14
Kyle Snow war ein drahtiger Sechzehnjähriger mit fein geschnittenen, beinahe femininen Zügen und längerem schwarzem Haar, das ihm immer wieder vor die blaugrauen Augen fiel. Er trug einen der obligatorischen orangenen Overalls der Strafvollzugsbehörde von Massachusetts. Er trommelte mit dem Absatz auf den Boden, während er Clevenger gegenüber am Tisch saß. Seine Pupillen waren geweitet. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er brauchte einen Schuss.
»Ja, ich habe ihm den Brief gegeben«, beantwortete er Clevengers Frage, ob er Grace Baxters Abschiedsbrief bei ihrem Mann, George Reese, abgegeben hätte. »Na und?«
»Hat er ihn gelesen?«
»Klar.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er hat ›Danke‹ gesagt, total cool. Wenn Sie mich fragen, er wusste, dass sie was nebenbei laufen hatte. Er hat wahrscheinlich selbst was nebenbei laufen.«
»Hat er dir irgendwelche Fragen gestellt?«
»Nur, wie ich an den Brief gekommen bin.«
»Hast du es ihm gesagt?«
»Nö.«
»Warum hast du ihm den Brief gegeben?«
»Keine Ahnung.«
»Warst du wütend auf deinen Vater und Grace Baxter?«
Kyle fing wieder an, mit den Füßen zu trommeln. Er sah zur Tür des Vernehmungszimmers. »Kommen die jetzt endlich mit dem Methadon rüber?«
»Noch ein paar Minuten«, sagte Clevenger. Er wartete einen Moment. »Warst du wütend auf deinen Vater?«
»Nicht sonderlich.«
Clevenger beschloss, es anders zu versuchen. »Du und dein Dad, ihr hattet keine wirkliche Beziehung, bis vor kurzem.«
»Er hat mich gehasst«, erklärte Kyle tonlos. »Das ist auch eine Beziehung.«
Das wusste Clevenger aus erster Hand, von seinem eigenen Vater. »Hast du ihn auch gehasst?«
Kyle lächelte. »Ich hab mir immer ausgemalt, wie ich ihn umbringen würde. Beantwortet das Ihre Frage?«
»Und wie wolltest du ihn umbringen?«
»Ihn erschießen.« Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Schon komisch, wie sich die Dinge manchmal entwickeln.«
Clevenger schwieg.
Kyle wischte sich die Stirn ab. »Ich kann echt nicht mehr.«
Clevenger stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und winkte den Wärter, der draußen im Korridor saß, heran.
Der Wärter stand auf und kam herüber.
»Wo bleibt das Methadon?«, fragte Clevenger.
»Es hätte schon längst hier sein sollen, Doc«, antwortete der Wärter. »Ich rufe gleich noch mal auf der Krankenstation an.«
Clevenger kehrte in das Vernehmungszimmer zurück und setzte sich wieder Kyle gegenüber. »Du wurdest um die Zeit herum, als dein Vater getötet wurde, in der Nähe des Mass General gesehen.«
»Zu schade, dass ich nichts davon gewusst habe. Ich hätte zuschauen können.«
Clevenger sah ihm in die Augen und glaubte ihm. Vielleicht hatte Kyle Snow gesehen, wie sein Vater erschossen wurde, vielleicht auch nicht. Aber er hätte den Anblick ganz sicher genossen. »Weißt du irgendetwas über das Projekt, an dem dein Vater gearbeitet hat, bevor er starb?«, fragte er.
»Ich hab keine Ahnung, was es war. Ich weiß, dass es ihn bis letzten Monat oder so total irre gemacht hat.«
»Woher weißt du das?«
»Weil er immer total ausgerastet ist, wenn die Dinge nicht liefen. Dann ist er die ganze Nacht aufgeblieben, ist herumgetigert, hat einen Spaziergang durchs Viertel gemacht. Lauter so Zeug. Und dann ist es schlagartig vorbei gewesen. So als wär ihm endlich der Durchbruch gelungen oder so. Man konnte es an der Art sehen, wie er ging. Irgendwie beschwingter. Und seine Stirn. Die konnte monatelang gerunzelt sein, so als wollte er was Kleingedrucktes lesen, das einfach zu winzig war. Aber wenn er mit einem Projekt fertig war, dann verschwanden auch die Falten. Und genau das taten sie diesmal.«
»Du hast ihn ziemlich gut durchschaut«, sagte Clevenger.
