sie folgt ihrer ureigenen Gesetzmäßigkeit. Das kochende Wasser ist nicht »böse«, es ist nur heiß. Und der Topf kann auch nichts dafür. Also wenn ich meine Hand da hinein halte, bin ich entweder dumm oder wahnsinnig. Damit schaffe ich die Ursache für den negativen Effekt.«
»Ja, aber«, wandte ich ein, »in deinem banalen Beispiel ist das supereinfach und ganz klar. Ursache und Wirkung zeigen sich sozusagen gleichzeitig: Eine Hand, ein Topf mit kochendem Wasser – und die Verletzung erfolgt garantiert und augenblicklich. Aber so ist es doch meistens nicht im Leben. Denk doch nur einmal an diesen ›Dings‹, du weißt schon, diesen Mega-Drecksack, der seit Jahren gegen alles und jeden intrigiert. So, wie ich es mitbekommen habe, ist er außerdem ein Dauerfremdgeher. Und ständig auf Koks. Man sagt auch, dass er sich kleine Jungs nach Hause liefern lässt. Letztes Jahr hat er seinen Geschäftspartner rausgekickt und dessen Existenz zerstört, worauf sein Kompagnon sich umgebracht hat. Erinnerst du dich? Und was ist passiert? Kurz darauf bekam er diesen Millionenauftrag und jetzt geht er auch noch in die Politik. Es geht ihm blendend, auch gesundheitlich. Wo sind da Ursache und Wirkung? Wo ist das, was ich Gerechtigkeit nenne?«
»Das liegt daran, dass es zwei verschiedene, aber miteinander verbundene Arten von Ursache und Wirkung gibt.«
»Aua, jetzt wird’s kompliziert!«
»Dann pass gut auf: Erstens gibt es die äußere Ursache und die manifeste Wirkung – die kann man sehen und wahrnehmen. Wie in dem Beispiel mit dem kochenden Wasser. Zweitens gibt es die innere Ursache, meist angesammeltes Karma und die latente Wirkung. Ist ein Mensch zum Beispiel von Natur aus ängstlich, werden alle Auswirkungen in seinem Leben von Angst gesteuert, auch wenn man das nicht sehen kann. Die beiden Formen von Ursache und Wirkung sind aber miteinander verknüpft. Das heißt: Unser furchtsamer Mensch mag sein Leben lang Angst haben (innere Ursache), aber erst, wenn eine äußere Ursache eintritt – nehmen wir an, er ist mit seinem Boot auf dem Meer unterwegs und ein Sturm zieht auf –, erst dann stellt sich eine manifeste Wirkung ein: Der ängsliche Mensch kehrt augenblicklich zum rettenden Ufer zurück – und wird in Zukunft vor lauter Angst nie wieder ans Meer fahren (latente Wirkung). Trotzdem sind weder Meer noch Sturm, geschweige denn das Boot schuld daran. Das Ereignis war nur der äußere Anlass, der dem furchtsamen Menschen seine Angst vor Augen führt. Unter bestimmten Voraussetzungen wirbeln wir den Bodensatz in unserem Leben auf und wundern uns dann, dass dabei so viel Schlamm, also Unglück, nach oben steigt. Vielleicht hat jemand anderes umgerührt (äußere Ursache), aber es ist unser eigener Dreck (latente Ursache), der aus dem scheinbar klaren Wasser unseres Lebens eine braune Brühe macht (manifeste Wirkung). Dem ›Umrührer‹ können wir dafür nicht die Schuld in die Schuhe schieben.«
Ich musste lächeln. Wieder das gleiche Bild! Wie damals in der Bad Hersfelder Kantine … Allerdings war meine Frage damit noch nicht beantwortet.
»Je sais, c’est très complexe«, räumte mein Liebster ein, »und es ist auch sehr schwierig. Du setzt mit deinem Leben, deinen Handlungen permanent Ursachen, sichtbar oder nicht sichtbar, die ständig Wirkungen erzeugen. Wie ich dir eben anhand der Lotosblume erklärt habe, ist dabei die Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung von Bedeutung: Der jetzige Augenblick ist die Folge der Ursachen deiner Vergangenheit und er ist gleichzeitig die Ursache für alles, was in deiner Zukunft passiert. Dass – wie in dem Fall des eben erwähnten Herren – nicht sofort eine manifeste Wirkung auf eine fraglos böse Ursache sichtbar wird, liegt daran, dass, wie in der Natur auch, die Dinge zwar vorhanden sind, aber erst eine äußere Ursache brauchen, um sich zu manifestieren. Und das dauert manchmal lange, mitunter bis zum nächsten Leben. Es muss Frühling werden, damit ein Baum blüht, und trotzdem waren seine Blüten im Winter ja nicht »weg«, sie waren nur einfach nicht sichtbar. Aber das führt jetzt wirklich zu weit … und gehört im Grunde genommen auch schon zum Thema Leben und Tod.«
Es war Hochsommer. Draußen wurde es langsam hell. Nach so viel »Ursache und Wirkung« würden wir die Lektion über die »Zehn Welten« wohl wieder einmal vertagen müssen … Aber es war auch so schon sehr viel Information für einen einzigen Abend gewesen.
