Jahre des Lernens

Servus Wien – bienvenue Paris. Ich hatte wirklich alles hinter mir gelassen, einen radikalen Schnitt gemacht. Eine neue, unbekannte Zukunft erwartete mich. Liebe macht ganz schön mutig! Oder war dieser Schritt schon die allererste Auswirkung auf die Ursache, die ich gesetzt hatte, indem ich diesem Buddhismus begegnet bin, den ich heute, da ich dieses Buch schreibe, seit ziemlich genau 18 Jahren praktiziere. 18 Jahre! Ich glaub’s fast selber nicht!

Mein erstes Zuhause in Paris war ein winziges Studio im Quartier Saint-Germain. Wenn schon, denn schon! Der »Klassiker« à la Sartre und Simone de Beauvoir, zwischen »Café de Flore« und »Les Deux Magots« und nur ein paar Schritte vom Seine-Ufer mit seinen Bouquinisten entfernt. Unter den Dächern der Stadt der Liebe auf 35 Quadratmetern. Da erlebte ich natürlich jeden Morgen und Abend die Zeremonie des Chantens im wahrsten Sinne des Wortes hautnah mit! Mein Liebster saß auf der Bettkante, ein kleines Buch und eine Gebetskette in der Hand, und sprach diese fremden Worte vor sich hin. Ich wusste damals nicht ganz genau, was ich davon halten sollte, aber ich respektierte seinen Glauben und bemühte mich, nicht zu stören, was auf 35 Quadratmetern wirklich nicht einfach war …

»Du bist viel näher dran, als du glaubst«, ermutigte mich mein geliebter Mitbewohner. Aber ich bin jemand, der erst wissen und verstehen will, bevor er etwas tut. Bei mir können die Dinge nicht am Kopf vorbeilaufen. Ein großes Hindernis, tiefer in die Theorie einzutauchen, war allerdings nicht zu leugnen: das sprachliche Problem.

»Hindernisse sind eine Tatsache des Lebens und dazu da, überwunden zu werden!«, wurde mir voller Begeisterung erklärt. »Sie manifestieren sich vor allem dann ganz automatisch, wenn wir diesem Buddhismus begegnen. C’est vrai! Das habe ich nicht erfunden. Sie erscheinen, weil wir daran wachsen, uns entwickeln, unser Leben zum Glänzen bringen. C’est ça, la Revolution Humaine – die Menschliche Revolution. Davonlaufen gilt nicht! Wenn wir ein Problem leugnen oder vor uns herschieben, verschwindet es nicht – et tu mangeras le même salade sur une autre jolie assiette – du bekommst den gleichen Salat auf einem neuen Teller serviert, spätestens im nächsten Leben!«

Doch im Problemeverschieben war ich Meister! Das wird jetzt aber unbequem, dachte ich. Sollte ich den Rückwärtsgang einlegen? Nein. Ich hatte mich für diesen Mann entschieden, der seine Überzeugung und seinen Glauben mit in unsere Beziehung brachte. Ich hatte mich für dieses Leben entschieden, also würde ich jetzt auch damit klarkommen. Irgendwie. In welcher Weise genau, war mir noch völlig unklar. Erst mal anständig Französisch lernen, dachte ich. Das war zwar eher eine pragmatische als eine spirituelle Entscheidung, aber was zählt, ist doch allein der Wille – und irgendwann das Ergebnis.

Eines schönen Nachmittags zierte plötzlich ein wunderschönes chinalackschwarzes Schränkchen die Kommode im Schlafzimmer unserer ansonsten cremeweißen »Puppenstube« unterm Dach.

»Was ist denn das für ein Ding?«, wollte ich wissen.

»Ein ›Butsudan‹, so eine Art Schrein, in dem der ›Gohonson‹ aufbewahrt wird. Das ist eine Schriftrolle, die das Gesetz des Universums enthält. Ich werde so einen Gohonson demnächst bekommen«, verkündete mein Liebster voller Vorfreude.

»Und dann?«

»Dann werde ich davorsitzen und chanten.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, empörte ich mich. »Ich verstehe ja, dass dieser Satz, den du vor dich hinsagst, dir hilft, dich auf das Universum zu konzentrieren und dein Leben in Bewegung zu bringen. Aber du willst mir doch jetzt nicht erzählen, dass du in Zukunft stundenlang in eine Kiste gucken und ein Stück Papier anbeten wirst?« Ich war ziemlich aus dem Häuschen. Das ging mir dann doch echt zu weit.

Der Liebste blieb erstaunlich gelassen, vielleicht hatte er meine Reaktion erwartet.

»Das ist ein Symbol«, sagte er.

»Du meinst wie das Kreuz in der Kirche? Das ist ganz bestimmt nicht mein Ding!«

»Lass mich doch ausreden, merde!«, ereiferte er sich, »diese Worte wurden von jemandem niedergeschrieben, der einen ganz hohen Lebenszustand hatte, also schon ›erleuchtet‹, im Buddhazustand war. Somit ist das nicht nur ein Text auf Papier, sondern der Gohonson an sich ist dadurch im Zustand der Buddhaschaft. So wie alle Dinge in diesem Universum die Buddhaschaft besitzen. Ob diese gerade sichtbar ist oder nicht, ist egal. Sie ist da. Tout simple!«

Jetzt hatte ich ein Problem! Also doch ein Objekt der Anbetung! Wie diese ganzen Buddhastatuen und Götterfiguren für alle Lebenslagen, wie man sie in Indien und vor allem in China findet. Irgendwie hatte ich plötzlich auch das Goldene Kalb aus der Bibel vor meinem geistigen Auge. Also doch etwas außerhalb von einem selbst! Das ging mir gewaltig gegen den Strich.

