Trets
Ganz im Süden von Frankreich, zwischen Marseille und Aix-en-Provence, liegt am Fuße des Bergmassivs Mont Sainte Victoire das kleine Örtchen Trets. Schmucklose Häuser bilden enge Gässchen, in denen seit dem Mittelalter die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Auf dem Marktplatz wird sonntags Boule gespielt und am Abend des 14. Juli mit viel Tamtam die Fête Nationale gefeiert. Es gibt eine Bar, ein kleines Bistro mit Plastiksesseln auf der Straße und sogar ein »Schlösschen« im Graf-von-Monte-Christo-Stil, in dem meist Ausstellungen zeitgenössischer Künstler zu sehen sind. Am Ortsrand findet man die üblichen großen Supermärkte wie Champion und SuperU. Rund um Trets erstrecken sich die Weingüter der Côtes de Provence. Hier wachsen meine Rotwein-Favoriten! Die hügelige Landschaft im typisch provenzalischen Braungrün wird überragt von den majestätischen Felsplateaus des Mont Sainte Victoire, das bei Sonnenaufgang erst zartrosa und dann in hellen Blautönen schimmert, in der Mittagshitze silberweiß, fast blendend strahlt und sich bei Sonnenuntergang rotgolden färbt und in lilapurpurblau den Tag beendet. Der Mont Sainte Victoire war das Lieblingsmotiv des Malers Paul Cézanne. Eine ungeheure Kraft geht von diesem Berg aus. Das war wohl mit einer der Gründe, warum die Organisation Soka Gakkai beschlossen hatte, ihr internationales Kultur- und Studienzentrum in Trets, an der Schnittstelle zwischen Europa und Afrika, anzusiedeln.
Daisaku Ikeda sagt dazu Folgendes: »Wie dieser ›König der Felsen‹ wünsche ich mir, dass jeder Einzelne von Ihnen einen unerschütterlichen, felsenfesten Glauben besitzt, ich wünsche mir, dass Sie eine unzerstörbare Kette von wertvollen Menschen, die für den Weltfrieden arbeiten, schaffen, die mit dieser Bergkette und den Felsen vergleichbar sind. Das Studium, welches Sie hier abhalten, ermöglicht die Vertiefung unseres Glaubens und die Öffnung des Weges für einen dauerhaften Frieden …«17
Ich muss gestehen, ich hatte ziemliches Herzklopfen, als der Bus, der einen Teil von uns Kursteilnehmern am Flughafen in Marseille aufgelesen hatte, in die von Pinien gesäumte Auffahrt zum Europazentrum einbog.
Trotz vieler Hindernisse hatte ich mich entschlossen, zum ersten Mal diesen Kurs zu besuchen und wie Alice eine Reise in das Wunderland hinter dem Spiegel zu unternehmen, eine Reise in mein eigenes, innerstes Selbst. Ich wollte versuchen, zusammen mit anderen das »Wahre Wesen des Lebens« zu begreifen. Nun war ich also tatsächlich in Trets und war gespannt, was mich hier erwartete. Ausgiebiges Studium, das war mir klar, und vermutlich würde es recht anspruchsvoll werden, weil dies ein »gemischter Europakurs« war, der Teilnehmer aus verschiedenen Ländern vereinte. Die Unterrichtssprachen waren Englisch und Französisch. Da ich keinen einzigen der Kursteilnehmer kannte, galt es für mich gleich zu Anfang, ein großes Hindernis zu überwinden: Ich »fremdel« gerne, soll heißen, Kontaktaufnahmen dauern bei mir etwas länger. Sicher war das eine Aufgabe, die ich vom Universum gestellt bekommen hatte – und lösen sollte.
Ich hatte längst verstanden, dass wir immer wieder Aufgaben gestellt kriegen, damit wir sie lösen. Schaffen wird das nicht oder laufen wir vor der Bewältigung davon, bekommen wir sie erneut präsentiert – wie ein Reste-Essen, das einfach nur auf einem frischen Teller angerichtet ist.
Wir stiegen aus dem Bus. Der Vorplatz flirrte in der Juli-Sonne bei gefühlten 52 Grad Celsius. In weiser Voraussicht hatte ich meine tropentauglichen weißen Leinenkleider eingepackt, die ich von nun an bei jedem Kurs in Trets tragen würde. Inzwischen war ich elf Mal dort, es ist in jedem Jahr für mich ein absoluter Muss-Termin. Allerdings war ich nie mehr so frei und unbelastet wie bei meiner allerersten Reise.
