Mein Leben bewegt sich

Willemsens Woche sollte nicht die einzige Sendung bleiben, in der ich mich in den kommenden Jahren zum Thema Buddhismus äußern würde.

Mehr und mehr verdichtet sich bei mir der Gedanke, dass ich mir dieses Leben ausgesucht habe, ein Leben im Scheinwerferlicht, ein »öffentliches« Leben, in dem mir fremde Menschen zuhören, ein Leben, das mir die Chance bietet, aber auch die Verantwortung überträgt, meinen persönlichen Beitrag für eine friedlichere Welt im Großen und im Kleinen zu leisten als Mensch und auch durch meine Arbeit.

An dieser Stelle noch einmal ein wenig Theorie – keine Angst – Sie werden’s überleben …

»Wir sitzen doch alle im selben Boot.« Diesen Allgemeinplatz kennen Sie sicher. Das Bild ist simpel, aber zutreffend. Wir sind zwar alle Individuen, doch in diesem »Boot«, gemeint ist das Leben, kommt es darauf an, dass wir uns dem Wohl der Gruppe entsprechend verhalten. Wenn ich zum Beispiel in diesem Boot herumhopse, noch dazu bei hohem Seegang (das heißt in schwierigen Zeiten), kommt das bestimmt nicht so gut an! Vom Standpunkt des Buddhismus aus betrachtet heißt das: »Viele Körper – ein Geist«. Jeder Mensch mit seinen ganz individuellen Fähigkeiten und Potenzialen ist dazu aufgefordert, seine »menschliche Revolution«. zu vollziehen, seine Buddhanatur zu erwecken. Damit haben all diese verschiedenen Individuen eine Basis und ein Ziel, das sie eint. Nur so ist eine harmonische Welt möglich. Einfach ausgedrückt bedeutet das: Wenn jeder Einzelne von uns an seiner »menschlichen Revolution« arbeitet, kommen wir einer Welt voller Würde und Respekt vor der Unverletzbarkeit des Lebens, frei von Hunger und Kriegen, und somit dem Weltfrieden ein großes Stück näher. Dieses Ziel können wir nicht durch Gesetze und Politik erreichen, sondern nur, indem wir uns ändern! Indem wir die zerstörerischen Tendenzen der niederen Welten, die zu Gewalt und Krieg führen, hinter uns lassen und Mitgefühl, Mut, Weisheit und Lebenskraft schaffen. Das fängt im Kleinen an (zum Beispiel in der Beziehung zwischen mir und meiner vermeintlich schrecklichen Pariser Vermieterin) und wächst bis hinauf bis zur großen Bühne einer UN-Vollversammlung.

Das ist mehr als nur »Glaube«. Der Glaube unterstützt mich auf diesem Weg, ebenso wie das Chanten, bei dem ich überprüfen kann, ob meine persönlichen Bedürfnisse mit dem »großen Ganzen« übereinstimmen. Letztendlich geht es aber darum, allen Menschen diese Möglichkeit der Entfaltung nahezubringen und damit einen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten. Diese Handlung, das Gesetz des Universums zu verbreiten, um allen Menschen zu ermöglichen, dauerhaft glücklich zu werden und somit den Weltfrieden zu verwirklichen, nennen wir »Kosen-rufu«, was wörtlich übersetzt »nahebringen, lehren, das Gesetz (des Universums) verbreiten« bedeutet.

So spricht der eine vielleicht seinen Nachbarn darauf an. Tina Turner erfährt davon durch eine Freundin am Telefon. Eine Schauspielerin gibt einen Crashkurs in der Theaterkantine. Ein berühmter italienischer Fußballer spricht in einem Interview im Corriere della Sera darüber. Ein junges Mädchen erzählt ein paar halbstarken Jungs in der Pariser Métro vom Gesetz des Universums und von Nam Myoho Renge Kyo, und das eigentlich nur, weil sie sich fürchtet. Und auf einer langen Autofahrt tröstet mit diesem einen Satz mein praktizierender Freund L. aus Wien den Requisiteur, der gerade seine Frau verloren hat. Es gibt so viele Wege auf dem Weg zu dauerhaftem Glück, Frieden und Harmonie. Und ich schreibe dieses Buch.