»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, mein Schatz«, lenkte mein Liebster ein, »versuche bitte nicht, es mit dem Verstand zu begreifen. Ich kann dir nur eines sagen: Der Gohonson ist kein Objekt, das wir ›anbeten‹, sondern wir konzentrieren uns auf den Buddhazustand in uns selbst, indem wir ihn anschauen.«

»Hm …« Irgendwie war ich unzufrieden.

»Weißt du was?«, sagte mein inzwischen etwas ungeduldig gewordener Franzose (man muss wissen, dass diese Konversation in einem Mischmasch aus Englisch, Französisch und ein bisschen Deutsch geführt wurde. Das war ziemlich mühsam!). »Ich möchte gerne, dass du M. kennenlernst. Sie organisiert diese Versammlungen, zu denen ich hin und wieder gehe. Am Samstag ist die nächste. Komm einfach mit. Und lass dir von M. alles erklären, was du wissen willst.« Und grinsend fügte er hinzu: »Erstens ist sie viel geduldiger als ich, zweitens ist sie eine Frau und drittens ist ihr Englisch in diesem Themenbereich um einiges besser. Ich glaube, sie hatte sogar einmal Deutsch in der Schule.«

M. war eine sympathische Frau Ende 40, in deren Apartment im vornehmen Seizième Arrondissement die Versammlungen stattfanden. Ein unglaublich positiver Mensch. Sie schien dauerglücklich zu sein. Keine Ahnung, warum. War das die buddhistische Praxis? Aus allem, was ihr begegnete und was sie wahrnahm, machte sie Liebe. »Das Leben mit Liebe betrachten« war ihr Credo. »La pratique a changé ma vie – das Chanten hat mein Leben verändert!«, strahlte sie mich an und bei ihrem breiten herzlichen Lächeln wurden ihre Viertel-Chinesen-Augen noch ein bisschen schmaler …

Anfänglich musste ich mich ganz schön anstrengen, um überhaupt folgen zu können. Viele der Anwesenden waren Japaner, und wenn diese Französisch sprechen beziehungsweise das, was sie dafür halten, hat man als Ausländer wenig Chancen! Dennoch habe ich schnell kapiert, dass es primär gar nicht darum geht, etwas zu verstehen. Das wurde mir anhand von ganz banalen Beispielen schnellstens klargemacht, unter anderem mit der folgenden Situation: Ich lasse eine Gabel zu Boden fallen. Sie fällt, ob ich das will oder nicht. Das ist Schwerkraft. Auch wenn ich nicht an Schwerkraft glaube, die Gabel fällt. Ein weiteres Beispiel ist Einsteins Relativitätstheorie. Wer von uns kann schon behaupten, dass er sie versteht? Dennoch ist sie existent. Der Relativitätstheorie ist es wurscht, ob wir an sie glauben, sie bewirkt trotzdem, dass das Universum so und nicht anders funktioniert. Es leuchtete mir auch ein, dass das gemeinsame ›Chanten‹ eine besondere Kraft besitzt – gültig auf der ganzen Welt, über sämtliche Grenzen und Kulturen hinweg. Etwas, das alle Menschen egal welcher Herkunft, ob aus dem Königshaus oder dem Slum, miteinander verbinden kann. Ziemlich gerecht, finde ich, denn ein Glaube oder eine Lebensphilosophie kann doch nicht denjenigen vorbehalten sein, die über ein gewisses Maß an Intelligenz und Bildung verfügen! Ich bin im Laufe meines Lebens sehr vielen Menschen begegnet, die diese Form von Buddhismus praktizieren, und bei manchen tat ich mich schwer, ein Gespräch zu führen, weil sie so »simple minded« waren. Doch auf den Geisteszustand kommt es nicht an, um seinen Lebenszustand zu erhöhen und Glück in seinem Leben zu schaffen. Das ist eine Sache des Herzens und nicht der Birne! Auch wenn ich damals noch nicht bereit war, mich vollständig auf die buddhistische Praxis einzulassen, wurde mir klar, dass ich dem, was ich mein Leben lang gesucht hatte, ein großes Stück nähergekommen war. Besonders erfreulich und angenehm fand ich, dass bei diesen Versammlungen in keiner Weise »missioniert« wurde. Heute weiß ich auch, warum das nicht der Fall war: Diese Lehre, diese Philosophie, diese Religion – wie auch immer man es nennen mag – pflanzt sich »von Herz zu Herz« fort. Das funktioniert nicht mit Nachdruck und massivem Angriff, sondern läuft ganz im Stillen ab. Es ist Teil der »Menschlichen Revolution«, die jeder für sich vollzieht, bei der es darum geht, im eigenen Leben Werte zu schaffen, beruflich wie privat. Man arbeitet daran allein, aber auch – und das ist ganz wichtig – gemeinsam mit anderen, im eigenen Kreis, der eigenen Stadt, dem eigenen Land und auf der ganzen Welt, im friedlichen Dialog auf der Basis der buddhistischen Lehre des Lotos-Sutra mit dem Endziel des Weltfriedens. Das ist die Intention der Menschen, die diese Art des Buddhismus praktizieren: sich selbst und damit die Welt in friedlicher Weise zu revolutionieren. Toll! Was für ein gewaltiger Unterschied zu den buddhistischen Lehren, mit denen ich mich bisher beschäftigt hatte. Die folgten eher dem Prinzip, dass jeder auf seiner Matte sitzt, in mehr oder weniger tiefer Versenkung meditiert und für sich allein an seiner Erleuchtung herumwurschtelt.

