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15. Januar 2005
Clevenger war um zehn nach eins wieder zurück im Loft. Er kochte sich eine Kanne Kaffee, griff sich seine Kopie von Snows Tagebuch und machte es sich zum Lesen auf der Couch bequem. Er blätterte Seite um Seite durch, hielt hier und dort inne, um Kostproben von Snows Philosophie zu lesen, aber er ertappte sich dabei, dass seine Aufmerksamkeit immer wieder von Snows Zeichnungen von Grace abgelenkt wurde. In ihnen offenbarte sich Snows Leidenschaft am deutlichsten. In ihnen wirkte er am menschlichsten.
Er blätterte zu der letzten Zeichnung, in der Snow Graces Gesicht als eine Collage aus Zahlen, Buchstaben und mathematischen Symbolen dargestellt hatte. Er starrte das Bild lange an. Und zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, dass Grace möglicherweise Snows Kreativität gar nicht gestört oder bloß neben ihr existiert hatte – vielleicht hatte sie sie vielmehr befeuert.
Nutzte Snow Grace Baxter aus? War sie die erste Frau, die seine Leidenschaft geweckt hatte, oder schlicht eine neue Energiequelle, die er angezapft hatte? Wurde er menschlicher, oder war er ein Vampir, der einer verletzlichen Frau das Lebensblut aussaugte?
Das Lebensblut. Die Worte erinnerten Clevenger von neuem an die Möglichkeit, dass Grace sich selbst die Halsschlagadern durchschnitten hatte. Wenn Snow sie emotional hatte ausbluten lassen und dann einfach weggeworfen hatte, könnte sie sein psychologisches Verbrechen in das physische Äquivalent umgewandelt und ihren blutleeren Leichnam zu dem konkreten Symbol ihrer gescheiterten Affäre gemacht haben.
Aber dieses Szenario passte einfach nicht zu Lindsey und Kyle Snows Beobachtungen, dass ihr Vater tatsächlich wie verwandelt gewesen sei. Es passte nicht zu Jet Hellers Eindruck, dass Snow sein Herz an Grace verloren hatte.
Clevenger legte das Tagebuch beiseite und schloss die Augen, kapitulierte vor dem Schlaf, den er sich zu lange versagt hatte. Doch er wachte schon nach einer Viertelstunde wieder auf, weil ihm etwas eingefallen war, das George Reese am Tag zuvor auf dem Polizeipräsidium gesagt hatte. Clevenger stand auf und begann, auf und ab zu tigern. Vielleicht täuschte seine Erinnerung ihn, vielleicht legte er zu viel in Worte hinein, die im Zorn gesprochen worden waren, aber es wollte ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Er griff nach dem Telefon und wählte Mike Coadys Nummer. Er erreichte ihn zu Hause.
»Guten Morgen, fast«, nuschelte Coady, noch immer im Halbschlaf.
»Als ich gestern Reese befragt habe, hat er mich angeschrien, wie schmerzhaft es gewesen wäre, zusehen zu müssen, wie seine Frau verblutete.«
»Ja.«
»Erinnern Sie sich auch daran? An seine genauen Worte?«
»Ich denke schon.«
»Siedenken es?«
»Nein, nein.« Er atmete tief aus und räusperte sich. »Ich bin sicher. Er hat gesagt: ›Wissen Sie, wie es ist, mit ansehen zu müssen, wie Ihre Frau verblutet? Haben Sie auch nur die leiseste Vorstellung?‹«
»Das sind genau die Worte, an die ich mich auch erinnere.«
»Hurra. Und verraten Sie mir jetzt auch, warum das so wichtig ist, dass Sie mich mitten in der Nacht anrufen?«
»Sie ist nicht vor seinen Augen verblutet, Mike. Sie war tot. Ihre Halsschlagadern waren durchtrennt. Sie kann nicht mehr am Leben gewesen sein, als er sie gefunden hat, es sei denn, er hätte sie innerhalb von Sekunden, nachdem sie es getan hatte, gefunden.«
»Vielleicht war ihm nicht bewusst, dass sie tot war, bis er versucht hat, sie wieder zu beleben. Vielleicht ist es das, woran er sich erinnert – dass er gedacht hat, sie läge im Sterben.«
»Aber er wusste, dass sie schon früher Selbstmordversuche begangen hatte. Er hatte sie mit aufgeschnittenen Pulsadern gesehen. Selbstmordgesten. Das waren Sommerschauer. Das hier dagegen war ein gottverdammter Monsun. Ich sehe nicht, wie er beides hätte verwechseln sollen. Es sei denn …«
»Was?«
»Sie sagten, Sie hätten im Badezimmer keine blutigen Rasierklingen gefunden«, sagte Clevenger.