Eigentlich war alles so klar, so richtig, so vernünftig, so logisch. Nur, und da wiederholte sich mein zugegebenermaßen einziges, aber prominentes Problem: Dass man durch einfaches Chanten allein positive Ursachen setzen kann, um damit Nutzen, also positive Wirkung, zu erhalten und damit sein Karma positiv zu beeinflussen respektive grundlegend zu verändern, das muss man schlichtweg glauben. Beweisen lässt es sich erst, wenn man wirklich chantet.
Peng. Da war sie also wieder, diese subtile Aufforderung, endlich einen Schritt weiterzugehen. Kein Nam Myoho Renge Kyo, kein Beweis. »Ich chante für dich, vraiment«, sagte die Liebe meines Lebens, »aber ich kann nicht deinen Lebenszustand erhöhen. Das musst du schon bitte schön selber tun.« Den Lebenszustand erhöhen, Lebenskraft ansammeln, das heißt Mut, Weisheit, Mitgefühl und Lebenskraft hervorbringen – dass es in erster Linie darum geht und dass dies auf diesem buddhistischen Weg das Wichtigste überhaupt ist, blieb mir zum damaligen Zeitpunkt noch weitgehend verschlossen.
Im Spätsommer des gleichen Jahres ergab eine äußere Ursache den entscheidenden Ruck nach vorn und führte mich in die – wie ich nach 18 Jahren nun sicher weiß – für mich absolut einzige und richtige Richtung.
Ein Theater in Bochum bat mich, für eine erkrankte Kollegin einzuspringen, zwölf Tage vor der Premiere: die Hauptrolle in Neil Simons Ein ungleiches Paar. Was für eine Herausforderung! Ich nahm diese schwierige Aufgabe, wenngleich mit ein bisschen Bauchschmerzen, an. Diese Entscheidung sollte in den nächsten Jahren gewaltige Auswirkungen nach sich ziehen. Ein großer Nutzen – eine neue Theaterwelt im Bereich der Komödie plus einer Lebensfreundschaft in einer Stadt namens Düsseldorf, die ich früher niemals freiwillig betreten hätte, denn das war für uns Essener Kinder »feindliches Ausland« und das Breitscheider Kreuz der »Eiserne Vorhang«. Aber das ist für mich inzwischen längst Geschichte.
Doch erst mal kam Bochum. Wo alles begann. Ich war zurück in heimischen Gefilden, überhaupt endlich wieder einmal in Deutschland. Deutschland … hatte ich hier nicht etwas vor? Wollte ich nicht etwas finden, das es nur hier gab? Jawohl! Ich konnte es kaum abwarten, die Premiere des Stücks hinter mich zu bringen, damit ich mich tagsüber frei bewegen konnte.
Ich machte mich also auf die Suche nach dem Herausgeber des kleinen grünen Heftchens. Irgendwie musste ich doch verdammt nochmal an Literatur in Deutsch kommen. Erst lesen und verstehen, dann chanten, war mein Motto.
Mein erster Weg führte mich zum Hauptpostamt. Stundenlang wälzte ich die fetten, eklig abgegriffenen Telefonbücher, doch weder Nummer noch irgendeine Art von Adresse war herauszukriegen. Also fuhr ich in diesen Ort namens Mörfelden-Walldorf, der im Impressum angegeben war und von dem ich noch nie gehört hatte. Was heißt ich fuhr hin? Ich startete einfach los, in der Hoffnung, dort zu landen, wo ich hinwollte.
Wer diese Ecke im Süden von Frankfurt kennt, weiß vermutlich, dass man sich dort stundenlang herrlich verfahren kann. Das Navi war ebenfalls noch nicht erfunden worden. Und der Autoatlas informierte mich, dass es mindestens vier Orte mit fast gleicher Schreibweise gab. Puh! Gleich zu Beginn schon ein ganz schönes Hindernis! Aber ich gab nicht auf. Ich war entschlossen, mein Ziel zu erreichen und mich nicht von Schwierigkeiten besiegen zu lassen!