Darum gibt es in diesem Buddhismus auch eine Organisation. Schließlich ist in diesem Universum ja alles irgendwie »organisiert«, von den simpelsten Vorgängen bis zum komplexen Zusammenspiel von Erde, Wasser, Pflanzen und allen Lebewesen in der Natur …

Diese Vereinigung von Menschen, Laien, ganz normalen Leuten mit normalen Berufen ist die »Soka Gakkai«, die »Werteschaffende Gesellschaft«. Ihr oberstes Credo ist der Dialog zum Zwecke des Friedens. Albert Camus sagte einmal: »Das echte Gespräch bedeutet: aus dem Ich heraustreten und an die Tür des Du klopfen«. Das ist die Lebensbasis der Mitglieder der »Werteschaffenden Gesellschaft«, die inzwischen viele Millionen Menschen in fast 200 Ländern dieser Erde zählt. Außerdem ist die Soka Gakkai als »non-governmental organization« in der UNO vertreten. Ihr Präsident, Daisaku Ikeda, ist ein Botschafter des Friedens – nein, kein »Guru«! – und in der Welt im friedlichen Dialog mit den führenden Köpfen aus Kultur, Wissenschaft und Politik unterwegs. Im Gegensatz zum Dalai Lama wurde Ikeda nicht zur schillernden Buddhismus-Popikone hochstilisiert und glanzpoliert. Er ist in all seinen Friedensaktivitäten erfreulich unpolitisch und kommt ohne Bodyguards und PR-Meute aus. Die Ermutigungen, die er regelmäßig in alle Welt sendet, lassen auf eine 200-Stunden-Woche schließen. Ikeda lebt es vor: das ehrliche Bemühen um andere Menschen! Das Leben eines »Bodhisattva«, eines Menschens, der andere auf ihrem Weg zur Buddhaschaft unterstützt. Die Soka Gakkai wird in Frankreich sehr angefeindet. »Aha, da haben wir’s«, dachte ich damals, »Sekte! Vorsicht!« Obwohl ich diesen Eindruck gar nicht hatte. Im Gegenteil: Niemand will etwas von dir, Geld schon gar nicht. Du wirst ermutigt, aber nicht geschubst. Du kannst alles fragen und bekommst auf alles eine Antwort. Die Organisation ist absolut transparent. Wenn jemand etwas spenden will, kann er das tun, es besteht aber keine Verpflichtung. Buddhistische Spenden sind keine Mitgliedsbeiträge. Natürlich sind finanzielle Mittel nötig, um zum Beispiel buddhistische Zentren zu unterhalten. Diese Mittel stammen aus freiwilligen Spenden der Mitglieder. Doch im Buddhismus ist »Geben« etwas anderes als eine karitative Spende für »irgendeine gute Sache«. Das muss man etwas tiefer, aus einem aufrichtigen Glauben heraus, betrachten: Buddhistische »Spenden« sind letztendlich »Opfergaben« an unser eigenes, ewig bestehendes Leben und somit nichts anderes als Darbringungen an uns selbst: Wir geben nicht an irgendjemanden – sondern unserem eigenen, ewigen Leben. Und es kommt nicht auf die Höhe einer Gabe an.

Ich werde zu diesem Thema immer wieder befragt, deshalb ist mir diese Erläuterung wichtig – damit das mal geklärt ist.

»Dein Schatz hat mir gesagt, dass du ein bisschen mehr wissen möchtest«, sagte M. einmal nach einer dieser Versammlungen. »Weißt du was, morgen ist ein ruhiger Tag für mich. Magst du nicht vorbeikommen, wir kochen und reden ein bisschen. Am Abend kommt der Rest der Familie und dann essen wir zusammen, wenn du willst. D’accord?« Das gefiel mir, eine »leçon privée«, eine Privatstunde. Ich wollte als »Anfänger« in den Versammlungen nicht so viel Zeit für »Basisfragen« verplempern.

»Das ist zwar Unsinn« kommentierte M. meine Begründung, »denn dazu sind diese Versammlungen ja unter anderem da, aber, entre filles – unter uns Frauen,« fügte sie augenzwinkernd hinzu, »ist es doch manchmal ein bisschen leichter.«

Am nächsten Tag saß ich in ihrer Küche. Wir putzten Gemüse für ein Ratatouille, während ich meine »Privatstunde« bekam.