»All die Jahre über, als er nicht mit mir gesprochen hat, als er mich kaum eines Blickes gewürdigt hat, hab ich ihn beobachtet und versucht herauszufinden, was in seinem Kopf vor sich ging, was nicht stimmte. Total blöd.«
»Warum?«
»Weil es keine Rolle spielte. Ich hab versucht, einen Zugang zu ihm zu finden. Es gab keinen. Nicht für mich jedenfalls.«
»Was ist mit Lindsey?«, fragte Clevenger.
»Was soll mit ihr sein?«
»Hat sie das Gleiche für deinen Vater empfunden?«
»Nee. Sie hat ihn angebetet. Er hat sie angebetet. Bis zu dieser Sache.«
»Der Affäre.«
»Das war nicht die ganze Geschichte. Er war anders. Menschlicher. Dass er sich mit Grace Baxter eingelassen hat, war nur ein Teil davon. Die Tatsache, dass er sich plötzlich mit mir verstand – das gehörte auch dazu. Und weil er plötzlich mehr Mensch war, hat er angefangen, meiner Schwester die Hölle heiß zu machen. Dass sie sich die ganze Nacht über mit irgendwelchen Jungs herumtrieb. Er hat versucht, ihr Vorschriften zu machen. Vorher hat er nicht einmal gemerkt, wenn sie morgens um vier nach Haus gekommen ist. Das hat ihr gar nicht gefallen, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Warum wollte sie nicht, dass du und dein Vater euch besser versteht?«
»Hören Sie, ich bin nicht blöd. Auch wenn mein Intelligenztest das sagt. Sie konnte es nicht ertragen, dass mein Dad mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. All die Jahre über, als er sich keinen Pfifferling um mich geschert hat, hatte sie ihn für sich allein.« Er rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Sie hat mich bei dieser Sache reingelegt, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
Hier konnte Clevenger womöglich den Hebel ansetzen. »Indem sie dich den Abschiedsbrief bei George Reese im Büro hat abliefern lassen?«
Er nickte. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis mein Dad dahinter kommen würde. Was wahrscheinlich der Grund ist, warum er die letzten zwei Wochen nicht mit mir gesprochen hat.«
»Hat dir das wehgetan?«, fragte Clevenger.
»Ich bin daran gewöhnt«, erwiderte er. Aber seine Stimme verriet, dass er tief drinnen, unter den letzten Resten des Oxycontin, große Schmerzen litt.
Es klopfte. Ein Pfleger öffnete die Tür und kam herein. In der Hand trug er einen kleinen Pappbecher mit einer klaren Flüssigkeit – Snows Methadon. Er trat an den Tisch und reichte es ihm.
Kyle trank es und gab den Becher zurück. »Danke.«
Clevenger wartete, bis der Pfleger wieder gegangen war. »Ich nehme an, dass es wehgetan hat – wieder von deinem Vater ignoriert zu werden, nachdem ihr beide euch endlich näher gekommen wart.«
»Ich hab ihm sein neues Ich nie wirklich abgekauft«, wehrte er wenig überzeugend ab.
»Nein?«
»Ich meine, jemand wünscht sich, du wärst nie geboren worden, und dann tut er plötzlich so, als wär er dein bester Kumpel? Wer’s glaubt, wird selig. Er schwebte auf Wolke sieben, das war alles. Er war high von Grace. Also hat er ein bisschen was von seinem Glück unters Volk verstreut. Aber es ging nie wirklich um mich. Es ging um ihn – und sie.«
»Wusstest du über das Porträt im Wohnzimmer Bescheid?«
»Lindsey hat es mir erzählt, sobald sie es herausgefunden hat. Sie hat sich überhaupt nicht wieder einkriegen können.«
»Und du?«
»Ehrlich gesagt, ich fand’s cool.«
»Cool?«
»Sie kapieren es immer noch nicht. Mein Dad war nichts weiter als eine Maschine. Ein Computer. Dateneingabe, Datenausgabe. Die Ehe meiner Eltern war eine große Lüge. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber Grace Baxter hat ihn wieder zum Leben erweckt. Er hätte ihr Porträt als ein verdammtes Plakat getragen, wenn sie es von ihm verlangt hätte.«
Clevenger starrte Kyle einen Moment lang an. »Rundheraus gefragt«, sagte er schließlich. »Bist du froh, dass er tot ist?«
Kyle antwortete nicht.