Und ich erreichte mein Ziel. Ich parkte meinen Wagen in einer unspektakulären Straße in diesem Ort, der kaum mehr als ein Industriegebiet war, vor dem deutschen »Headquarter« der Soka Gakkai (SGI-D). Ich wurde superfreundlich empfangen und obwohl die »Boutique« eigentlich schon geschlossen hatte, ließ man mir Zeit, mich umzuschauen, und beantwortete meine Fragen. Mit gefühlten 10 Kilogramm Büchern, Broschüren und Zeitschriften – sowie einem »Gongyo«-Buch, das Textheft für die morgendliche und abendliche Zeremonie – und jeder Menge herzlicher Ermutigungen im Gepäck gelangte ich an diesem Freitagnachmittag tatsächlich ohne allzu große Schwierigkeiten über den Kölner Ring und die ausnahmsweise mal gar nicht böse A 40 und war pünktlich um 19 Uhr im Theater. Es sollte einfach so sein. Ich war beschützt. Vom Gesetz des Universums. Hey, Anja! Nutzen! Positiver Nutzen! Super Ursache – meine Entschlossenheit – super Wirkung: Das ganze Unternehmen hatte bestens geklappt! Keine Hindernisse.
Noch nicht, denn mit dem Wichtigsten von allem, das eine Veränderung nach sich ziehen würde, nämlich dem Chanten, hatte ich ja noch nicht angefangen.
Die nächsten Wochen waren dem Studium gewidmet. Ich bekam schon glasige Augen vom vielen Lesen. Zuerst widmete ich mich dem Buch Die menschliche Revolution, das im weitesten Sinne die Geschichte der Soka Gakkai beschreibt. Einfach spannend. Dann studierte ich die Gosho genannten Schriften von Nichiren Daishonin, eine Sammlung von Briefen, die meist Ermutigungen an die Menschen in seiner Welt enthalten. Eine nicht ganz unkomplizierte Lektüre, jedoch so voller Liebe und Wahrheit. Anschließend las ich die Niederschriften von Gesprächen, die Daisaku Ikeda, der Präsident der Soka Gakkai, mit Wissenschaftlern oder Staatsmännern geführt hatte und deren thematischer Schwerpunkt auf dem Frieden durch Dialog lag. Was für ein unglaublicher Mann, dieser Ikeda!
Indem ich tiefer in die Lehre eintauchte, erfuhr ich auch von solch widerlichen Tatsachen wie den »Drei Giften«, die uns in Form von Gier, Ärger und Dummheit daran hindern, unser Potenzial als Mensch voll zu entwickeln. Oder von den »Drei Hindernissen und Vier Teufeln«. Das klingt fast katholisch, ist aber ganz anders gemeint. Unter »Hindernissen« sind erstens die Faktoren zu verstehen, die uns von innen heraus bremsen und die aus den »Drei Giften« bestehen. Zweitens werden damit die Schwierigkeiten beschrieben, die aus unserer unmittelbaren Umgebung, also zum Beispiel aus dem Zusammenleben mit dem Partner oder der Familie, erwachsen. Drittens sind damit die Bremsklötze in Form von Autoritäten, Chefs, Eltern oder dem Staat gemeint. Die »Teufel« darf man sich übrigens nicht als Personen vorstellen. Im Buddhismus bedeuten »Teufel« destruktive Kräfte, die uns daran hindern wollen, gute Ursachen für unser Karma zu setzen, und uns dazu verleiten, ja schön weiter in der Suppe unserer Illusionen zu schwimmen. Wenn wir vor dem Gohonson sitzen und chanten, können wir diese negativen Tendenzen erkennen und bekämpfen. Wir müssen diesen Kampf gegen die Widrigkeiten aufnehmen und dürfen uns unter keinen Umständen besiegen lassen. Die unangenehme Tatsache dabei ist dabei allerdings, dass in dem Moment, in dem wir ernsthaft damit anfangen, unser Leben zu polieren, die negativen Kräfte mit aller Gewalt aus dem Boden schießen und uns das Leben schwer machen. Nicht gerade ermutigend, um mit der buddhistischen Praxis zu beginnen! Doch ich hatte verstanden, worum es hier geht: Das Universum tritt uns quasi in den Hintern, damit wir unsere menschliche Revolution in Gang bringen, kämpfen lernen und dann unsere Buddhaschaft – am besten noch in diesem Leben – verwirklichen!