»Weißt du«, sagte ich, »ich habe das mit dem ›Gohonson‹ noch nicht wirklich verstanden. Okay, ich habe das Ding ja jetzt bei dir gesehen, aber ich weiß nicht so ganz genau, was ich damit anfangen soll. Mein Kerl hat mir zwar erklärt, dass der Gohonson nicht angebetet wird, sondern nur eine Art Symbol ist. Aber irgendwie sind wir da nicht weitergekommen.«

»Alors. Hast du Lust auf eine kleine geschichtliche ›excursion‹?«, begann M., wobei sie mit bewundernswerter Geschicklichkeit den Tomaten die Haut abzog. Ich hatte die »Fleißaufgabe« bekommen, die Thymianblättchen einzeln abzuzupfen. Wollte M. mein Multitasking testen? Klar kann ich aufmerksam zuhören und gleichzeitig etwas anderes tun. Ich bin doch kein Mann! Doch ich lag mit meiner Vermutung vollkommen daneben. M. hatte mich von den Schneidearbeiten dispensiert, damit ich mich nicht verletze, falls ich abgelenkt sein sollte aufgrund allzu großer Aufmerksamkeit ihren Worten gegenüber. So viel zum Thema Mitgefühl! M. hatte das offenbar schon längst verinnerlicht.

»Alors, chérie, pour commencer«, fuhr M. fort, »du weißt, wer Shakyamuni war?«

»Natürlich. So weit müssen wir nicht zurückgehen! Nach der Geschichte, die wir alle kennen, wurde er unter dem Bodhibaum erleuchtet.«

»Und was bedeutet das?«, hakte M. nach.

»Na ja, dass er verstanden hat, wie das Leben funktioniert.«

»Und was meinst du damit?« Ich war ein bisschen ratlos. »Je t’explique«, sagte M. lächelnd, hatte sie mich doch bei einem profunden Halbwissen ertappt, »ich erklär’s dir. ›Erleuchtung‹ bedeutet, dass er zur ›wahren Natur des Lebens‹ erwachte. Écoute bien: Shakyamuni Buddha erwachte zu der Erkenntnis, dass unsere Unfähigkeit, die wahre Natur oder das wahre Wesen des Lebens zu begreifen, dafür verantwortlich ist, dass wir auf dem Weg des Leidens gefangen sind. Wenn wir lernen, wie wir das unbegrenzte Potenzial des Lebens erreichen, können wir alles Leid umwandeln in dauerhaftes und unzerstörbares Glück. Compris?«

»Ja, das habe ich verstanden, aber was genau ist das ›wahre Wesen des Lebens‹?«

»Attends! J’y arrive, das kommt schon noch. Nicht so ungeduldig! Shakyamuni zog viele Jahre durch Indien und lehrte seine Erkenntnisse, die nach seinem Tod in unzähligen Sutren, das heißt Schriften, niedergeschrieben wurden …«

»… und seine Lehren verbreiteten sich über ganz Asien und veränderten das Leben von vielen Millionen Menschen grundlegend«, musste ich mein Wissen dann doch anbringen.

»Richtig. Aber jetzt wird’s spannend: Mit der Zeit begann Shakyamunis Lehre auseinanderzubröckeln. Es entstanden verschiedene buddhistische Schulen, die sich seine Erkenntnisse so zurechtlegten, wie es ihnen passte.«

»Klar!«, setzte ich noch eins drauf, »immer wenn Menschen im Spiel sind, vor allem Priester und ›Instanzen‹, die sich für befugter als den Rest der Menschheit halten, laufen die Dinge aus dem Ruder und die Wahrheit verflüchtigt sich! Hast du gewusst, dass in der ›Ur-Bibel‹ sehr wohl die Reinkarnation vertreten war? Beim Konzil von Konstantinopel wurde sie dann rausgekickt. Ist doch klar, warum. Mit der ›Nur-ein-Leben-und-danach-Himmel-oder-Hölle‹-Theorie haben die sogenannten ›Diener Gottes‹ doch mehr Macht über die Menschen!«

»Das mag sein«, entgegnete M., »aber führt das jetzt nicht ein bisschen zu weit? Wir wollen doch vor neun Uhr essen.« Sie schob mir den Knoblauch zum Abpellen rüber.

»Ich wollte es nur mal gesagt haben. Diese Tatsache hat mich sehr dazu motiviert, mich glaubenstechnisch anderswo zu orientieren, und zwar dort, wo es kein ›Bodenpersonal‹ und keine ›Mittelsmänner‹ gibt.«

»D’accord. Tu as raison! Regarde: Mit Shakyamunis Lehren ist das Gleiche passiert. Die wahre Essenz, nämlich dem Leiden der Menschen ein Ende zu setzen, ging unterwegs verloren. Im 13. Jahrhundert fragte sich dann in Japan ein junger Mönch namens Nichiren Daishonin, warum die Menschen, obwohl sie ihr Leben nach dem buddhistischen Glauben ausrichteten, nicht aufhören zu leiden, warum es nach wie vor Naturkatastrophen und allgemeine Verzweiflung gibt. Also studierte Nichiren sämtliche Sutren Shakyamuni Buddhas, die er in die Finger kriegen konnte, Buchstabe für Buchstabe auf der Suche nach der Essenz von Shakyamunis Lehre. Und er fand sie. Im sogenannten Lotos-Sutra, Buddhas allerletzter Lehre.«

»Warum ›Lotos-Sutra‹?«, fragte ich.

»Du kennst die Lotosblüte, n’est-ce-pas?«

»Natürlich! Die Blüten sind wunderschön! In Japan habe ich ganz viele gesehen!«

»Und wo wachsen sie?«, fragte M. nach.