Wie Sie sehen, kommt es nicht nur darauf an, still und einsam vor sich hin zu praktizieren, seinen Glauben zu haben und mehr oder weniger brav zu chanten, aber ansonsten das Ganze eher »solistisch« zu betreiben. Denn Buddhismus heißt aktiv im Leben stehen, heißt Gemeinsamkeit und Dialog. Miteinander und auf gar keinen Fall gegeneinander. Es gilt, die Kluft und die Unterschiede zwischen den Menschen zu überwinden, um ein geistiges Band zu schaffen.

In den ersten Jahren meiner buddhistischen Praxis war ich hoch motiviert und glücklich angesichts der »Geschenke«, des positiven Nutzens, der wie von Zauberhand erschien. Ja, ich erwartete diesen Effekt sogar! Heute bin ich klüger und weiß, wie fatal es war, darauf zu vertrauen, dass der Buddhismus nach dem Prinzip »fleißig chanten, großer Nutzen« funktioniert. Im Grunde genommen ist das zwar richtig, doch die Gefahr liegt darin, sich zu sehr auf seine persönlichen Wünsche zu kaprizieren und die Verwirklichung der Buddhaschaft, also des universellen unzerstörbaren Glücks, darüber zu vergessen. Wenn man also die Erfüllung seiner Wünsche weiterhin eher als »Belohnung« anstatt als »Ermutigung« sieht, bringt man es in seiner menschlichen Entwicklung nicht sehr weit. Glauben Sie mir, da kenne ich mich inzwischen so richtig gut aus. Wie dem auch sei, das Jahr 1995 sollte eines der besten meines Lebens werden. Ich drehte vier wunderbare Filme, zwei davon mit internationaler Besetzung in solch traumhaften Ländern wie Indien und Südafrika. Das größte Ereignis, das alles überstrahlte, war jedoch meine Hochzeit in Salzburg, der unbestritten aufregendste und glücklichste Tag in meinem Leben. Es war wie im Märchen: Blumenkinder, Pferdekutsche für die Eltern, Bodyguards wie in einem Hollywoodfilm und mittendrin der Prinz und die Prinzessin (in einem Traum aus bestickter Seide) hoch zu Ross, eskortiert von der Reitergarde aus der Winnetou-Produktion. Und an diesem Tag gehörte das Max Reinhardtsche Schloss Leopoldskron, wie es in einem Märchen so ist, uns ganz allein.

Dort fand am Nachmittag auch eine buddhistische Zeremonie statt, geleitet von unserer Freundin M., die es trotz ihrer vielen Verpflichtungen in Paris ermöglicht hatte, an diesem wichtigen Tag bei uns in Salzburg zu sein. Mein Freund L. hatte seinen Gohonson aus Wien mitgebracht. Zusammen mit einem kleinen Grüppchen buddhistischer Freunde aus Frankreich, Deutschland und Österreich zelebrierten die frischgebackenen Eheleute ihr allererstes gemeinsames Gongyo.

Der positive Nutzen riss nicht ab: Im darauffolgenden Jahr kam noch mehr Bewegung in mein Leben und ich wurde wieder steil nach oben in den Fernsehhimmel katapultiert.

Ich bekam eine Hauptrolle in einer großen internationalen Fernsehserie. Eine Wahnsinnsrolle mit allen Facetten eines Menschenlebens: von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt, von emotional und sexy bis zu kaputt, labil und trotzdem stark. Dove Comincia il Sole – Verwirrung des Herzens bedeutete sechs Monate Dreharbeiten in der Traumstadt Rom! Es war der Himmel auf Erden.

Die knapp bemessene drehfreie Zeit versuchte ich »gewinnbringend« für meine Persönlichkeit zu nutzen. Ich chantete vor allem dafür, vor Ort, in Italien, Unterstützung zu bekommen, denn mir war bewusst geworden, dass es mitunter schwierig – und, ehrlich gesagt, grottenlangweilig – ist, nur so für sich allein zu praktizieren. Außerdem wollte ich endlich einmal wieder einen Gohonson sehen … Eines Tages passierte tatsächlich ein ähnlich »verzauberter Zufall« wie damals in Südafrika (der natürlich keiner war, wie wir wissen, sondern lediglich die Antwort, also »Wirkung«, auf meinen ausdrücklichen Wunsch als »Ursache«). Es ergab es sich, dass eine Szene in dem Hotel gedreht werden sollte, in dem ich wohnte. Die Produktionsleitung bat mich, mein Zimmer zu meiner Garderobe umfunktionieren zu dürfen, da es an der Piazza del Popolo keinen Platz für meinen Wohnwagen gab.