Na denn, einmal tief durchatmen und los! Ich hatte beschlossen, mutig zu sein. Trotz der im Hintergrund drohenden negativen Kräfte. Das würde ich in Kauf nehmen. Ich war bereit, das Risiko einzugehen. Mit dem Verstand kann ich das nicht erklären. Die ausgiebige Lektüre hatte mich zwar ein bisschen schlauer gemacht, aber das Gefühl, das sich einstellte, diese Notwendigkeit, diese Art Sehnsucht, mit dem Chanten dieses Satzes zu beginnen, schien irgendwie aus dem Universum zu kommen und sich direkt in meinem Herzen einzunisten. Ein neuer Weg. Eine Reise ins Unbekannte. Und jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Also los!
Warum ich mich gerade in diesem Moment meines Lebens entschlossen hatte, mit der Praxis zu beginnen, keine Ahnung. Ich war nicht in Not. Ich brauchte das alles nicht. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es für mein künftiges Leben wichtig war. Von heute an lautete der Titel eines der Bücher, die ich von der SGI-D mitgebracht hatte, und ich nahm ihn gleichsam zum Motto. Wie aufs Stichwort meldete sich zudem mein praktisch veranlagtes Vernunftstimmchen im Innenohr: »Hey! Der Zeitpunkt ist günstig! Dir geht es gerade supergut: Du hast keine finanziellen oder anderen Sorgen, du wirst in einem halben Jahr die Liebe deines Lebens heiraten, dein Stück in Bochum ist ein Riesenerfolg und es werden bereits Verhandlungen über eine Neuinszenierung in Düsseldorf, Köln und München geführt. Also, meine Liebe, let’s go!« Eine glückliche und sorgenfreie Zukunft lag vor mir. Vielleicht war das die beste Voraussetzung, um mit dem Chanten anzufangen. Sicher fällt es leicht, mit dem Beten zu beginnen, wenn es einem nicht gut geht oder wenn man dringend etwas braucht, aber ist man dann nicht versucht, gleich wieder aufzuhören, sobald die Dinge wieder im Lot sind? Mit einer vagen Vorstellung von dem, was Buddhaschaft sein könnte, den Blick fest auf die weiße Wand im Schlafzimmer meiner Bochumer Theaterwohnung gerichtet, konzentriert, aufrecht, die Handflächen gegeneinander haltend, so ernsthaft wie möglich – entweder richtig oder gar nicht – chantete ich ganz für mich allein meine ersten richtig lauten »Daimoku7«, also diesen einen Satz Nam Myoho Renge Kyo. Ich wiederholte ihn immer und immer wieder »mit der Entschlossenheit eines brüllenden Löwen«, wie es in einer Schrift von Nichiren Daishonin heißt. Blöd kam ich mir nicht mehr dabei vor. Sah ja auch keiner zu. Irgendwie hatte dieses Chanten etwas … Nach einer Weile spürte ich eine Art seltsamer Zufriedenheit, völlig grundlos. Ein simpler Glückszustand.
Und es war genau die richtige Entscheidung, die ich da getroffen hatte. Ich setzte, ohne es zu ahnen, eine Ursache, deren Wirkung sich erst viele, viele Jahre später bemerkbar machen sollte, eine Wirkung in Gestalt eines Fallschirms. Ein Freund und Mentor brachte das mit einer einfachen Geschichte voll auf den Punkt: »Denk dir, du lebst in einer Gesellschaft, in der einige plötzlich anfangen, einen Fallschirm zu tragen. Du fragst sie, welchen Sinn das habe, und du kriegst zur Antwort, man wisse ja nie so genau und es sei ja auch recht kleidsam. Dir fällt auf, dass immer mehr Leute so einen schön zusammengefalteten Fallschirm auf dem Rücken tragen und denkst dir schließlich: ›Ist ja ganz schick und die Seide fühlt sich angenehm an, also warum nicht?‹ Jahre später – der Fallschirm ist immer noch in Mode und zu deinem ständigen Kleidungsstück geworden – trittst du eine Reise in einem Flugzeug an. Es gibt einen Zwischenfall und das Flugzeug droht abzustürzen. Du und die anderen Passagiere mit dem schicken Fallschirm-Outfit springen, ziehen rechtzeitig die Leine, gleiten sanft zu Boden – und sind gerettet.«