Ein schlichter Holzbau im Stil einer Jugendherberge begrüßte mich. Alles war sehr einfach gehalten – klar, es war ja auch kein Luxusurlaub. Ich würde mit zwei fremden Mädels ein Zimmer teilen müssen. Ich wusste das natürlich alles vorher und hatte mich darauf eingestellt. Auch Handtücher und eigene Bettwäsche hatte ich mitgebracht. Man weiß ja nie. Die Räume waren alle sehr sauber, denn Putzen gehört zum »Abschiedsritual« eines jeden Kursteilnehmers. Ohne Widerrede. Und das gilt auch für die Männer.
Nachdem ich mich in meiner Zimmerecke so gut es ging häuslich eingerichtet hatte, nutzte ich die bis zum offiziellen Beginn des Kurses verbleibende Zeit für einen Rundgang. Das Zentrum liegt auf einer Anhöhe mitten in einem Pinienhain, der sich nach Norden hin öffnet und den Blick auf das Tafelberg-ähnliche Massiv des Mont Sainte Victoire freigibt. Der gigantische Ausblick hat sich nach meinen zahlreichen Aufenthalten in Trets inzwischen fest auf meiner internen Festplatte eingebrannt. Parallel zum Berg ausgerichtet liegt die »Ikeda-Halle«. »Halle« ist wohl schwer untertrieben, denke ich, in Erinnerung an all die hässlichen Stadthallen, die auf Tourneen mitunter unsere Spielstätten sind. Als Laienorganisation findet die Soka Gakkai den säkularen Begriff »Tempel« nicht so passend. De facto sieht diese »Halle« aber so aus: mit ihrem flachen hellgrünen Dach, das an den Seiten abfällt, wie ein umgedrehtes Boot und auf zwei mächtigen Säulen ruht, die den Haupteingang flankieren.
Als ich am Nachmittag zur Eröffnungszeremonie durch diesen Eingang schreite – ich verwende dieses Wort absichtlich, denn »gehen« scheint mir für diesen besonderen Moment an diesem besonderen Ort zu banal –, den schlichten Vorraum aus Glas, Beton und Holz durchquere und schließlich in den »Hauptversammlungsraum« gelange, verschlägt es mir den Atem. Ich kenne die Kulturzentren in Paris, Frankfurt und Wien (das dortige Zentrum war zu jener Zeit noch eher improvisiert und ziemlich klein). Auch in Rom bin ich gewesen. War mir Letzteres schon imposant erschienen – Trets übertrifft einfach alle Erwartungen. Auf der Bühne, fast so breit wie die eines Stadttheaters, thront ein riesiger, mit Gold ausgeschlagener und Ornamenten verzierter Butsudan. Darin hängt, in gigantischer Größe, der »Europa-Gohonson«. Ein paar Deckenstrahler verleihen dem Ganzen eine scheinbar »überirdische« Leuchtkraft.