»Nun ja, im Wasser, ich meine am Boden eines Sees oder Teiches.«

»Und wie ist es da so?«

»Ähm, ziemlich schlammig!« Ich schüttelte mich angesichts der Erinnerung an einen Bodenkontakt mit nackten Füßen. »Ich habe mal eine Szene gedreht, bei der ich in einem Teich baden musste. Bah, war das eklig, mit den Füßen in diesem braunen Modder zu stehen! Stimmt, Lotosblüten gab’s dort auch.«

»Siehst du, und obwohl die Wurzeln in schlammigem Grund stecken, ist die Blüte doch rein und wunderschön. Sie repräsentiert die Buddhanatur. Das heißt: Schlamm und Dreck, also Leid, wenn du so willst, sind notwendig, um die Blüte der Buddhaschaft hervorzubringen. Entsprechend besitzen alle Lebewesen und Dinge in unserem Universum – nach der lebensbejahenden Philosophie des Lotos-Sutra – den reinen Lebenszustand der Buddhaschaft. Et maintenant, très important, und einzigartig in der buddhistischen Praxis des Lotos-Sutra: Ein Buddha ist kein transzendentales Wesen oder eine Gottheit, sondern ein ganz normaler Mensch, der im Hier und Jetzt lebt, der in der Lage ist, sich von eigenem Leid zu befreien und anderen dabei zu helfen, ihr Leid zu überwinden. Er tut das, indem er Weisheit, Mut, Mitgefühl und Lebenskraft hervorbringt. Die Menschen im Japan des 13. Jahrhunderts hatten, obwohl sie buddhistisch waren, längst den Glauben verloren, ihre Buddhaschaft verwirklichen zu können. Nichiren Daishonin beschloss, etwas zu unternehmen, um den Menschen wieder eine Möglichkeit zu geben, mit dem Mystischen, also dem ›Wahren Gesetz‹ in Einklang zu kommen. Zu dieser Erleuchtung gelangt, schrieb er sozusagen seinen eigenen hohen Lebenszustand auf, wie einst Buddha, der mit Weisheit und Mitgefühl für das Glück aller Menschen kämpfte. Das war im Jahr 1279. Und jetzt kommt’s: Nichirens Niederschrift, genannt Gohonson, verkörpert den Buddhazustand, den höchsten Lebenszustand sowie das Gesetz des Universums. Und um allen Menschen zu ermöglichen, diesen Buddhazustand in sich zu aktivieren, machte Nichiren Daishonin einen Satz – Nam Myoho Renge Kyo – also, si tu veux, den Titel und die Kernaussage des Lotos-Sutra, zur Basis der buddhistischen Praxis. Dieser Satz ist der Ausdruck für das grundlegende Gesetz des Lebens.«

»Du meinst das Prinzip von Ursache und Wirkung und die Tatsache, dass jeder Mensch ein Buddha ist oder zumindest sein kann?«, hakte ich noch einmal nach, um ganz sicherzugehen, dass diese Information auch in meinem Großhirn angekommen war.

»Absolument! Nichiren war der tiefsten Überzeugung, dass mit dem Chanten dieses einen Satzes jeder Mensch das ihm innewohnende Potenzial, ein Buddha zu werden, verwirklichen könne, um somit den Kreislauf des Leidens zu beenden. Unsere Organisation Soka Gakkai lässt von dem ursprünglichen Gohonson, der im Tempel Taiseki Chi in Japan hängt, Abschriften machen.«

An dieser Stelle musste ich M. unterbrechen, weil ich plötzlich ein ganz klares Bild vor Augen hatte. Auf einmal wurde mir ganz heiß. »Ich war dort«, rief ich ganz aufgeregt, »ich habe das alles gesehen. Ich war vor vielen Jahren mit der Wiener Volksoper in Japan und wir haben so ziemlich alles besichtigt, was sehenswert war. Ich hatte natürlich keine Ahnung!«

»Wie wundervoll!«, sagte M. und umarmte mich spontan. »Da hast du vielen von uns etwas voraus.«

»Für mich war das damals einfach nur ein schöner Tempel mit einem wundervollen ›Altar‹.« Ich ließ die Bilder vor meinem inneren Auge Revue passieren.

»Und damit wir uns zu Hause täglich daran erinnern, dass wir die Buddhaschaft besitzen,« fügte M. noch hinzu, »haben wir also eine Abschrift des Gohonsons, vor dem wir morgens, damit der Tag gut beginnt, und abends, damit der Kreis sich schließt, chanten und die Zeremonie vollziehen, die du ja hier bei mir schon gehört hast. Dieser Gohonson ist nichts anderes als ein – wie heißt das in der Chemie? – Katalysator! Und über die Buddhaschaft und die Bedeutung von Nam Myoho Renge Kyo reden wir ein andermal. Setz schon mal die Kartoffeln auf. Ich zeige dir, wie man ein richtig tolles Gratin macht. Das ist auch nützlich. Wir wollen ja nicht nur den Geist, sondern auch den Körper ernähren.« Und damit war die »leçon privée« beendet.