Meine Garderobiere kam also morgens mit meinem Film-Outfit in mein Zimmer und bemerkte auf der Kommode im Schlafzimmer meine kleine »Installation« mit Wiedererkennungswert: eine Klangschale, zwei Kranichfiguren, die Meister und Schüler darstellen, Kerzen, das Gongyo-Buch und eine weiße Gebetskette, die ich von meinem Liebsten zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Meine entzückende neapolitanische Garderobiere strahlte mich an: »Non ci credo! Anche tu pratichi? Che bello! Allora possiamo senz’altro farlo insieme ora!« (Das glaube ich jetzt nicht! Du praktizierst auch? Wie schön! Dann können wir das ja gemeinsam machen!)

Mein Wunsch, jemanden zu finden, mit dem ich gemeinsam chanten konnte, war also in Erfüllung gegangen. Wir hatten uns gefunden. Und nicht nur das. Am darauffolgenden Sonntag nahm mich meine Garderobiere mit zu einem »Event« der Sonderklasse. Die buddhistische Organisation von Italien feierte in ihrem Kulturzentrum ihr 20-jähriges Jubiläum. Der »Versammlungsraum« in einer ehemaligen Reithalle im Norden Roms bot über 1000 Menschen Platz. Und so viele waren an jenem Sonntag auch dort.

Bei dieser Feier erlebte ich zum ersten Mal die ungeheure Kraft, die so ein gemeinsames Chanten freisetzen kann. Der Raum bebte förmlich. Die vielen verschiedenen Stimmen formierten sich zu einem Glockenklang, kraftvoll, feierlich, alles durchdringend. Und mein Körper und mein Geist bebten mit. Die Freude, die positive Kraft, die den ganzen Raum erfüllte, ist schwer zu beschreiben.

Natürlich weiß ich um die magische Kraft eines kollektiven Gebets oder eines Sprechchores. Im altgriechischen Theater wurde viel damit gearbeitet. Der Chor hat die Aufgabe, die Situation, in der sich die Hauptakteure befinden, zu kommentieren, aber auch, sie mittels der Gewalt seiner Vielstimmigkeit dem Zuschauer emotional näherzubringen, ihn mit der Kraft der Musik der Worte in die Geschichte hineinzuziehen. Das ist ein sehr wirksames Element des Theaters. Die Oper setzt da noch eins drauf. Musik ist eben noch klanggewaltiger …

Ich praktizierte zu jener Zeit seit eineinhalb Jahren, nicht akribisch, aber von Herzen, so wie ein Kind mit seiner Lieblingspuppe spielt. Ja, ich weiß genau, dass das jetzt ziemlich seltsam klingt, aber rückblickend kann ich es nicht anders beschreiben. Es mangelte mir definitiv an Determination und an Klarheit in meinen Gedanken. Ich war sehr naiv! Ich zog das schicke Fallschirmspringer-Outfit mit dem seidenen Rucksack an, warum, wusste ich damals nicht genau, es war mir auch egal. Und ich traf die richtige Entscheidung, denn eines Tages sollte ich diesen Rettungsschirm brauchen, und zwar dringend …

Doch trotz meiner unreflektierten Ausübung und unklaren Haltung begann sich unterbewusst, irgendwo im Verborgenen, ganz tief in mir, etwas zu verändern. Ich hatte begonnen, mein Potenzial als Mensch und auch als Schauspielerin zu entfalten. Eine neue, liebevolle Nähe zu den Menschen in meiner Umgebung machte sich in mir breit – und die brachte ich unbewusst in meine Rolle ein. Wenn ich mir diese Arbeit heute ansehe, stelle ich fest, dass sich mein Spiel komplett verändert hat: Es kommt aus einer kraftvollen Ruhe, ist viel direkter und unprätentiöser. Das Zusammenspiel mit den anderen Figuren lässt schon eine Art Mit-Gefühl erkennen. »Tut ihr gut, dieses Arbeiten im Ausland«, hieß es. »Danke, Nam Myoho Renge Kyo«, hätte ich am liebsten in den Abspann gesetzt.