»Che bello!«, höre ich eine blondgefärbte Italienerin neben mir flüstern. Ein russisches Pärchen geht schnurstracks auf die Bühne zu, auf der in zwei Halbkreisen vor dem Gohonson circa 30 Stühle stehen. In der Mitte sitzt ein Mann mit schütterem Haar vor einem Mikrofon mit dem Rücken zum Eingang und chantet. Nach und nach gesellen sich die Kursteilnehmer dazu und fallen in den »Gesang« ein. Manche nehmen auf der Bühne Platz, manche unten im Saal ganz hinten. Wie es Schüler oft tun, denke ich und muss grinsen. Ja, auch ich wage mich nicht sehr weit vor und setze mich in eine der hinteren Reihen. »T’es la première fois à Trets?«, fragt eine leise Stimme in fließendem Französisch hinter mir. Ich nicke. Ja, ich bin zum ersten Mal hier. »Dann nichts wie rauf mit dir nach oben!«, sagt die Stimme, die zu der Frau gehört, die uns am Eingang so freundlich in Empfang genommen hatte, eine Japanerin, Ärztin in Paris, wie ich später erfahre, und die für den Kurs die Aufgabe übernommen hatte, uns 250 Menschen unter einen Hut zu bringen und für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. »Alle Neuen so nahe wie möglich zum Gohonson! In Zukunft wirst du nur noch dort sitzen, wenn du früh genug da bist«, zwinkert sie mir zu, »alors, vas-y! Aber denk nicht einmal im Traum daran, dass das ein Ehrenplatz ist! Wenn du vor den anderen sitzt, hast du die Aufgabe, ihre Gebete zum Gohonson zu unterstützen. Compris?« Diese Information war für mich zwar neu, aber einleuchtend. In der Organisation gibt es keine Hierarchien und Eitelkeiten, und wenn man doch einmal ein solches Verhalten an den Tag legt – kein Mensch ist unfehlbar –, wird dafür gechantet, es besiegen zu können. Die Aufgabe eines Leiters oder Verantwortlichen in unserer Organisation besteht nicht darin, den »Chef« zu spielen, sondern aufgrund seiner Erfahrungen die Mitglieder zu unterstützen und zu ermutigen. Ein Leiter gibt auf keinen Fall Anweisungen. Wenn Kritik geübt werden muss, wird das mit Liebe und nicht besserwisserisch getan. Ich selbst befand mich ausgerechnet während eines Kurses in Trets einmal in einer solchen Situation. Es war verdammt schwer, mein kleines Ego zurückzupfeifen und der betreffenden Dame mit aller Liebe und Güte, sanft wie ein Lämmchen, zu erklären, dass es respektlos ist, in einer Zimmergemeinschaft auf wenigen Quadratmetern jeden Morgen um halb fünf eine Stunde zu duschen und anschließend das taillenlange Haar einer ausgiebigen Föhn-Behandlung zu unterziehen. Für solche Prozeduren gibt es am Nachmittag immer ein Zeitfenster. In einer gewissen Weise war es der Buddhazustand, der mich dazu befähigte, so mit ihr zu reden. Ansonsten wäre ich ihr höchstwahrscheinlich an die Gurgel gegangen …
Der Buddha ist in Trets allgegenwärtig, denn alle arbeiten daran, ihn aus der Tiefe ihres Lebens hervorzubringen. Man spürt das an der Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit der Menschen. Jeder kommt hierher nach Trets mit seinem ganz persönlichen karmischen Gepäck, mit seinen Problemen, Schwierigkeiten und Mustern, die er auflösen will. Die Entschlossenheit jedes Einzelnen überträgt sich auf die Gruppe. Dazu trägt auch das gemeinsame Chanten bei. Die universelle Lebenskraft potenziert sich ins Hundertfache.
In meinem ersten Kurs erlebte ich das alles wie ein Frischling – naiv, staunend, mit großen Augen und weit aufgesperrten Ohren. Ich sog das zu Lernende auf, machte Notizen wie ein Student im Hörsaal und war von den Erfahrungen und Entschlüssen, die manche Mitglieder mutig vor versammelter Mannschaft vortrugen, tief berührt. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass auch ich einmal dort oben auf der Bühne stehen würde, vor dem Europa-Gohonson, an einem Rednerpult mit Mikrofon, um vor allen Kursteilnehmern meine eigene Geschichte vorzutragen, die Geschichte einer Reise durch die Welt meiner ganz persönlichen Hölle. Damals, im Juli 1998, war meine Welt noch vollkommen in Ordnung. Genau 13 Jahre später sollte das ganz anders sein …