Ich hatte nun eine ganze Menge zu verarbeiten und wandte mich dankbar der äußerst »diesseitigen« und praktischen Tätigkeit des Kochens zu. Ich muss zugeben, auch in dieser Domäne war ich Anfängerin. Aber es machte mir Spaß, es auszuprobieren. Die Jahre in Paris setzten einiges in Gang, nicht nur in philosophischer Hinsicht. Damals hätte ich mir kaum vorstellen können, dass aus mir einmal eine »Köchin aus Leidenschaft« werden würde …

»Eh alors?«, begann die Liebe meines Lebens wenige Tage später eine erneute religiös-philosophische Diskussion. »Kommst du jetzt klar mit dem Thema Gohonson?«

»Ja, ich denke schon. Der Gohonson ist ein Objekt, das die Buddhaschaft besitzt, genauso wie alle Menschen. Ich zum Beispiel. Und sogar du!« Diesen Kommentar konnte mir nicht verkneifen! Getreu dem Motto: Lieber einen guten Freund verloren als eine Pointe verpasst.

»Frechdachs! Mais, il faut que tu comprenne, dass du das richtig verstehst: Der Gohonson repräsentiert das Gesetz, unser Leben, also auch den Lebenszustand der Buddhaschaft. Aber er ist nicht als eigenständiges Objekt zu verstehen und somit außerhalb von uns selbst. Ça c’est très important, ganz wichtig: Der Gohonson ist lediglich ein Spiegel unseres eigenen Lebens. Er macht uns deutlich, dass wir die Buddhaschaft besitzen. Wenn wir chanten und uns ihm zuwenden, erinnern wir uns daran. Wir konzentrieren uns darauf. Er ist ein Objekt, das man wertschätzt und ehrt, aber nicht anbetet, weil es ja eigentlich in uns selbst existiert. C’est ça la difference! Compris?«

»Ja, klar. Stellt sich nur die Frage, ob ich das brauche«, frotzelte ich. »Es soll Leute geben, die ganz gut ohne Spiegel leben können.«

Er ging nicht darauf ein: »Du musst dir das so vorstellen: Tu es comédienne – du bist Schauspielerin. Du brauchst den Spiegel, um dich in deiner Garderobe auf die Vorstellung vorzubereiten. Er zeigt dir dein Gesicht, so wie das Publikum es sieht.«

»Und wenn der Spiegel schmutzig ist oder gar blind, werde ich keine Ahnung haben, wie das Publikum mich sehen wird, ich meine, ob das Make-up stimmt, die Frisur sitzt, mein Ausdruck richtig ist!«

»Tout à fait. Il te réprésente. Er ist dein getreues Abbild. Deswegen …«

»J’ai compris. Man muss den Spiegel putzen. Ich hab’s verstanden.« Allerdings war mir das mit dem Buddha- und dem Lebenszustand noch nicht ganz klar, da musste ich bald noch einmal nachhaken. Auf gut »Christendeutsch« würde das ja bedeuten: Ich bin Gott. Das ist schon der Hammer …

Wie auch immer. Was dieses Ding mit dem Namen Gohonson anbelangte, war ich erleichtert. Es war lediglich ein Symbol für etwas, das ich auch war, also kein Gegenstand der Anbetung. Super, denn Götzenanbetung, ob sie nun Statuen oder Menschen betraf, war mir schon immer ein Gräuel. Ich komme auch mit den Heiligen in der katholischen Kirche nicht richtig klar. Ich halte sie für herausragende Persönlichkeiten in der Geschichte der Menschheit, die Großartiges vollbracht haben und den Menschen zum Vorbild wurden. Aber einen noch höheren Stellenwert haben sie bitte schön nicht!

Dieser Gohonson hielt also kurze Zeit später in unserem Haushalt Einzug. Es gab eine schlichte Feier, bei der ich – als »nicht-praktizierendes Wesen« – gebeten wurde, dieses »Objekt der Verehrung« mit Respekt zu behandeln. Mein lieber Mann, die nahmen’s aber genau! »Schlechte Erfahrungen«, wurde mir als Begründung mitgeteilt. Das konnte ich nicht wirklich nachvollziehen. Wahrscheinlich, weil Toleranz für mich selbstverständlich ist.

Auch wenn ich damals bei der Zeremonie nur zusah, beeindruckte mich die Ernsthaftigkeit dieser Menschen, ihren Glauben zu leben, schwer. Und ich nahm, soweit es mein beruflicher Terminkalender zuließ, weiterhin an den monatlichen Gruppenversammlungen teil.

Ich erinnere mich gern an die Zusammenkünfte bei M. in Paris. Die Mitglieder der Organisation setzen auf Kommunikation und das reziproke Lernen voneinander statt auf die traditionelle Einbahnstraße von der Kanzel herab zur Gemeinde, wie ich es in der christlichen Kirche erlebt hatte. Dialog ist das Credo für eine friedliche Gesellschaft. Es gibt im Buddhismus das Prinzip von Meister und Schüler – und diese befruchten sich gegenseitig. Der Schüler bemüht sich, mit seinem Meister eins zu sein, das Gleiche gilt aber auch für den Meister. Ohne seinen Schüler ist er nichts. Beide bilden im Herzen eine Einheit.

»Ich denke, es geht nicht darum zu verstehen! Jetzt also doch Theorie?«, warf ich bei einer der Versammlungen in die Runde.