»Nicht eine einzige.«
»Aber Jeremiah Wolfe hat uns erklärt, dass ihre Wunden von zwei verschiedenen Klingen stammen – von einer Rasierklinge oder etwas Ähnlichem, das ihre Pulsader aufgeschnitten hat, und von etwas mit einer dickeren, steiferen Klinge – dem Teppichmesser.«
»Okay, so weit kann ich folgen«, sagte Coady, und seine Stimme klang jetzt hellwach.
»Also, wo ist die Rasierklinge?«
Coady überlegte einen Moment lang. »Wer weiß? Vielleicht hat sie sie im Klo runtergespült. Was für eine Rolle spielt es? Todesursache war der hohe Blutverlust durch die aufgeschnittenen Halsschlagadern.«
Clevenger war noch nicht bereit, Coady in seine Theorie einzuweihen. Es war nur ein einzelnes Puzzlesteinchen. Er wollte Zeit und Raum haben, um das ganze Bild zusammenzusetzen. Wenn er Coady verriet, was er dachte, würden andere Cops davon Wind bekommen, dann Reeses Anwalt, Jack LeGrand. Das würde wiederum LeGrand Zeit genug geben, mit einer passenden Erklärung aufzuwarten – Reese habe die Rasierklinge unten in der Küche in den Mülleimer geworfen und niemand habe daran gedacht, dort nachzuschauen. Die Sanitäter hätten sie eingesteckt und dann verloren. Clevenger habe sie selbst mitgenommen. Er würde die Polizisten vor Ort in die Zange nehmen und nachweisen, wie schlampig sie bei der Spurensicherung vorgegangen waren. »Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte Clevenger zu Coady. »Ich werde es mir noch mal durch den Kopf gehen lassen.« Er wollte das Thema wechseln, bevor Coadys Interesse zu sehr geweckt wurde. »Haben Sie irgendetwas in Bezug auf meinen Pick-up herausgefunden?«
»Kyle Snow war gestern Abend zu Hause. Seine Mutter bestätigt das. Sie wirkt glaubwürdig. Coroway konnte ich nicht finden.«
»Das wird bei ihm langsam zur Angewohnheit.«
»Ich bin froh, dass Sie den Streifenwagen vor der Tür haben. Hat Billy etwas dagegen, dass sie ein Auge auf ihn halten?«
Clevenger ging zu Billys Zimmer. Die Tür war bloß angelehnt. Er wollte ihn im Schlaf beobachten, das geheime Vergnügen aller liebenden Eltern auf der Welt. Er stieß die Tür ein Stück weiter auf und schaute ins Zimmer. Und er sah, dass Billy verschwunden war.
Er ging nach unten zu dem Streifenwagen, der im Dunkeln vor dem Haus parkte. Der Polizist, ein milchgesichtiger Bursche, der nicht älter als fünfundzwanzig sein konnte, kurbelte das Fenster herunter. »Guten Morgen, Dr. Clevenger.«
»Morgen. Billy ist nicht zu Hause. Haben Sie ihn weggehen sehen?«
Der Cop sah nervös aus dem Beifahrerfenster, dann in den Rückspiegel, so als würde er nach ihm suchen. Kein gutes Zeichen. »Ich dachte, er wäre oben in der Wohnung«, sagte er.