Haben Sie’s verstanden? Ich hatte etwas in meinem Leben etabliert, das mich beschützt – komme, was wolle …
Zurück in der Bochumer Theaterwohnung. Ich chantete wirklich mit voller Entschlossenheit. Mit dem Gongyo – der morgendlichen und abendlichen Zeremonie mit den vielen komplizierten Worten aus den zwei Kapiteln des Lotos-Sutra, die das Chanten umrahmen – wollte es allerdings nicht so recht klappen. Also erinnerte ich mich daran, was ich in den Versammlungen in Paris und den unzähligen Gesprächen mit meinem zukünftigen Ehemann gelernt hatte: Dass es durchaus richtig ist, sich etwas zu wünschen und dafür zu chanten. Da dieser Buddhismus der Buddhismus des Alltags ist, des normalen Lebens gewöhnlicher Menschen, schließt er Wünsche und Begierden nicht aus. Sie gehören dazu. Sie sind Teil unseres Lebens und der »Weg der Mitte« propagiert, dass man sie annehmen und nicht ausmerzen soll! Es gilt, das Beste daraus zu machen: »Begierden in Erleuchtung verwandeln«, heißt es. Also chantete ich dafür, Hilfe zu bekommen. Nicht von meinem Lebenspartner, denn den wollte ich eigentlich zur Hochzeit mit einem perfekten Gongyo überraschen. Da hatte ich mir einiges vorgenommen …
Da weithin behauptet wurde, es würde sich ein sofortiger, sichtbarer positiver Nutzen, also ein Beweis, präsentieren, wartete ich natürlich auch darauf. Dazu fällt mir eine Stelle aus Tina Turners Buch ein – zum Thema positiver Nutzen und Beweis. In Ich, Tina. Mein Leben schreibt sie über ihre Anfänge in der buddhistischen Praxis: »… Ich wiederholte diesen Gesang fünfmal – Nam Myoho Renge Kyo, Nam Myoho Renge Kyo … Ich war dabei ganz aufgeregt. Das Erste, was geschah … nun, ich hatte mit meinem Make-up ein kleines Problem. Ich reagierte allergisch darauf und musste mir ein anderes Fabrikat aussuchen, und ich hatte mich überall erkundigt und umgeschaut, aber ich konnte es nicht finden. Dann, ich hatte kaum den Gesang beendet, bekam ich einen Anruf von einem Girl. Sie war gerade bei Bloomingdale’s. Sie sagte: ›Du suchst doch dieses spezielle Make-up, nicht wahr? Nun, sie haben es hier.‹ Sicher, das klingt irgendwie lächerlich, aber ich wusste, dass dies der Gesang bewirkt hatte – dass er mir half, meinen angestammten Platz im Universum wiederzufinden. Make-up, gewiss, eine Kleinigkeit. Aber es war ein Anfang …«8
Eine banale kleine Geschichte. Aber eindrucksvoll. Und sie machte mir Mut.
Liebe Leserinnen und Leser, um eines klarzustellen: Dieser kleine Satz Nam Myoho Renge Kyo ist keine Zauberformel, kein Beschwörungsritual und kein anderer mystischer Firlefanz. So unglaublich es auch erscheinen mag, mit dem Chanten dieses Satzes verbinden wir uns mit der kosmischen Lebenskraft. Diese gewaltige Energie reinigt unser gesamtes Leben und damit auch die Umgebung, in der wir uns befinden. Bis wir den »verborgenen Nutzen«, den Zustand des Buddha, erreichen, dauert es natürlich eine ganze Weile. Das hat Nichiren Daishonin immer wieder bestätigt. Diesen langen Weg würden die Menschen aber nie durchhalten, wenn sie nicht zwischendurch den einen oder anderen netten positiven Nutzen sehen könnten. Durch einen sofortigen, »offensichtlichen« Nutzen werden wir ermutigt, weiterzumachen, um schlussendlich auch in den Genuss des »verborgenen« Nutzens zu kommen. Dass gerade am Anfang wie durch Zauberhand sichtbare Beweise erscheinen, liegt daran, dass wir uns augenblicklich verändern, indem wir beginnen, uns mit dem Universum in Einklang zu bringen. Und wenn wir uns oder genauer gesagt unseren Lebenszustand verändern, bringt das auch alles andere in Bewegung. Es wird auf jeden Fall das erscheinen, was für uns in diesem Moment wichtig und – vor allem – richtig ist! Das sollten wir immer im Hinterkopf behalten.