Clevenger wartete.
»Ich schätze, er fehlt mir«, sagte er. »Aber er hat mir mein ganzes Leben lang gefehlt. Dass er tot ist, macht es ehrlich gesagt besser.«
»Wie macht es die Dinge besser?«
»Er behandelt mich nicht mehr wie den letzten Dreck.«
Kyle Snow präsentierte ein psychologisches Motiv für Mord. Seinen Vater zu töten hätte den Mann aus seinem Leben entfernt, dessen Gegenwart als beständige Erinnerung daran diente, wie kaputt und ungeliebt er war. Vielleicht hatte er schlicht den Schmerz, dass sein Vater sich ihm erst annäherte und dann wieder zurückzog, nicht ertragen können. Vielleicht hatte das genügt, ihn explodieren zu lassen. Aber Kyle schien sich seiner Gefühle sehr bewusst – und war schonungslos ehrlich, was sie anging –, in einer Weise, die dagegen sprach, dass er sich zum Mord getrieben fühlte. Und sein Zugriff auf Oxycontin bedeutete, dass er ständigen Nachschub eines Medikaments hatte, das seine Wut in Zaum hielt. »Glaubst du, dass dein Vater Selbstmord begangen hat?«, wollte Clevenger wissen.
»Er mag die Pistole abgefeuert haben. Aber das ist bedeutungslos.«
»Was meinst du damit?«
»Auch wenn er selbst den Abzug gedrückt hat, wir haben ihn auf dem Gewissen. Lindsey, ich, sein Partner Collin.« Er lächelte verkniffen. »Haben Sie Collin schon kennen gelernt?«
»Habe ich«, sagte Clevenger.
»Der Kerl ist ein mieser Hund. Wissen Sie, dass er Lindsey erzählt hat, dass Grace und mein Dad eine Affäre hatten?«
»Ja«, bestätigte Clevenger.
»Gut. Sie haben offensichtlich Ihre Hausaufgaben gemacht. Also, ich stelle mir die ganze Sache so vor. Er ist eine Weile lang mit Grace lebendig geworden, hat zum ersten Mal geatmet. Irgendwie so, als wäre er neu geboren worden. Und wir haben seine Luftzufuhr gekappt und ihn erstickt.«
»Ihr habt ihn in den Selbstmord getrieben.«
»Sie haben’s kapiert. Deshalb habe ich ja gesagt, dass das Ganze total irre ist. Ich meine, da war ich und wollte ihn erschießen, und es war gar nicht nötig.«
Clevenger nickte. Das war ein wiederkehrendes Thema. Collin Coroway, Lindsey und Kyle waren alle überzeugt, dass sie gemeinsam John Snow das Leben unerträglich gemacht hätten. Vielleicht hatte ihn das letztendlich dazu getrieben, sein Heil auf dem Operationstisch zu suchen. Vielleicht hatte er eine Zeit lang wirklich geglaubt, dass er durch Grace Baxters Liebe wieder geboren werden könnte. Und als sich sein Leben um ihn herum immer enger zog wie eine Schlinge, kam er zu dem Schluss, dass ein Skalpell der einzige Weg wäre, um sich zu befreien.
Doch eine wichtige Frage blieb: Wenn Grace Baxter John Snow so sehr liebte, dass sie einen Abschiedsbrief schrieb, als sie ihn verlor – wenn sie seineLovemap war und er die ihre –, warum war diese Liebe dann nicht stark genug gewesen, alles zu überwinden? Warum bedeutete die Entlarvung ihrer Affäre deren Ende?
Ein Teil des Puzzles fehlte.
Clevenger blickte in Kyle Snows Augen und sah sein eigenes Spiegelbild. Und obgleich er wusste, dass er hier war, um zwei Todesfälle zu untersuchen, obgleich er wusste, dass Kyle ein Verdächtiger war, kein Patient, kam er doch nicht umhin zu sehen, welche Qualen Kyle litt. Clevenger konnte den Schmerz tief in sich fühlen. Das war seine Gabe, das war das Kreuz, das er zu tragen hatte: Er nahm das Leiden anderer in sich auf. Es war diese Gabe gewesen, die ihn einst dazu getrieben hatte, sich in Alkohol, Drogen und Glücksspiel zu verlieren. Und es war diese Gabe, die ihn jetzt veranlasste, auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Denn er hatte von Kyle Snow alles bekommen, was es zu bekommen gab. Jetzt verspürte er den Drang, etwas zurückzugeben. »Du glaubst, du würdest dich besser fühlen, jetzt, wo dein Vater nicht mehr da ist? Stimmt’s?«, fragte Clevenger.