Billy kannte drei verschiedene Ausgänge aus dem Gebäude, aber Clevenger wollte kein Grund einfallen, warum er sich unbemerkt hätte davonschleichen sollen. Und gerade dieses Nicht-Wissen ließ sein Herz rasen. »Danke«, sagte er.
Er eilte zurück ins Loft, wählte die Nummer von Billys Handy, doch es meldete sich niemand. Er ging in Billys Zimmer und schaltete das Licht an. Das Bett war ungemacht. Billy hatte geschlafen oder war zumindest im Bett gewesen, bevor er sich abgesetzt hatte. Vielleicht hatte ihn ein Freund mit dem brillanten Vorschlag angerufen, in eine Spätvorstellung zu gehen. Doch inzwischen war es selbst für Billys Verhältnisse ziemlich spät, da er am nächsten Tag Schule hatte.
Clevenger rief abermals Coady an und bat ihn, zu veranlassen, dass die Chelseaer Polizei Billy nach Hause brachte, falls sie ihn irgendwo entdecken sollten. Dann rief er noch einmal Billys Handy an. Nichts. Er ging wieder nach unten und weiter zu dem Store 24 um die Ecke. Kahal Ahmad, der die Nachtschicht arbeitete, sagte, er habe Billy nicht gesehen.
Viel mehr konnte Clevenger nicht tun. Er ging zurück zum Loft und schenkte sich noch einen Becher Kaffee ein. Dann setzte er sich auf die Couch, trank langsam den Kaffee und sah dabei auf das Stahlskelett der Tobin Bridge, die sich vor dem blauschwarzen Himmel gen Boston spannte, und die vereinzelten Scheinwerfer, die zwischen den Stahlträgern hindurchschienen. Er legte den Kopf auf die Rücklehne und beschloss, ein paar Minuten zu dösen.
Er wachte auf, als die Haustür aufging. Er sah auf die Uhr. 2 Uhr 5 am Morgen. Er stand auf.
Billy kam ins Zimmer und sah bedrückt aus.
»Was ist los?«, fragte Clevenger.
Billy blickte geistesabwesend in die Ferne, wie immer, wenn er mit seinem Gewissen rang und der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollte.
»Der Streifenwagen steht nicht aus Spaß vor dem Haus«, sagte Clevenger. »Wenn du irgendwohin musst, dann lass dich von denen hinfahren. Zumindest, bis der Fall abgeschlossen ist.«
Billy nickte. »Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand folgt.«
»Wohin? Wo bist du gewesen?«
»Bei Casey.«
Casey Simms, seine siebzehnjährige Exfreundin aus Newburyport. Clevenger spürte, wie sich alle Anspannung in seinen Muskeln löste. Vielleicht war Billy wieder mit ihr zusammen. Oder vielleicht hatten sie entschieden, die Trennung endgültig zu machen. Wie auch immer, es klang wie ein typisches Jugendlichen-Drama. »Willst du darüber reden?«, fragte er.
»Es ist alles total beschissen«, sagte Billy.
»Was? Was ist passiert?«
»Alles.«
»Du denkst, diesmal ist es endgültig zu Ende?«
Billy zuckte mit den Achseln und ließ den Kopf hängen.
Irgendetwas lastete schwer auf ihm. »Was ist denn? Hat sie dir wehgetan? Wolltest du dich nicht von ihr trennen? Glaub mir, das kenne ich alles. Du kannst es mir ruhig erzählen.«
»Das hier kennst du nicht. So was ist dir nicht passiert. Zumindest glaube ich das nicht.« Er wandte den Blick ab.