»Wir haben heute Abend gemeinsam Tischdienst, hast du das gesehen?«, sprach mich eine sommersprossige, rothaarige Frau an, die offensichtlich aus Deutschland stammte. »Ich bin C. – ich lebe auf Mallorca. Die Mitglieder in Deutschland haben ihre eigenen Kurse, deshalb nehme ich immer an den internationalen Trainingskursen teil. Komm, ich zeige dir alles. Ich kenne mich aus, denn ich komme schon seit über zehn Jahren hierher. Um den laufenden Betrieb hier im Zentrum kümmern sich die anwesenden Mitglieder. Personal gibt es nur in der Küche, den Rest machen wir. Draußen an der Rezeption hängt eine Liste, auf der steht, wer welche Aufgaben übernehmen muss.«
Alles klar. Ich decke mit meiner Neubekanntschaft C. und einigen anderen die Tische fürs Abendessen ein. Es fühlte sich ein bisschen an wie Schullandheim, jedoch mit einem kleinen Unterschied: Hier würden wir mit Sicherheit nicht mehr unseren Lehrerinnen das Nachthemd am Bettlaken festnähen. Einige von Ihnen, verehrte Leser, besitzen vielleicht Erfahrungen mit Seminaren. Der Aufenthalt in Trets gestaltet sich ähnlich: Es gibt einen ausgearbeiteten Stundenplan mit regelmäßigen Pausen, in denen man Zeit hat für persönliche Gespräche sowie die Möglichkeit, das Gelernte zu verarbeiten. Das gemeinsame Gebet, also das Chanten sowie die Zeremonie des Gongyo verbinden uns nach dem Prinzip von »Viele Körper – ein Geist« jedoch bedeutend stärker miteinander, als gewöhnliche Seminarteilnehmer es erleben. Die Kursbesucher in Trets teilen alles miteinander, ihren Glauben, ihre persönlichen Sorgen (wenn sie das wollen), ihre Arbeitskraft und das Essen. Es gibt keine Bestellungen nach Karte, auf Zehnertischen werden mehrere Platten aufgestellt, die gerecht geteilt werden. Hungern muss hier niemand und da wir in Frankreich sind, gibt es selbstverständlich auch Wein. Und Fleisch. Das ist schließlich kein tibetanisches Kloster!
Apropos Essen – ich werde oft gefragt, ob ich Vegetarierin bin. Viele gehen davon aus, weil sie das irgendwie für »buddhistisch« halten. Nein, ich bin es nicht. Wie Sie wahrscheinlich inzwischen mitbekommen haben, ist der Buddhismus Nichiren Daishonins, den ich praktiziere, ein Buddhismus der Vernunft und somit nicht jenseits-, sondern diesseitsbezogen, eine Philosophie, eine Religion für Menschen, die mitten im modernen Leben stehen und die aufgrund der Witterung in ihrem Land und gemäß des »Dresscodes« ihre Berufes auch keine orangefarbenen Saris mit Jesuslatschen tragen können und wollen. Der Buddhismus lehrt natürlich den Respekt vor jeglichem Leben, also auch dem Leben der Tiere. Trotzdem gehören Tiere und deren Produkte irgendwie zur normalen Nahrungskette in der Natur. Dass Tierhaltung und Schlachtung mit respektvollem Umgang einhergehen sollten, versteht sich wohl von selbst. Ich sehe das auf jeden Fall so, auch wenn der Tierschutz in unseren Landen mitunter eigenartige Blüten treibt und für manche Herrschaften ein sehr profitables Unternehmen geworden ist. Apropos Blüten: Auch Pflanzen sind Lebewesen, die nicht gedankenlos ›verputzt‹ werden sollten. Und damit ich mir hier keine ewigen Feinde schaffe, gibt’s dazu noch eine ganz private Gratiserklärung obendrauf. Ich habe es wirklich mal versucht und ein paar Jahre lang vegetarisch gelebt. Medizinisches Fazit: eine Gewichtszunahme von sieben Kilo, dauernde Müdigkeit, Muskelschwund und eine schwere Anämie. Nein danke, das ist nichts für mich mit Blutgruppe null und als Typ des »Jägers und Sammlers«. Die Indianer bedanken sich bei den Tieren für die »Opfergabe«. Das ist eine schöne Geste. Wollen wir es dabei belassen …
Nach einer unruhigen Nacht – wer ist schon daran gewöhnt, zu dritt auf engem Raum in 80 Zentimeter breiten Einzelbetten zu schlafen – verließ ich noch vor dem allgemeinen Weckruf das Zimmer und erlebte, wie der Mont Sainte Victoire im Licht der aufgehenden Sonne sein Farbspektrum entfaltete. Doch ich war nicht die Einzige, die wach war: Aus einem der Zimmer war der Klang energischen Chantens nicht zu überhören. Die Tür stand offen. In dem kleinen Raum gab es einen wunderschönen Butsudan aus Ebenholz mit einem Gohonson in normaler Größe, elektrische Kerzen, ein paar Stühle und einen Ventilator. Sonst nichts. Ein kleines Schild an der Tür verriet mir: »Petit Butsudan, ouvert pour la pratique entre 6 et 23 heures.« Es war also ein Raum, der allen, die chanten wollten, von frühmorgens bis spätabends offen stand.