Ich habe es immer wieder vergessen und manchmal verzweifelt nach positivem Nutzen Ausschau gehalten, und zwar so, wie ich ihn mir vorstellte. Ich verstand nicht, warum sich gewisse Wünsche partout nicht erfüllen wollten. In solchen Momenten zweifelt man alles an und ist versucht, die ganze buddhistische Praxis hinzuschmeißen. Und das passiert, weil man – eine ach so menschliche Eigenschaft – das große Ganze nicht sehen kann.
Nur mit der Weisheit des Buddha wird man begreifen, warum ein Wunsch sich nicht erfüllte – und dann auch erkennen, dass es die bessere Lösung war.
Dazu folgende Geschichte. Sie handelt von einem kleinen Jungen, der eine tödliche Allergie gegen jede Art von Anästhetika hatte. Eines Tages bekam er schreckliche Bauchschmerzen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Dort stellte man einen Blinddarmdurchbruch fest. Der Junge musste sofort operiert werden. Seine Mutter war mit im OP und hielt seine Hand, während der Chirurg den ersten Schnitt machte. Ohne Narkose. Der Kleine weinte und schrie, nicht nur wegen der unerträglichen Schmerzen, sondern auch aus der Verzweiflung heraus, warum seine Mutter es zuließ, dass er so sehr leiden musste. Seine Mutter wusste, dass er ohne diese Operation sterben würde, aber sie wusste auch, dass ihm eine Narkose ebenfalls das Leben kosten würde. Sie sah das »große Ganze«. Ihrem kleinen Sohn war das nicht möglich.
Zur damaligen Zeit besaß ich diese umfangreichen Erkenntnisse noch nicht. Ich war naiv, ein kleines bisschen informiert, hoch motiviert, guten Mutes, voller Elan, im Anfangsfieber meiner buddhistischen Praxis …
Und da war er auch schon, der heiß ersehnte, ultimativ positive Nutzen. Er hatte nicht lange auf sich warten lassen. Er präsentierte sich in Form eines absolut genialen Rollenangebots: Winnetous Schwester Nscho-tschi auf der Riesenbühne der Wiener Stadthalle. Es war eine Rolle, wie man sie sich immer wünscht: hochemotional, actionreich und mit einer dramatischen Sterbeszene im letzten Akt (für Schauspieler immer ein gefundenes Fressen!). Winnetou … Eine Reise zurück in die Geschichten meiner Kindheit, wunderbar. Und noch dazu mit einer geradezu astronomischen Gage!
Ich freute mich, wieder in Wien zu sein, auch wenn ich die Stadt nur zum Schnell-mal-ein-paar-Stunden-schlafen sah. Ich war glücklich und sorglos wie ein kleines Kind. Ich tauchte ein in eine fremde Welt und lebte gewissermaßen in diesem glückseligen »Paralleluniversum« des Herrn Karl May wie Peter Pan in Neverland. Die Probenzeiten waren hart. Sie begannen pünktlich um acht Uhr morgens mit der Versorgung der Pferde und endeten nie vor zwei Uhr früh. Der Riesenturm gesponserter Red-Bull-Dosen im Produktionsbüro nahm merklich ab. Die Flügel hatte ich in dieser Zeit aber auch ohne das Gummibärchen-Getränk aus der silberblauen Dose – denn eine andere Energie hielt mich inzwischen wach …
Eines schönen Probentages hörte ich einen mir bekannten, ja inzwischen sehr vertrauten Satz aus der Garderobe nebenan. Der lustige kleine Sam Hawkens, wer hätte das gedacht!
Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen! Jetzt konnte es richtig losgehen! Ich lernte das Gongyo und hatte jemanden an meiner Seite, mit dem ich mich austauschen, von dem ich lernen und dem ich Löcher in den Bauch fragen konnte: L.
Vieles, was ich heute weiß, habe ich von ihm. Ich bin unendlich dankbar, dass mir das Leben einen Menschen geschenkt hat, der mich ein so großes Stück weitergebracht hat, der mit einer Engelsgeduld, wann immer mein Weg ins Stocken geriet oder die Seele auf Halbmast hing, für mich da war. Tag und Nacht! Die Begegnung mit ihm war einer der größten Nutzen der ersten Tage meiner »menschlichen Revolution«. Und der effektivste Beweis von der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung!
Kaum angefangen, ging es aber dann auch gleich richtig los mit den Auswirkungen der von mir durch fleißiges Chanten gesetzten Ursachen. Es prasselte de facto auf mich nieder.