Auf der abenteuerlichen Reise meiner »menschlichen Revolution« passierte in den Jahren bis zur Jahrtausendwende wirklich einiges mit mir. Der kleine »Ich-bin-der-Größte-und-immer-mit-dem-Kopf-durch-die-Wand«-Löwe entwickelte sich weiter …

Je mehr ich mit der buddhistischen Praxis mein Leben zu reinigen, zu polieren begann, umso größer wurde der innere Abstand zu meinem Leben im Scheinwerferlicht. Eine fast schon ironische Distanz, wie einer meiner Songtexte aus den Jahren 1997/98 deutlich zeigt:

Um jeden Preis

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Sie will das größte Stück vom Kuchen,

Ein dickes Stück vom Großen Glück.

Will weit hinaus über ihren Horizont,

Sie will wissen, dass sich das Leben lohnt.

Sie will nur die erste Reihe, das letzte Wort,

Den letzten Tanz

Jeden Tag den Blick nach oben,

Nur wer siegt, hat ’ne Chance!

Nur nicht mit dem kleinen Stück zufrieden sein,

Das man ihr gibt, weil sie so brav.

»Alles oder nichts« ist die Parole,

Lang genug war sie ein blödes Schaf.

Sie will das größte Stück vom Kuchen,

Ein dickes Stück vom Großen Glück.

Will weit hinaus über ihren Horizont,

Sie will wissen, dass sich das Leben lohnt.

Sie spielt niemals mit Verlierern,

Gewinner vor, um jeden Preis.

Immer nur die Stufen rauf, das Leben ist kein Kreis.

Wenn andere von der Leiter ihr entgegenfall’n,

Schaut sie nicht hin, hat keine Zeit.

Geht es um den Platz im Licht,

Verpasst sie niemals die Gelegenheit.

Sie braucht das größte Stück vom Kuchen,

Das dickste Stück vom Großen Glück,

Für sie den allergrößten Raum!

An ein Morgen – ja, da denkt sie kaum.

Gnadenlos räumt sie die andern fort, so wie’s ihr passt,

Jeden Tag den Blick nach oben, weg mit dem Ballast!

Und oben an der Spitze ist sie dann endlich allein

In ihrem Turm aus Eitelkeit –

Statt Sonnenschein nur Einsamkeit.

Sie hat das größte Stück vom Kuchen,

Doch bitter schmeckt das Große Glück,

Immer nur die Stufen rauf, es geht nicht mehr zurück.

Da oben spürt sie erst die dunkle Einsamkeit,

Und mit sich selbst sein kann sie nicht.

Muss sie denn noch mehr riskier’n,

Um endlich dann der Star zu sein im Licht?

Sie will das größte Stück vom Kuchen,

Ein dickes Stück vom Großen Glück.

Will weit hinaus über ihren Horizont,

Will wissen, dass sich das Leben lohnt.

Sie will alles, was das Leben geben kann,

An ein Morgen denkt sie kaum.

Ihr gebührt der größte Raum.

Sie ist sich selbst die Nächste –

»Bescheidenheit ist eine Zier,

Doch weiter kommt man ohne ihr!«

Das Lied befindet sich auf einer CD, die wir anlässlich einer Tour mit dem Musical Ich steig aus und mach ’ne eigene Show produziert haben.

Diese Tournee, so erfolgreich sie auch für mich persönlich war, gestaltete sich als das Gegenteil von »Viele Körper – ein Geist«. Es brodelte schon während der Proben gewaltig, die verschiedenen Egos gingen auf ihren eigenen Trip und nach einigen Wochen herrschte das Gesetz des Dschungels: Jeder gegen jeden. Verrückterweise war das auch das Thema des Stücks:

Eine erfolgreiche Schmuse-Schlagersängerin (stellen Sie sich Hansi Hinterseer in weiblich vor) beschließt am Vorabend der Premiere ihrer Show in einer verdammt wichtigen Stadt, ihr bisheriges Programm über den Haufen zu schmeißen und durch ein neues, freches mit anspruchsvollen Liedern, Frauenpower, Sex und Rock ’n’ Roll zu ersetzen. Das Stück zeigt die Probe, die sie mit ihren Girls und den Musikern kurzfristig anberaumt hat, um ihrem Manager (Marke verklemmter Spießer) die neue Show vorzuführen. Das endet natürlich in einer Katastrophe, aber auch darin, dass die beiden Protagonisten ihr eigenes verkorkstes Leben aufarbeiten und versuchen, es in den Griff zu bekommen. Da sich mein Kollege F., der zu Wiener Zeiten ein guter Freund gewesen war, zu jener Zeit mit seinem persönlichen verfahrenen Leben konfrontiert sah, driftete das Stück auf gespenstische Art und Weise in eine gefährliche Wahrheitszone ab. Was wir spielten, war Untertext aus unserem eigenen Leben. Ich war schon lange nicht mehr das »süße Mädel«, das er angebetet hatte. Ich präsentierte mich erfolgreich, frech und mit meinen ledernen Hotpants, raspelkurzen Haaren und der E-Gitarre aggressiv sexy. Er war oberflächlich (leider auch als Schauspieler), beziehungslos, dem Alkohol verfallen und frustriert – ihm schwammen die Felle davon.