Ich habe inzwischen viele, viele Stunden in diesem kleinen Raum verbracht, um mir – während ich chantete – über mein Leben klar zu werden. Und ich bekam jedes Mal eine Antwort: Ursache –Wirkung. Oft nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, aber immer so, dass sie mich weiterbrachte. An meinem allerersten Morgen in Trets setzte ich mich einfach dazu, chantete eine Stunde mit diesen Menschen, die ich nicht kannte, und ließ mich von der Energie, die sich entfaltete, anstecken.
Während meiner Aufenthalte in Trets nutzte ich die Möglichkeit, sehr viel zu chanten, oft tat ich das stundenlang. Sie können sich das nicht vorstellen? Das konnte ich anfangs auch nicht. Aber gemeinsam ist es leichter, da gibt man nicht so schnell auf. Allein, muss ich gestehen, kriege ich oft nicht die Kurve. Löwen sind nun einmal faul. Das ist nicht als Ausrede zu verstehen. Ich muss mich tatsächlich jeden Tag zum Chanten aufraffen. Die schon erwähnten »teuflischen Funktionen« und »destruktiven Kräfte« setzen zusätzlich alles daran, die Menschen davon abzuhalten, ihr Leben auf Hochglanz zu polieren. Man wird irgendwie »runtergezogen«, bis dann gar nichts mehr geht und die Negativität die Kontrolle übernimmt.
»Das Gebet ist der Mut durchzuhalten« sagt Ikeda – und ich denke, das gilt für alle Religionen, Philosophien und Glaubensbekenntnisse. Das Gebet ist in gewisser Weise ein Kampf, ein Ringen darum, unsere Schwächen und unser mangelndes Selbstvertrauen zu überwinden, das angestrengte Bemühen, nie aufzuhören, daran zu glauben, dass wir unsere Situation verändern können. Beten ist auch ein Weg, ein Mittel, Ängste zu zerstören, Sorgen zu vertreiben und die Hoffnung nie sterben zu lassen. Das Gebet bedeutet Anstrengung, aber ja! Es erfordert eine Menge Disziplin. Aber nur dann, nur wenn wir beten beziehungsweise chanten, wenn wir uns intensiv unserem Glück widmen, greifen die Zahnräder unseres Lebens mit denen des Universums ineinander und drehen sich in Richtung Glück. Und wenn wir gemeinsam mit anderen beten, ist es noch effizienter, motiviert uns selbst und lässt uns, wie gesagt, nicht so leicht aufgeben.
Hierzu, liebe Leser, ein ganz banales Beispiel aus dem alltäglichen Leben: Im Fitnessstudio oder bei den Weight Watchers setzen Sie Ihre guten Vorsätze in der Regel um, oder? Und wie klappt das allein zu Hause? Na ja … Deshalb ist auch der Buddhismus keine »Solonummer«.
Zur Versinnbildlichung dafür, dass wir ach so normalen Menschen immer wieder vergessen, dass wir die Buddhaschaft besitzen, weil wir abgelenkt sind durch unseren stressigen Alltagssalat voller Probleme und Sorgen oder auch durch zu viel vorübergehende Freude, hier als »Sweet Reminder« eine kleine Parabel aus dem Lotos-Sutra, die ich in meinem ersten Jahr in Trets gehört habe:
»Vor langer Zeit im fernen Indien lebte ein Mann, der war so bettelarm, dass er nichts besaß außer dem zerlumpten Gewand, das er am Leibe trug. Schon längst hatte er den Geschmack von köstlichen Speisen und einem guten Wein vergessen. In seiner Not wandte er sich an einen Freund aus guten Tagen. Dieser bat den armen Mann in sein Haus, bewirtete ihn mit den erlesensten Speisen, reichte ihm den köstlichsten Wein und gab ihm ein weiches Lager mit vielen Decken und flauschigen Kissen. Den Wein, der sich wie Nektar in seiner durstigen Kehle anfühlte, nicht gewöhnt, schlief der arme Mann sehr bald ein. Gerührt betrachtete der reiche Mann seinen schlafenden Gast, empfand Mitleid für ihn und beschloss, ihm zu helfen. Da er jedoch noch in der Nacht zu einer Geschäftsreise aufbrechen musste, hatte er eine Idee: Er nähte einen kostbaren Juwel von unschätzbarem Wert in das Gewand des armen Mannes ein. Sicher würde er es am nächsten Morgen bemerken und somit in der Lage sein, ein neues Leben zu beginnen. Er würde anständige Kleider tragen, sich jeden Tag satt essen, einen guten Wein trinken, ein schönes Haus haben mit einem weichen Lager, das er mit einer liebevollen Frau teilen würde … Jedoch der arme Mann bemerkte nichts, als er erwachte …
(Der Freund hätte ihm ja vielleicht auch einen Zettel schreiben können, oder? – Anmerkung der Autorin.)