»Kann man so sagen.«
»Da irrst du dich.«
»Der einzige Mensch, dem je an mir gelegen war, war meine Mutter. Und jetzt gibt es nur noch unsere Mutter und Lindsey und mich. Und ich fühle mich bereits besser.«
»Vielleicht tust du das, für eine Woche. Vielleicht zwei. Aber dass dein Vater ausgelöscht wurde, ändert trotz allem nichts an der Tatsache, dass er noch immer in dir ist.«
»Ich habe diesem New-Age-Mist nie viel abgewinnen können.«
»Nebenbei bemerkt, das ist auch der Grund, warum du die Oxys nimmst. Du speist damit den Teil von dir ab, der dein Dad ist, den Teil, der denkt, dass du wertlos bist, dass du besser nie geboren worden wärst.«
»Es gibt da draußen jede Menge Oxys.«
Clevenger schmunzelte. Auch er hatte einst gedacht, dass er kein Problem habe, solange er nur über genug Schnaps und Koks verfüge, um es zu besänftigen. »Es gibt auf der ganzen Welt nicht genug Oxycontin, um dieses Gefühl zu überwinden. Nicht auf lange Sicht. Das geht nur, indem du endlich anfängst, eigenständig zu denken – und zu fühlen.«
Kyle verdrehte die Augen und wandte den Blick ab.
»Mein Vater hat einen Gürtel benutzt, um mich zu überzeugen, dass ich kein Recht zu leben hätte. Ich denke, das war wahrscheinlich leichter zu ertragen, als ignoriert zu werden. Wenn man ignoriert wird, fängt man an, sich zu fragen, ob man überhaupt existiert. Ich wusste das. Die blauen Flecken waren zumindest ein Beweis …« Er schloss die Augen, als die Erinnerung ihn übermannte. Als er sie wieder aufschlug, sah er, dass Kyle ihn anschaute. »Also, was kannst du?«, fragte ihn Clevenger. »Warum bist du auf diesem Planeten?«
»Ich bin ein Könner darin, mich festnehmen zu lassen. Das macht mir so schnell keiner nach.«
Clevenger sah ihn unverwandt an. Die Sekunden verstrichen. Komm schon, drängte er im Stillen, gib schon auf. Weitere Sekunden verstrichen. Er wollte gerade selbst aufgeben, kapitulieren, als Kyle schließlich sprach.
»Ich kann ganz gut zeichnen«, sagte er, und all sein Macho-Gehabe verpuffte, als er diese Worte aussprach, so dass ein Junge zurückblieb, der erschreckend verletzlich aussah und klang. Wie ein im Lichtkegel von Autoscheinwerfern gefangenes Reh. »Ich schätze, das habe ich von meiner Mutter.«
»Was zeichnest du denn so?«
»Architektur-Sachen, wie sie. Ich bin ziemlich gut. Ich meine, ich glaube, dass ich es bin.«
»Weiß sie das?«
»Nein.«
»Vielleicht solltest du es ihr erzählen.«
»Ja, vielleicht sollte ich das«, pflichtete er halbherzig bei.
Clevenger wusste genau, was Kyle Snow an diesem Vorschlag solche Probleme bereitete. Die Liebe seines Vaters war die Trophäe gewesen, die er insgeheim zu erringen gehofft hatte. Aktiv um die Zuneigung seiner Mutter zu buhlen würde bedeuten, dass er die seines Vaters ein für alle Mal verloren hatte. »Ich werde dir jetzt mal rundheraus etwas sagen, Kyle«, sagte Clevenger, »denn ich glaube nicht, dass eine reelle Chance besteht, dass du dich je hundert Stunden mit einem Seelenklemper zusammensetzt und von selbst draufkommst: Dein Vater war unfähig, irgendjemanden zu lieben. Er verehrte Schönheit und Perfektion. Er verehrte seinen eigenen Verstand. Aber mit sich selbst oder mit irgendjemand anderem, deine Schwester eingeschlossen, in seiner Gesamtheit, als vollständiger Mensch, damit konnte er nichts anfangen. Vielleicht hätte Grace Baxter das zurechtbiegen können, vielleicht auch nicht. Wie es sich herausstellte, war es zu spät.«
Kyle starrte auf den Tisch und zuckte mit den Achseln.