Zum Ersten: Menschlich und künstlerisch war die Wiener Winnetou-Produktion zwar der Himmel auf Erden, finanziell jedoch ein Desaster. Kurz: Niemand bekam seine Gage. Hilfe! Was hatte ich da für eine Lawine losgetreten?
»Du musst das so verstehen«, sagte mein Mentor-Freund L., den die Katastrophe nebenbei bemerkt ja auch betraf. »Es ist ganz normal, dass die Dinge sich am Anfang scheinbar verschlechtern. Du kennst das ja sicher auch von bestimmten Medikamenten: Erst mal verschlimmern sich die Symptome der Krankheit, nicht wahr? Indem wir chanten, verwandeln wir Gift in Medizin. Wir reinigen unsere Sinne, erhöhen unseren Lebenszustand und nehmen somit das Leben durch eine bessere, klarere ›Brille‹ wahr.«
»Das heißt, der Buddha in uns wird wach.«
»Genau. Aber da liegt auch das – scheinbare – Problem.«
»Wieso?«
»Stell dir vor, du hast die meiste Zeit deines Lebens auf einem Bahnhofsklo verbracht. Irgendwann gewöhnt man sich an den Gestank und nimmt ihn nicht mehr wahr. Durch das Chanten schärfen wir unsere Sinne, unser Lebenszustand verändert sich und plötzlich nehmen wir unsere Umgebung wieder so wahr, wie sie ist. Es stinkt zum Himmel. Und das stört uns. Wir müssen da weg, aber schnell! Also verändern wir unsere physische Umgebung, damit wächst unsere Lebenskraft und wir fühlen uns wohler. Mit dieser Veränderung setzen wir Ursachen für eine ›saubere‹ Zukunft.«
Das war drastisch, aber deutlich.
Hmm … Sollte ich den wahren Wert der Ausübung meines Berufes hinterfragen? Lag mein Augenmerk zu sehr auf »Fun« und »Kohle«?
Zum Zweiten: Für meine Dachwohnung, die ich nach langem Hin und Her endlich verkaufen konnte, bekam ich viel weniger Geld als geplant – eben weil mein Architekt so viel Mist gebaut hatte. Der war aber nicht mehr zu belangen! Also erst einmal Schluss mit ausgiebigen Shopping-Streifzügen durch Paris … Und schon wieder war das Thema Geld in unangenehmer Weise präsent – ein Thema, das bisher nie in meinem Leben aufgetaucht war. Sollte ich mich also von zweitrangigen »irdischen Begierden« verabschieden?
Zum Dritten: Ich hatte mich zwei Jahre zuvor aus der »Rentenversorgungsanstalt« Forsthaus Falkenau verabschiedet. Nun musste ich feststellen, dass ich im Fernsehen kein Selbstläufer mehr war. Es bedurfte regelmäßiger Anstrengung meinerseits und seitens meiner Agentur, um weiterhin im TV-Markt mitmischen zu können. Natürlich fanden das alle schick, dass ich jetzt in Paris lebte, und dort drehte ich ja auch den einen oder anderen Film. Vermutlich ging man in Deutschland einfach davon aus, ich hätte im Ausland schon genug zu tun. Der Gedanke drängt sich auf, dass ich mir dieses Hindernis, mich in stärkerem Maße anstrengen zu müssen, ausgesucht habe, um weiterzuwachsen, mich zu entwickeln, mein wahres Potenzial zu entfalten, sowohl als Mensch natürlich, aber auch als Schauspielerin. Es schien meine Aufgabe, nicht mehr wie bisher mit den gemütlichen Gegebenheiten zufrieden zu sein.
Unter dem Strich hatte auch dieser Aspekt mit dem Thema Geld zu tun. War ich drauf und dran, mein »Kohle-Karma« freizulegen? Oh, bitte nicht!
Zum Vierten: Mein zukünftiger Ehemann hatte sich mit einem seiner Filme eine Menge Feinde gemacht – ein blödes Spielchen heutiger Fernsehpolitik. Immer mehr Türen verschlossen sich vor ihm. Natürlich war das sein Karma, aber ich hing ja auch mit drin. Ich hatte ihn gewählt, ihn, der mir diesen Buddhismus, der mein Leben grundlegend verändern sollte, nähergebracht hatte. Ihn, den ich unter keinen Umständen hatte kennenlernen wollen und den ich in wenigen Wochen heiraten würde.