Er zog also bettelnd weiter, von Stadt zu Stadt, nicht im Geringsten ahnend, wie reich er in Wirklichkeit war. Einmal begegnete er einem bis auf die Rippen abgemagerten Kind, das ihn mit großen hungrigen Augen flehend ansah. Er hätte ihm so gern etwas zu essen oder ein wärmendes Kleidungsstück gegeben – doch er hatte ja selber nichts, stand nur da, mit leeren Händen und war unendlich traurig. Nach längerer Wanderung durch eine arme Gegend, wo niemand Almosen gab und er sich von Gras und Beeren ernähren musste, ließ der arme Mann sich völlig erschöpft in der Nähe einer Herberge nieder. Es ergab sich, dass sein alter Freund auf einer seiner Geschäftsreisen dort haltmachte. Dieser hatte Mühe, den Mann zu erkennen, und fragte bestürzt: ›Wie kommt es, dass du so elend aussiehst, alter Freund?‹ Er reichte ihm die Hand, half ihm auf und nahm ihn mit zu sich nach Hause, wo er ihm erneut frische Gewänder und köstliche Speisen bringen ließ. Nachdem der Mann gebadet, gekleidet und gestärkt war, nahm der Freund das alte Gewand und zeigte ihm das kostbare Juwel, das noch immer in den Lumpen eingenäht war. ›Es war immer da. Aber du wusstest es nicht, mein Freund. Du warst schon die ganze Zeit über reich, und du bist es auch jetzt.‹ Der arme Mann wollte seinen Augen nicht trauen. Das Juwel funkelte in seinen Händen – und in einem einzigen Augenblick erschien vor ihm all das, was er damit hätte tun können: warmes Essen und Kleidung für das Kind mit den großen hungrigen Augen, Festmahle geben für die Armen der Stadt, Tanzen, Singen, Gedichte lesen – einen guten Wein trinken – und all die anderen schönen Dinge, die man tun kann, wenn es nicht an Essen und Kleidung mangelt … Und schon so lange hatte er diese unerschöpfliche Quelle von Wohltaten bei sich getragen, ohne sich dessen bewusst zu sein. ›Wie dumm ich war!‹, rief er aus und umarmte seinen Freund. ›Ich war so sehr an mein Elend gewöhnt, dass ich nicht im Mindesten versuchte, etwas daran zu ändern. Jetzt begreife ich erst, dass Reichtum und Glück sich nicht an irgendeinem fernen, unerreichbaren Ort befinden, sondern dass sie ganz nahe bei mir sind, als ein Teil meines Lebens. Man muss es nur erkennen.‹«
Ich bin mir sicher, dass Johann Wolfgang von Goethe diese Parabel kannte. Wie sonst hätte er schreiben können: »Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da.«
Diese Zeile in Goethes Gedicht »Erinnerung« zeigt uns, dass östliches Gedankengut, seine Philosophie und Lehre von uns Menschen im Westen gar nicht so weit entfernt ist. Man muss nur ab und zu mal genau hinhören. Die meisten von uns vergessen das jedoch mit schöner Regelmäßigkeit. Ich leider auch. Ich habe dieses Juwel – den Schatz des unzerstörbaren Glücks – trotz intensiver Bemühungen selbst in Trets über Jahre hinweg nicht erkennen können und dieses glitzernde Ding anderswo gesucht – draußen, in einer Welt, die mich von dem Juwel, das eigentlich »in meinen Mantel eingenäht war«, entfernte und mich somit von dem »Wahren Wesen« meines Lebens trennte. Denken Sie daran: Es ist immer da, tief in Ihrem Leben. Vertrauen Sie darauf. Und nur darauf.