Heute weiß ich, dass diese paar Monate eine karmische Lehrstunde par excellence waren. Mir wurden meine eigenen alten Muster vorgeführt, doch ich war bereits stark genug, um mich nicht wieder zurückziehen zu lassen. Ich lernte, dass Loyalität und Respekt auf der einen, sowie Opportunismus auf der anderen Seite megawichtige Lebensthemen sind – für jeden von uns! Innerhalb des Ensembles gab es andauernd das Bestreben, den einen oder anderen für sich zu gewinnen und auf seine Seite zu ziehen. Einschmeicheln und hinterrücks treten. Ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker und fand diese Situation zum Kotzen. Mein Mitgefühl war allerdings noch nicht so weit entwickelt, dass ich diese Aufgabe bewältigen konnte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als alle, die nicht mittun wollten, (im übertragenen Sinne) von der Bühne zu fegen. Schließlich ging es um die Show und Professionalität hat, wie bereits erwähnt, bei mir oberste Priorität.

F. gehörte zu dieser Gruppe von oberflächlichen Tatsachen aus meiner Vergangenheit, die sich – im Zuge meiner kleinen persönlichen Revolution und Entwicklung als Mensch – ganz von allein entsorgten.

Der »Müll« stellte sich selbst vor die Tür, in Form von Menschen, mit denen ich nie auf wertvolle Art und Weise Zeit verbracht hatte, in Form von überflüssigen, fluguntauglichen Luxuskoffern, die mir geklaut wurden, und in Form von oberflächlichen Rollen, die mir nicht mehr angeboten wurden (nur ernähren sie einen auch dummerweise).

Ich hatte weniger Engagements, aber das, was ich machte, zeigte eine neue Anja Kruse: wahrhaftiger, besser, interessanter. Und was auch immer ich anfasste, wurde etwas Besonderes, denn ich hatte etwas für mich Sensationelles entdeckt: Wenn allen Dingen des Lebens die Zehn Welten innewohnen, dann auch den Figuren aus Papier, die ich mit meinem Spiel zum Leben erwecke. Mir eröffneten sich neue, ungeahnte Dimensionen in meiner Kreativität! Jedes Wort, jeder Charakterzug meiner Figuren wurde plötzlich wahr, weil ich ihnen mit meiner Erkenntnis die unendliche Vielschichtigkeit eines richtigen Menschen geben konnte. Ich begann systematisch, meine eigenen Lebenszustände auf den Seziertisch zu legen, hineinzuspüren, »wie sich das anfühlt«, was mich in den einen oder anderen Zustand bringt oder wie die Wechsel zwischen den Lebenszuständen vonstattengehen. Für das Abrufen von Emotionen, um sie in mein Spiel einzubringen, finde ich es sehr hilfreich zu wissen, aus welchen Welten sie kommen. An dieser Stelle ein kleiner Einschub für Kollegen, falls ein paar davon tatsächlich dieses Buch lesen: Natürlich weiß ich, was Method Acting und die Stanislawski-Schule sind. Das habe ich alles längst verinnerlicht. Und ihr werdet sagen: »Was soll das alles? Das ist doch nichts Neues, sich tief in eine Situation hineinzufühlen, um dies bei Bedarf abzurufen.« Doch, das ist etwas anderes, behaupte ich: Mit der Klarheit über diese gut voneinander abgrenzbaren Lebenszustände geht es präziser, schneller und leichter!