Wie auch immer. Ich beschloss, mich dem zu stellen, was ich da losgetreten hatte, schließlich gehörte mein zukünftiger Ehemann ja auch mit zu meinem Karma. Damals handelte ich aus einem unbestimmten Gefühl heraus. Heute weiß ich, dass ich in jener Zeit eine gewaltige Aufgabe gestellt bekommen habe, nämlich Verantwortung und Mitgefühl zu lernen – zwei Dinge, die in meinem Leben bisher keine allzu große Rolle gespielt hatten.
Fakt war also: In dem Moment, in dem ich ernsthaft mit der buddhistischen Praxis begonnen hatte, donnerten mir die Schwierigkeiten nur so um die Ohren. Nix mit den netten Beweisen à la Tina Turner und ihrem Make-up. Also Ärmel hochkrempeln und durch! Ich bin ja nicht allein. Gemeinsam schaffen wir das schon. Dachte ich …
Mein Leben begab sich in eine Schieflage. Außer der Liebe war nichts mehr an seinem Platz geschweige denn in irgendeiner Weise erfreulich. Für den Anfang war das ganz schön viel.
»Hilfe!«, schrie das Engelchen im einen Ohr, »was habe ich denn verbrochen? Wieso zum Teufel habe ich so ein mieses Karma?«
»Warum musstest du auch mit diesem Scheiß anfangen?«, kreischte das Teufelchen im anderen Ohr, »Es lief doch alles so super bis jetzt!«
»Haltet gefälligst die Klappe!«, zischte ich beiden zu.
Trotzdem fragte ich mich: Was ist da los, verdammt noch mal? L. hatte recht gehabt. Erst einmal geht es bergab. Ich weiß, das klingt jetzt alles andere als ermutigend und hätte ich vor, in diesem Augenblick jemanden zu »missionieren«, könnte ich mir das augenblicklich von der Backe kratzen. Die Aussage Nichiren Daishonins »Die Ausübenden des Lotos-Sutra werden den drei starken Feinden begegnen« wäre bei einem solchen Vorhaben absolut quotenfeindlich. Für mich gab’s jedoch kein Zurück …
Das Auftreten von Schwierigkeiten darf man nicht mit christlicher Logik betrachten. Hier geht’s nicht um Strafe oder so was. Natürlich ist das schwer zu begreifen: Aus dem Nichts tauchen Probleme auf, dort, wo vorher keine waren. Das ist aber nur eine subjektive Wahrnehmung. Denn was habe ich gelernt? Die Probleme sind immer schon da gewesen. Mit dem aktiven Chanten hatte ich sie lediglich in meinem Leben sichtbar gemacht. Ich habe das Glas umgerührt. Und das habe ich selbst getan. Ich allein. Ich kann niemanden dafür verantwortlich machen.
Das klingt jetzt ganz schön weise und abgeklärt. Sicher, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet. Ich gebe zu, dass ich damals ganz schön irritiert war. Was war denn nun mit all den Geschichten vom positiven Nutzen?
L. runzelte angesichts meiner Frage die Stirn und meinte, dass ich da wohl etwas nicht ganz richtig verstanden hätte. »Wenn Bedürfnisse erfüllt werden, dann sieht das zwar am Anfang ganz nett aus und man freut sich auch darüber, aber eigentlich geht es darum nicht. Wünsche gehören zwar zu unserem Leben dazu, aber wir müssen uns davon unabhängig machen.«
»Wie soll ich das verstehen? Wünsche ja oder nein?«
»Begierden sind Erleuchtung«, schreibt Nichiren Daishonin.«
Wie bitte? Der hat sie wohl nicht alle! Stopp. Einmal kurz Luft holen, ich verstehe schon. Das bezieht sich auf den »Mittleren Weg«, auf die Einheit von Körper und Geist. Es ist das Bild mit dem Kutscher, der die beiden Pferde im Gleichtakt halten muss.
»Es geht darum«, fügte L. mit Nachdruck hinzu, »die Dinge des alltäglichen Lebens als Motor für seine Entwicklung zu verwenden, sich seiner Lebenszustände bewusst zu sein, sie zu benutzen oder sie zu verändern! Man muss Prioritäten setzen und sich damit befassen, was im Buddhismus wirkliches Glück bedeutet, und zwar nicht irgendwann irgendwo ›da drüben‹ in einem ›Nirwana-Himmel-Ewige-Jagdgründe-Paradies‹, sondern im Hier und Jetzt. Jawohl! Deswegen praktiziere ich diesen Buddhismus des Alltags. Transzendentaler Schnickschnack ist kein Thema für mich!« L. hatte sich in Rage geredet.