»Buddhismus ist Vernunft«, gab der damalige Verantwortliche der Organisation in Frankreich zur Antwort. »Buddhismus bedeutet, das Leben in seiner ganzen Komplexität zu verstehen. Dennoch ist Chanten das Wichtigste. Man muss den Buddhismus ebenso wenig verstehen wie ein Auto. Man kann trotzdem damit fahren. Aber es schadet nicht, wenn man ein bisschen was über den Motor weiß.«

»Oder man denke an ein Medikament«, sagte M. »Ich muss den Beipackzettel nicht lesen, damit es wirkt! Aber ich muss es nehmen! Si non, ça n’marche pas – sonst ist es wirkungslos!«

»Das stimmt!«, setzte ein weiterer Anwesender noch eins drauf. »Es hilft auch, glaube ich, nichts, wenn ich den Beipackzettel esse!« Allgemeines Gelächter. Es ging bei den Versammlungen nicht bloß »bierernst« und schon gar nicht »heilig« zu. Wie schön! Sehr häufig waren an diesen Abenden interessante Menschen dabei, mit spannenden Geschichten, aus allen sozialen Schichten. Oft haben wir uns mit 20 bis 30 Leuten in das kleine Zimmer gequetscht, das nur diesem Zwecke diente und in dem sich außer ein paar Stühlen und dem schwarzen, goldbeschlagenen Schrein, in dem der Gohonson hing, keine weitere Möbel befanden. Man traf sich zum »Chanten« und um die Zeremonie des »Gongyo« zu vollziehen. Dieses Gebet ist eine Art Mantra aufeinanderfolgender Texte in Altjapanisch, verbunden mit verschiedenen stillen Gebeten. Dazwischen wurde in Dauerwiederholung der Satz Nam Myoho Renge Kyo in einem bestimmten, gleichmäßigen Rhythmus gesagt – wie ein Sprechgesang, an besonderen Tagen auch als stundenlange »Gebetskette«, von morgens bis abends, manchmal auch rund um die Uhr. Ein Wahnsinn! Supermühsam! Gebetsmühlenartig. Das sollte wirklich helfen und etwas bewegen? Ich hatte diesbezüglich noch ernsthafte Zweifel.

Heute weiß ich natürlich um die enorme Kraft, die das Dauerchanten hervorbringen kann. Und niemand tut das einfach »nur so«. Das macht man, wenn im Leben dringend etwas verändert werden muss. Und mit der Kraft des Chantens kann man etwas bewegen, wenn man sich ordentlich anstrengt. Ich behaupte nicht, dass das leicht ist …

Zum Chanten war ich damals allerdings noch nicht bereit. Bei den Versammlungen interessierte mich in der Hauptsache das »Dahinter«, die Lehre, die Philosophie. Ich mag zwar generell keine Klubs und Vereine, aber die Organisation erschien mir ganz locker. Sie war für mich irgendwo zwischen Schule, Diskussionsrunde und gruppendynamischer Erfahrung angesiedelt. Also lauschte ich den Erfahrungsberichten von wildfremden Menschen, die mit der buddhistischen Praxis unglaubliche Schwierigkeiten überwunden hatten – Lebenskrisen, die Zerstörung der Existenz, Tod, Verlust, Krankheit und dergleichen – auf dem Weg zu ihrem ganz persönlichen Glück.

Manche Geschichten rührten zu Tränen, andere waren spannend wie ein Krimi oder großartig wie ein Hollywood-Drama.

Ehrlich. Die Mitglieder sind keine Leute, die sich unglaublich aufspielen, um zu beeindrucken. Denn es ist alles andere als leicht – das weiß ich inzwischen aus ganz persönlicher Erfahrung –, sein Innerstes nach außen zu kehren, über den eigenen Schatten zu springen und seine ganz private Geschichte mit fremden Menschen zu teilen, ganz nach dem Motto: Hey, seht her, das und das ist mir passiert. Die und die Erfahrung habe ich mit der Praxis gemacht. Ich bin in der Hölle gewesen, habe Tausende von Hindernissen gestellt bekommen – und sie überwunden, obwohl das verdammt noch mal schwer war und auch ziemlich wehtat. Letztendlich habe ich aber großen Nutzen erhalten. Durch das Chanten habe ich mein Leben revolutioniert. Und so weiter und so weiter …

Die Erfahrungen, die wir hören, zeigen uns, wie wichtig es ist, sein Leben in die Hand zu nehmen, den Mut zu haben, sich den Hindernissen zu stellen und nie daran zu zweifeln, dass es möglich ist, die Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu überwinden.

Vielleicht benutzen Sie, liebe Leser, dazu Ihr Gottvertrauen oder wenden sich an Jesus, Allah oder wen oder was auch immer. Mein Weg ist ein anderer: Es ist der Weg von Buddha beziehungsweise Nichiren Daishonin. Meine ganz persönliche Wahl. Er ist für mich klarer, durchsichtiger, näher an mir.

Die dritte Begegnung mit der buddhistischen Lehre, die mein Leben nachhaltig verändern sollte, war:

Ich, Tina. Mein Leben.