Sie, liebe Leser, interessieren solche Interna vermutlich nicht. Für Sie zählt bei einem Film oder im Theater, denke ich, lediglich eins: dass Sie die Figur, die man spielt, für einen »richtigen Menschen halten« – und, im allerbesten Fall, einfach vergessen, dass Sie sich im Kino, im Theater oder vor einem Fernseher befinden. Die Kenntnis der Zehn Welten ermöglicht es nun, selbst die abgrundtief schwärzesten Figuren als wahre Menschen zu zeigen, die Sie als Zuschauer vielleicht moralisch verurteilen, aber trotz allem verstehen. Denn auch schlechte Charaktere haben ihr Buddhapotenzial.

Hierzu einige Beispiele aus dem »Mainstream«-TV, die Sie vielleicht gesehen haben:

In der Fernsehserie Klinik unter Palmen spielte ich in drei in der Dominikanischen Republik gedrehten Folgen die Rolle der Dr. Kaltenbach. Die Ärztin ist ein herzloses Biest, egozentrisch, verrucht und sexsüchtig. Diese recht oberflächlichen Attribute bilden fast eine Vorgabe, wie die Rolle zu spielen ist. Diese Frau ist einerseits in den Zustand der Hölle abgerutscht, geht andererseits wiederum instinktgesteuert in der Welt der Animalität auf und gibt sich der vorübergehenden Freude eines sexuellen Abenteuers hin. Ihr Verhalten der jungen Kollegin gegenüber, die ihr den Lover ausspannen will, wird durch die Welt des Ärgers und der Arroganz bestimmt, die unerfüllte Sehnsucht nach diesem Mann hält sie in der Welt des Hungers fest. Einen Moment lang ist die Figur in der Bodhisattvawelt zu erleben, als sie nach einer schwierigen Entbindung der Mutter das Kind in die Arme legt. In dieser Szene entschied ich mich dafür, ein trauriges Lächeln zu zeigen, da meine Figur laut Drehbuch selbst keine Kinder bekommen konnte. Durch diese Darstellung landet sie schnurstracks wieder in der Welt der Hölle. Ich könnte das jetzt ewig weiterführen, aber ich denke, Sie haben verstanden, was ich meine …

In der Rosamunde-Pilcher-Verfilmung Zerrissene Herzen spielte ich die Frau des Gutsbesitzers, die einem ihrer Angestellten leidenschaftlich verfallen ist und sich damit in den niederen Welten von Animalität und Ärger befindet. Sie leidet, weil dieser Mann sie nicht erhört. Bis zuletzt hegt sie jedoch Hoffnungen und es gibt eine Szene, in der sie sich kurz in der vorübergehenden Freude befindet, da der Geliebte ihrem Werben nachzugeben scheint. Bis zu dem Moment, an dem eine andere Frau auftaucht. Eine Konkurrentin. Das bringt meine Figur sofort in die Welt der Hölle und sie schmiedet – aus diesem Lebenszustand heraus – Rachepläne. Als ihre Konkurrentin jedoch einen schweren Unfall hat, zeigt sich, dass meine Figur, die Frau des Gutsbesitzers, doch nicht einfach nur »die Böse« ist. Indem sie sich liebevoll um die Verunglückte kümmert, zeigt sie Mitgefühl, also die Welt des Bodhisattva. Als ihr Ehemann stirbt, manifestiert sich ohne Zweifel die Welt der Hölle, deren positiver Aspekt jedoch, Leid als Antriebskraft zu nutzen, meine Figur dazu bringt, das Lebenswerk ihres Gatten, ein Heim für Kinder, fortzuführen. Sie hat also begriffen, wo ihr wahrer Platz im Leben ist. Hier zeigen sich die Welten des Lernens und der Teilerleuchtung.

Selbst bei Märchen, die in der Regel reine »Schwarz-Weiß-Malerei« sind, macht eine auf den Zehn Welten basierende Darstellungsweise die Rollen viel spannender. Das setzte ich in der Figur der Hexe in Dornröschen um, einer Folge der leicht satirischen ProSieben Märchenstunde. Die Hexe ist böse, klar. Ihre Welt ist die Animalität, in der sie nur daran interessiert ist, so mächtig wie möglich zu sein. Dann wiederum greift die Welt des Hungers: Wir sehen, sie ist gierig nach Schönheit und Jugend. Da sie sich für die Allerschönste hält, befindet sie sich mitten in der Welt des Ärgers und bald darauf in der vorübergehenden Freude, weil Dornröschen sich gestochen hat. Und da unsere Hexe davon ausgehen wird, dass die »Konkurrentin« erst einmal 100 Jahre schlafen wird, befindet sie sich in der Welt der Ruhe. Doch nicht lange – denn der blöde Prinz war nicht eingeplant. Und Ursache und Wirkung folgend, stolpert die Hexe über die »Drei Gifte« (Ärger, Dummheit, Arroganz) und landet somit wieder in der Welt der Hölle, wo sie entsetzlich leidet, weil der Zauber gebrochen ist und sie in Windeseile altern wird.