Der Mann mit dem schütteren Haar, Peter Kühn, der hauptverantwortliche Leiter Deutschlands, leitete am nächsten Nachmittag das »Studium«. Ich bin sehr dankbar, dass ich diesen wunderbaren, weisen Mann mit dem feinen Humor, der viel zu früh von uns gegangen ist, noch kennenlernen durfte. Er brachte uns die teilweise schwierigen Texte von Nichiren Daishonin auf erfrischende Art und Weise näher. Er erläuterte uns mit einfachen Worten die Briefe, die er den oft verzweifelten Menschen in seiner Zeit zur Ermutigung geschickt hat.
In dem Buddhismus, den ich praktiziere, haben diese Schriften in etwa den gleichen Stellenwert wie die Bibel für die Christen. Doch wie viele Christen auf dieser Erde lesen die Bibel wirklich, geschweige denn studieren sie? In diesem Buch steckt so viel Wahrheit für das Leben. Ehrlich! Und das sagt eine Buddhistin …
Peter Kühn war ein Pragmatiker. Das gefiel mir besonders. Er erzählte uns, dass er zu Beginn seiner buddhistischen Praxis große persönliche Schwierigkeiten hatte. Er vereinbarte mit sich selbst einen »Deal«: Er beschloss, drei Monate lang zu chanten, jeden Tag drei Stunden, komme, was wolle, und danach die Ergebnisse zu überprüfen, also zu sehen, ob eine positive Veränderung eingetreten war oder nicht. Im negativen Falle wollte er sofort und für immer mit der buddhistischen Praxis aufhören. »Das Ergebnis sitzt heute, 30 Jahre später, vor Ihnen«, schloss Peter Kühn mit einem unübersehbaren Augenzwinkern seine Erzählung ab.
Ich hatte das Glück, von Peter Kühn eine persönliche »Führung« zu bekommen, und stellte ihm die Frage, was ich tun könne, um mich weiterzuentwickeln und mein Leben als Schauspielerin zum Strahlen zu bringen. Denn ich hatte damals das Gefühl, beruflich irgendwie die Orientierung verloren zu haben. »Sie sind eine Traumfrau, das wissen Sie. Sie haben eine ganz besondere Ausstrahlung. Ich habe viele Ihrer Filme gesehen. Lassen Sie den Buddha in Ihnen durch Ihre Rollen strahlen. Setzen Sie sich ein Ziel. Beschließen Sie, eine großartige, überaus erfolgreiche Schauspielerin und eine herausragende Persönlichkeit zu werden – und chanten Sie eine Million Daimoku dafür!« Na bravo! Das muss man erst einmal schaffen. Doch meine Entschlossenheit, mich dieser gewaltigen Aufgabe zu stellen und sie zu bewältigen, war bei mir in diesem Lebensabschnitt noch nicht sehr weit entwickelt. Und sie sollte in der Zukunft sogar noch weiter im Treibsand eines Weges versickern, auf den ich mich über eine viel zu lange Zeit hinweg verirren sollte …
Doch zunächst einmal hatte ich Flügel. Der »Gesang« des Daimoku begleitete mich auf meiner Rückreise von Trets. Er war im Summen der Flugzeugturbinen zu hören, im Motorengeräusch des Taxis, im Straßenlärm, einfach überall. Ich war eingehüllt in Nam Myoho Renge Kyo.
»Das ist völlig normal«, meinte mein Ehemann, »das war bei mir auch so. Es hat dich durchdrungen und besteht in dir fort, in deinem inneren Ohr, in deinem Unterbewusstsein. Aber es hält nicht an.« Irgendwie schade, dachte ich. Es hat so etwas Friedliches, Beschützendes, und wäre bei der Rückkehr in den Alltag gut zu gebrauchen.
Selbstverständlich ist mir bewusst, dass Trets immer eine Art Parallelwelt war, doch ich bemühte mich jedes Mal, so viel wie möglich daraus mitzunehmen. Doch so viel Mühe ich mir auch gab, eines hatte ich in all den Kursen dort nicht gelernt: dem Buddha in mir zu vertrauen. Und somit war der Boden bereitet für den freien Fall …