Es hatte sich unter den Mitgliedern der Organisation wie ein Lauffeuer verbreitet, dass keine Geringere als Tina Turner der buddhistischen Praxis in ihrer Autobiografie eine zentrale Rolle gegeben hatte. Mehr noch: Sie stellte heraus, dass ihr Leben, das an der Seite von Ike Turner die reinste Hölle gewesen war, durch den Buddhismus eine neue Wendung bekommen hatte, die sich nicht nur als kleiner Richtungswechsel manifestierte, sondern als großer Sieg!!! Ich verschlang das Buch in einer Nacht und sah einige Zeit später auch den darauf basierenden Film What’s Love Got To Do With It. Tina Turners Geschichte rührte mich zu Tränen. Sie machte mich wütend, traurig und glücklich zugleich. Vor allem aber ermutigte sie mich unglaublich darin, in diesem Glauben, dieser Praxis ein Schrittchen weiterzugehen. Ja, ich möchte rückblickend fast behaupten, dass Tina Turner bei mir den Schalter umgelegt hat. Nicht, weil sie die große Tina Turner ist, sondern weil sie mit wenigen, ganz klaren Worten ohne Fachsimpelei beschreibt, worum es geht, was es bedeutet, sein Leben zu polieren, enorme Lebenskraft und Mut zu entwickeln, jegliches Hindernis zu überwinden und zu siegen. Vor allem dann, wenn man ganz, ganz weit unten ist.

Ihre Geschichte hat mir immer und immer wieder Mut gemacht. Bis heute. Ihre Geschichte ist einzigartig.

»Lotos ist eine Blume, die im Schlamm wächst.

Je zäher und tiefer der Schlamm, desto schöner die Lotosblüte. –

Dieser Gedanke wird ausgedrückt durch das buddhistische Mantra Nam Myoho Renge Kyo.«

Darunter hört man leises Chanten. Das ist der Vorspann zu Tinas Film.

Wie schon gesagt: Im Buddhismus versinnbildlicht die wunderschöne Lotosblüte die Tatsache, dass das Leben eines jeden Menschen zwangsläufig aus Schwierigkeiten und Problemen (Schlamm) besteht und trotzdem oder vielmehr gerade deswegen die wunderschöne Blüte der Buddhaschaft oder innewohnende Göttlichkeit hervorbringt. Ohne Schlamm keine Blume. Ganz klar. Eine »Conditio sine qua non« – es geht nicht anders. Der »Dreck« in unserem Leben befähigt uns dazu, wunderbare Menschen zu sein. Für einen Botaniker ist das sicher nachvollziehbar. In unserem eigenen Leben ist es für uns jedoch nicht leicht zu akzeptieren, dass der ganze »Mist«, dem wir unweigerlich dann und wann oder, je nach Karma, vielleicht auch andauernd begegnen, einfach dazugehört. Sprich: dass Dreck und Schlamm Tatsachen des Lebens sind. Und solange man das nicht verstanden hat, rennt man ständig gegen neue Betonwände. Ist so. Das dürfen Sie mir jetzt einfach mal glauben.

Eng verbunden mit Buch und Film von Tina Turner ist meine Erfahrung in Südafrika.

Ein neuer Film. Thelma. Gemeinsam mit meinem Lebenspartner. Ich spielte die Hauptrolle. Eine Wahnsinnsrolle – böse, verrucht, sexy, schlampig. Sie eröffnete mir in meiner beruflichen Laufbahn neue Wege, denn bislang hatte man mich überwiegend als die »Nette-Liebe-Gute« besetzt, mit viel Romantik und Gefühl. Nichts gegen »Gefühl«, aber die bösen Rollen sind für Schauspieler nun einmal ein Leckerbissen. Und eine große Herausforderung. Und der durfte ich mich jetzt stellen – mit der Liebe meines Lebens, wie damals in Venezuela, hinter der Kamera. Glück pur.

Schauplatz Johannesburg. Ohne sich dessen auch nur ansatzweise bewusst zu sein, hatte mein Regisseur und Lebenspartner drei der damals 40 Soka-Gakkai-Mitglieder im ganzen Land für seinen Stab verpflichtet: Kamera, Maske und Script. Nicht zu fassen! Zufall? Sicher nicht. Die Dreharbeiten stellten sich als schwierig heraus, das Geld wurde knapp und auch die Kriminalität in der Stadt bereitete uns Probleme. Kurz: Wir brauchten Schutz durch das Mystische Gesetz des Universums. Und der stellte sich gewissermaßen im Handumdrehen ein. Tinas Film What’s Love Got To Do with It, der gerade herausgekommen war, wurde in der Mittagspause zum Tischgespräch und die Gemeinsamkeit offenbarte sich, zur großen Freude unter den Praktizierenden des Lotos-Sutra. Bei mir löste das eher gemischte Gefühle aus. Das »Gongyo« im Hotel um halb fünf Uhr morgens war auch für mich Tiefschläfer nicht zu überhören. Igitt!

Einmal wach, zog ich es vor, im eiskalten Hotelpool zu schwimmen, was zwar mein Leben und meine Seele nicht polierte, wohl aber meinen Body, der mit wenig bis gar keiner Bekleidung in manchen Szenen vor der Kamera einfach top aussehen musste. Auch eine Art Nutzen, fand ich. Ein großer sogar! Ein bisschen Eitelkeit ist diesbezüglich in diesem Beruf schon erlaubt, vor allem bei einer so erotischen Rolle!

Was die seelische Baustelle und den fest schlafenden Buddha in mir betraf: Ich wunderte mich, dass der nicht schon ein Auge aufgemacht hatte – so »umzingelt«, wie ich inzwischen war …