In Clevengers Kopf gingen Warnlichter an. Das klang nicht nach einer simplen Trennung. »Was ist los?«, fragte Clevenger. »Was immer passiert ist, Billy, du bist nicht allein. Und das wirst du auch nie sein, solange ich da bin.«
Billy atmete tief durch und starrte abermals in die Ferne. »Sie sagt, sie ist schwanger«, erklärte er. »Sie hat einen Test gemacht.«
Clevenger versuchte, sein Entsetzen und seine Enttäuschung zu verbergen, die wahrscheinlich kaum einen Bruchteil dessen widerspiegelten, was Billy empfand, seine Panik angesichts einer Lebengeschichte, die unvermittelt in eine unerwartete Richtung gelenkt und aus den geregelten Bahnen gerissen wurde, von denen er gedacht hatte, dass sie ihn in eine gewissere Zukunft führen würden. »Wissen ihre Eltern schon Bescheid?«
Billy schüttelte den Kopf.
»Und was denkst du darüber?«, fragte er.
»Ich will, dass sie es wegmacht«, erwiderte er wütend. »Aber sie will nicht.«
Clevenger nickte. »Im wievielten Monat ist sie?«
»Noch um den ersten herum.«
»In Ordnung.«
»In Ordnung, was?«, brachte Billy mit zugeschnürter Kehle heraus.
»Einfach nur ›in Ordnung‹, nichts weiter. Komm her.«
Billy kam zu ihm, blieb einen Schritt vor ihm stehen.
Clevenger legte die Hand auf Billys breite Schulter, und seine Finger berührten den muskulösen Nacken seines Sohnes. »Wir schaffen das schon. Das habe ich mit ›in Ordnung‹ gemeint. Was immer auch passiert, gemeinsam finden wir einen Weg. Gemeinsam stehen wir es durch.« Er zog Billy an sich, drückte ihn kurz, dann ließ er ihn los, da er bemerkte, dass Billy die Umarmung stocksteif über sich ergehen ließ.
»Ich brauch ’ne Mütze voll Schlaf«, verkündete Billy und wich dabei Clevengers Blick aus. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür.
Gegen 3 Uhr schaltete Billy das Licht aus.
Clevenger lag wach im Bett. Vor seinem geistigen Auge sah er Billys Gesicht, wie er ihm sagte, dass Casey schwanger sei. Er sah verängstigt aus. Panisch. Und Clevenger wollte sicherstellen, dass Billy begriff, dass sein Leben nicht zu Ende war, selbst wenn plötzlich Ereignisse über ihn hereinbrachen, über die er keine Kontrolle zu haben glaubte, selbst wenn eins dieser Ereignisse die Geburt eines Sohnes oder einer Tochter in seinem achtzehnten Lebensjahr war.
Clevenger hatte schon lange, bevor er überhaupt von John Snow oder Grace Baxter gehört hatte, gewusst, dass Menschen dann am stärksten gefährdet sind, in Depression zu versinken oder sogar Selbstmord zu begehen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, dass sie Passagiere in einem Flugzeug sind, das unterwegs zu einem Ort ist, an den sie nicht wollen.
Manchmal, wenn Billy ihm das Leben schwer machte, wenn die Erinnerungen an die Brutalität seines eigenen Vaters am deutlichsten waren, wenn er sich fragen musste, ob jener Wahnsinnige etwas Wesentliches in ihm ausgelöscht hatte, etwas, das andere Menschen in sich trugen und das ihnen erlaubte, in dieser Welt und beieinander Trost und Geborgenheit zu finden, dann fühlte er sich selbst, als würde er vom Leben überrollt. Viel zu oft hatte er sich vorgestellt, auf einem jener Öltanker anzuheuern, die im Hafen von Chelsea anlegten, und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Er dachte an John Snow, daran, dass Snow irgendwie den Mut zu dem Entschluss gefunden hatte, sich von seiner Frau, seinen Kindern und seinem Geschäftspartner zu befreien, aber auch von der Frau, die er von Herzen liebte, einer Frau, die mit seinem Kind schwanger ging. Die Kraft dieses Bundes war für die meisten Menschen so unwiderstehlich wie die Erdanziehungskraft. Sie ließ Männer und Frauen jahrzehntelang umeinander kreisen – manchmal unter großen Seelenqualen, doch Umkreisung um Umkreisung, Jahr um Jahr.