»Also musst du dich jetzt selbst lieben«, fuhr Clevenger fort. »Eine andere Möglichkeit bleibt dir nicht. Du musst dich auf jedes Talent besinnen, das du besitzt, jede Gabe, mit der du in der Welt um dich herum etwas bewirken kannst. Und du musst das Wagnis eingehen, etwas bewirken zu wollen. Wenn du das tust, dann wirst du viel zu beschäftigt sein, um weiter dem Oxycontin nachzujagen. Denn du wirst nicht mehr damit beschäftigt sein, dich zu hassen.«
»Ja ja«, sagte er.
Clevenger verspürte den spontanen Drang, den Platz als Kyles Ersatzvater einzunehmen. Lag es daran, dass Kyle ihn tatsächlich brauchte?, fragte er sich. Oder lag es daran, dass Clevenger wünschte, jemand hätte für ihn dasselbe getan? Wie auch immer, er konnte nicht widerstehen. »Sobald die Ermittlungen abgeschlossen sind, würde ich mir sehr gern deine Zeichnungen anschauen«, erklärte er Kyle. »Ich habe einige Freunde mit Architekturbüros. Ich bin sicher, dass sie bereit wären, mit dir über die Branche zu reden.«
»Immer vorausgesetzt, dass Sie mich nicht als Mörder verhaften lassen, meinen Sie«, entgegnete Kyle.
Clevenger hörte die gänzlich andere Frage, die hinter dieser augenscheinlich saloppen Bemerkung verborgen war, die Frage, wie weit Clevenger gehen würde, um Kyle Snows Vater zu spielen. Würde er ihn der Polizei ausliefern, wenn sich herausstellen sollte, dass er schuldig war? Da begriff er, wie wichtig es war, dass er nicht so tat, als ob Kyle sein Patient wäre, von seinem Kind ganz zu schweigen. Er befand sich in der gleichen Gefahr wie mit Lindsey Snow – der Gefahr, sich in der emotionalen Dynamik der Snow-Familie zu verlieren. Er sah Kyle in die Augen. »Wenn ich dich wegen Mordes verhaften lassen muss, mein Freund«, erklärte er, »dann hast du alle Zeit der Welt zum Zeichnen. Ich würde mir die Sachen dann aber immer noch gern ansehen.«
North Anderson erwartete Clevenger bereits im Eingangsbereich des Gefängnisses, als er herauskam.
Clevenger ging auf ihn zu.
»Coady hat mir gesagt, dass du hierher unterwegs wärst«, erklärte Anderson. »Ich hab was herausgefunden, was du wissen solltest.«
»Was?«
»Ich hab angefangen, mir die Vorstände der größeren Rüstungsunternehmen anzuschauen, in der Hoffnung, irgendjemanden zu finden, den ich kenne, damit er uns hilft, der Sache mit Vortek auf den Grund zu gehen. Ich habe keine bekannten Namen entdecken können, eingeschlossen Lockheed, Boeing und Grumman. Also hab ich mich entschieden, beim Schatzamt vorbeizuschauen, mir Snow-Coroway Engineerings Jahresbilanzen zu besorgen und mal einen Blick auf deren Aufsichtsrat zu werfen.«
»Und?«
»Keine wirklichen Überraschungen. Coroway, Snow, ein Risikokapital-Knabe von Merrill Lynch und ein Harvard-Professor – deren hauseigenes Computergenie, ein Bursche namens Russell Frye. Der einzige Name, der herausstach, war Byron Fitzpatrick, der sich als ehemaliger Außenminister unter Ford entpuppte. Aber ich schätze, der Typ gehört wahrscheinlich zweihundert Aufsichtsräten an.«
»Möglich«, sagte Clevenger, »aber er ist auch der Vorstandsvorsitzende von InterState Commerce, dem Unternehmen, dem Coroway gestern in Washington einen Besuch abgestattet hat.«
»Dann gibt es da eindeutig einige interessante Verbindungen. Denn mein nächster Zwischenstopp war bei meinem Kumpel von der Finanzbehörde von Massachusetts. Er hat für mich mal einen Blick in Snow-Coroways Steuererklärungen für die letzten fünf Jahre geworfen. Rate mal, wer 2002 zehn Prozent des Unternehmens gekauft hat?«
»Ich bin Psychiater, kein Hellseher.«
»Die Beacon Street Bank.«
Die Wucht dieser Information ließ Clevenger unwillkürlich einen Schritt zurücktreten.