Ich versuche also, nicht nur als Mensch in meinem Leben Werte zu schaffen, sondern auch als Schauspielerin, indem ich mich ernsthaft um die Figuren bemühe, die ich zum Leben erwecke. Und ich glaube, dass mein Publikum das spürt und annimmt. »Mei, san Sie bös!«, sagte eine Verkäuferin auf dem Elisabethmarkt in München nach der Ausstrahlung von Klinik unter Palmen mit einem breiten Grinsen zu mir. Sie hatte es verstanden. Auch Dr. Kaltenbach war ein Mensch und kein Monster. Und die Marktfrau sah mich als Schauspielerin hinter dieser Rolle, die für ihre Arbeit mit einem Kompliment bedacht und nicht wie üblich mit der Rolle verwechselt wurde.

Jahre später spielte ich zusammen mit dem wunderbaren Kollegen Wolf-Dietrich Berg in Düsseldorf in Éric-Emmanuel Schmitts Meisterwerk Der Freigeist. Das brillante Konversationsstück über einen Tag im Leben des Philosophen Diderot steckt voller menschlicher Abgründe und Emotionen, vor allem in Bezug auf die Rolle, die ich spielte. Eines schönen Probentages, als ich mich wieder einmal durch ein Wechselbad von Gefühlen und Lebenszuständen navigierte, stieg mein Kollege plötzlich aus der Szene aus, sah mich unverwandt und fast ein wenig irritiert an und fragte: »Sag mal, wie schaffst du das, so schnell von einem Gefühl ins andere umzusteigen? Wie kannst du diesen Zustand, diese Situation so schnell erfassen und umsetzen?«, um dann scherzhaft hinzuzufügen: »Ich brauche dafür mindestens eine Woche Proben.«

»Da wir aber die Premiere nicht verschieben können«, entgegnete ich frech, »wähle ich den schnelleren Weg und mache das mit meinem Buddhismus!« Ich erzählte ihm von den Zehn Welten und einiges mehr (nach Probenschluss, selbstverständlich). Ich rannte bei meinem Kollegen offene Türen ein. Nachdem er jahrelang »auf der Suche nach der Wahrheit hinter den Dingen« gewesen war, hatte er diese nun endlich gefunden. Ich gab ihm ein bisschen Lesestoff, den er unbedingt wollte – er war wie ich ein Kopfmensch –, doch ohne lange zu fackeln kam er schon am nächsten Abend zu mir, um gemeinsam zu chanten …

Dieser wunderbare Kollege starb wenige Jahre später an Krebs. Ob er damals wusste, dass er mit der Begegnung mit dem Mystischen Gesetz positive Ursachen für sein nächstes Leben setzen würde? Ich bin jedenfalls sehr dankbar, dass ich dieses kleine Samenkorn pflanzen durfte. Eine wunderbare Ursache. Und vielleicht hat es seinen Übergang in die Nicht-Existenz ein bisschen leichter gemacht …

Da ist es also, das Thema Tod. Ich habe mich jetzt lange genug davor gedrückt. Es ist mir klar, dass Sie brennend interessiert, was ich dazu zu sagen habe, doch dieses Thema ist schwierig, komplex und kompliziert. Es ist inzwischen November und der Nebel hängt über dem Salzburger Untersberg fest. Vielleicht sollte ich wieder in den Süden fahren, in mein sonniges Zuhause in Frankreich zurückkehren? So ein Blödsinn, ich kann doch einem Kapitel nicht davonfahren! Außerdem … der November passt eigentlich gar nicht so schlecht zu diesem Thema.

Aber vielleicht sollte ich an den Bodensee fahren. In die Buchinger Klinik. Ruhe geben. Fasten. Spazieren gehen am See, wenn das Licht ganz grau ist und der Nebel sich silbern über dem Wasser verdichtet. Mit mir allein sein. Denken. Schreiben. Toll! Mein absoluter Kreativplatz.