Etwas Hochexplosives hatte John Snow aus Grace Baxters Umlaufbahn geschleudert, etwas, das gewaltiger als ihre Liebe zueinander war. Oder zumindest etwas, das gewaltiger schien.
Clevenger sah, wie das Licht in Billys Zimmer wieder anging. Er schlief offensichtlich auch nicht besser als Clevenger. Kurz darauf hörte er Billys Schritte im Wohnzimmer, hörte ihn zu der Fensterwand tappen, die Ausblick über die Tobin Bridge bot, und dort stehen bleiben.
Clevenger wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich zu ihm gestellt, doch er erinnerte sich daran, wie stocksteif Billy auf seine Umarmung reagiert hatte. Und er musste zugeben, dass es einige Dinge gab, die man seinem Sohn nicht abnehmen konnte, wie zum Beispiel, seine Fehler auszubügeln. Man konnte sein Leid teilen, aber nicht an seiner Stelle leiden.
Billy war wieder in Bewegung. Aber diesmal kamen seine Schritte näher.
Er klopfte am Türrahmen.
»He, Kumpel«, sagte Clevenger. Er richtete sich auf seinem Ellbogen auf und knipste die Nachttischlampe an. »Komm rein.«
Billy rührte sich nicht von der Stelle. Er sah stärker mitgenommen aus als vor einer Stunde – blasser, sogar noch verängstigter.
»Schlechte Nacht«, bemerkte Clevenger. »Ich denke nicht, dass einer von uns beiden viel Schlaf finden wird. Vielleicht sollten wir uns einfach in unsere Jeans schmeißen und uns bei Savino’s ein paar Pfannkuchen einverleiben.«
Billy antwortete nicht.
»Wir könnten auch eine DVD einlegen«, schlug Clevenger vor.
»Ich muss dir noch was sagen«, gestand Billy.
Clevenger sank der Mut. Er setzte sich auf die Bettkante. »Ich höre.«
»Ich habe dich angelogen.«
Clevenger wartete.
»Ich hab mir deine Computerdateien nicht nur angesehen«, sagte Billy. Er schaute kurz auf den Boden, dann sah er wieder Clevenger an. »Ich habe Kopien davon gemacht.«
»Von den Disketten? Du hast Kopien gemacht?«
»Von den Disketten und vom Tagebuch.«
Clevenger fühlte eine düstere Vorahnung in sich aufsteigen. Was immer Billy an seine Tür gebracht hatte, es machte ihm so große Sorgen, dass es sogar seine Panik darüber, dass er seine Freundin geschwängert hatte, verdrängte. »Wie bist du bloß auf die Idee gekommen?«, wollte er wissen.
»Für Jet«, antwortete Billy.
»Wie bitte?«
»Ich habe sie für Dr. Heller gemacht. Ich habe sie ihm gegeben.«
Clevenger sprang auf. »Du hast Heller Kopien gegeben? Hat er dich dazu aufgefordert?«
»Er hat mich gebeten, ihm alles zu erzählen, was ich über den Snow-Fall herausfinden konnte.«
»Hat er auch gesagt, warum er das wollte?«
»Er hat mir gesagt, dass er wissen will, wer seinen Patienten ermordet hat. Er will helfen, denjenigen zu finden. Er hat gesagt, wer immer John Snow auf dem Gewissen hat, hat auch all jene auf dem Gewissen, denen ansonsten mit der Operation, die Snow vor sich hatte, hätte geholfen werden können.«
Das klang sehr nobel – und war schwer zu glauben. Die simplere Erklärung war, dass J. T. Heller sich Sorgen machte, als Snows Mörder verdächtigt zu werden, und daher den Lauscher bei den Ermittlungen spielen wollte. Das bedeutete nicht automatisch, dass er schuldig war, aber es katapultierte ihn zweifelsohne in die Spitzengruppe der Verdächtigenliste.
»Es tut mir Leid«, sagte Billy.
Er klang glaubwürdig, aber dass es ihm Leid tat, machte die Sache nicht ungeschehen. »Warum hast du das getan?«, fragte Clevenger.
»Keine Ahnung. Niemand ist je so gut zu mir gewesen wie du. Wie heute Nacht. Ich dachte, du würdest mich rausschmeißen oder so. Du hast es nicht getan. Also wollte ich dir die Wahrheit darüber sagen, was ich getan habe.«
Der Psychiater in Clevenger verstand zwei Dinge in Bezug auf Billy: dass er zwangsläufig Clevengers Liebe auf die Probe stellen würde und dass er leicht zum Spielball von anderen Männern werden konnte, die ihn väterlich behandelten. Wenn Jet Heller ein Buchmacher gewesen wäre, würde Billy vermutlich längst Stunden und Aberstunden damit zubringen, in irgendeiner Bar in Chelsea Wetten anzunehmen, statt im OP des Mass General Wundhaken zu halten.
Aber es gab einen anderen Teil von Clevenger, einen verletzlicheren, vielleicht einfach bloß menschlicheren Teil, der sich noch immer von seinen Instinkten leiten ließ, statt von der Vernunft. Und dieser Teil von ihm war fuchsteufelswild darüber, von jemandem hintergangen worden zu sein, für den er wirklich alles getan hatte. »Du hast mich angelogen«, sagte er. »Und du hast eine Mordermittlung gefährdet.«
»Willst du, dass ich gehe?«, fragte Billy.
Clevenger blickte ihn an, sah, dass es bei der Frage nicht darum ging, den Raum zu verlassen, sondern für immer aus dem Loft fortzugehen. Billy erprobte die Grenzen von Clevengers Liebe, aber er erprobte auch seine Fähigkeit, Grenzen zu setzen, Billys Charakter zu formen, soweit das bei einem Achtzehnjährigen noch möglich war. »Du musst nicht gehen«, erklärte Clevenger. »Ich liebe dich. Wenn das hier mit uns nicht klappt, wäre das so ziemlich das Schlimmste, was mir in meinem Leben passiert ist.« Er gab Billy Gelegenheit, das erst einmal zu verdauen, bevor er fortfuhr. »Aber wenn du mich bestiehlst und meine Arbeit torpedierst, dann bleibt uns keine andere Wahl.« Er sah Billy durchdringend in die Augen. »Dann kannst du nicht länger hier bleiben.«
»Es wird nicht wieder vorkommen. Nie.«
Clevenger nickte. »Du sprichst nie wieder mit Jet Heller. Verstanden? Er hatte kein Recht, dich auf diese Weise auszunutzen. Er ist nicht dein Freund. Und ich weiß nicht, warum er so genau über die Ermittlungen Bescheid wissen wollte. Ich weiß praktisch überhaupt nichts über ihn. Und du auch nicht.«
»Okay«, sagte Billy.
Clevenger fragte sich, ob Billy ihm nur nach dem Munde redete. Aber er war zumindest etwas beruhigt durch die Tatsache, dass Billy freiwillig mit der Information über Heller herausgerückt war. So viel Verantwortung für seine Taten hatte er wenigstens übernommen. »Versuch, etwas zu schlafen«, sagte er. »Wir kommen da schon durch. Und wir werden einen Weg finden, um die Sache mit Casey ins Reine zu bringen.«
»Ich weiß, dass ich deine Hilfe nicht verdiene.«
»Weißt du was?«, sagte Clevenger. »Es wird langsam Zeit, dass du aufhörst, das ständig zu beweisen.«