»Sie haben fünfundzwanzig Millionen für zehn Prozent des Unternehmens bezahlt.«
Clevenger erinnerte sich, dass Collin Coroway ihm erzählt hatte, dass fünfundzwanzig Millionen das ursprüngliche Forschungs- und Entwicklungsbudget für Vortek gewesen seien. War das ein bloßer Zufall?
»Also denke ich mir, dass Reese und Beacon Street ein klares Interesse daran hatten, dass Vortek auf den Markt kam«, sagte Anderson.
»Dann müsste Reese daran gelegen gewesen sein, dass Snow am Leben blieb«, bemerkte Clevenger.
»Zumindest, bis Vortek fertig war. Ich denke, ich sollte selbst nach Washington fahren und mal im Patentamt herumstöbern. Ich habe mit ein paar Patentanwälten gesprochen, die ich kenne: Der konkrete Inhalt jedes Raketenpatents unterliegt natürlich der Geheimhaltung. Aber es würde trotzdem in den Akten stehen, wenn Snow und Coroway ein Patent angemeldet hätten, so sie es denn getan haben.«
»Sieh dich bloß vor. Wir treten hier offensichtlich jemandem auf die Zehen.«
»Du schließt das aus dem Schlag auf den Kopf, den dir die FBI-Jungs verpasst haben, was?«
Clevenger berührte die schmerzhafte Stelle an seinem Hinterkopf. »Daraus und aus der Tatsache, dass Whitney McCormick höchstpersönlich hergeflogen ist, um mich zu überreden, die Finger von der Sache zu lassen. Sie arbeitet wieder fürs FBI.«
Andersons Mund verzog sich zu einem sehr breiten Grinsen. »Wie lange wollest du eigentlich damit warten, mir das mitzuteilen?«
»Sie war auf dem Präsidium, als ich hingegangen bin, um mir Coady vorzuknöpfen.«
»Das nenne ich jetzt aber mal eine wirkliche Entwicklung in dem Fall. In deinem Fall, zumindest. Es war schwer genug, ihr einmal Lebwohl zu sagen. Diesmal geht sie vielleicht nicht wieder fort, mein Freund.«
»Sie hat andere Pläne.«
»Möglich. Aber ich denke, dass du derjenige bist, der sich besser vorsehen sollte«, erwiderte Anderson.
»Hör bloß nicht auf, mir das zu sagen.«
Clevenger rief im Büro von Boston Forensics an und erkundigte sich bei Kim Moffett nach dem Stand der Dinge.
»Ich bin losgegangen und hab drei Computer gemietet«, verkündete sie. »Auf Firmenkosten. Hoffe, das ist Ihnen Recht.«
»Würde es eine Rolle spielen, wenn nicht?«
»Ich schätze, die werden unsere eine Weile behalten.«
»Könnte stimmen.«
»Darf ich Sie was fragen?«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Werden die unsere persönlichen Dateien und E-Mails und all die Sachen durchsehen?«
»Wenn sie einen Durchsuchungsbefehl haben, ja«, sagte Clevenger. »Vielleicht sogar auch, wenn nicht. Warum?«
»Nur so.«
»Kommen Sie.«
»Es ist nur so, dass ich meineMatch.com-Anzeige mit allen Antworten darauf gespeichert habe.«
»Und?«
»Das ist privat. Und es ist peinlich.«
»Sie werden schon diskret sein. Aber vielleicht wäre es besser, wenn Sie solche Sachen in Zukunft in Ihrer Freizeit erledigen«, sagte Clevenger. »Letzte Woche haben Sie eine Lohnerhöhung verlangt, weil Sie angeblich so viel zu tun haben.«
»Ich bekomme nicht viele Antworten auf meine Anzeige. Es dauert keine zwei Sekunden, die durchzugucken.«
»Ich bin sicher, dass Sie mit Angeboten überhäuft werden. Und das mit der Freizeit war nur ein Scherz.«
»Bei Ihnen weiß ich nie, wann Sie was ernst meinen und wann nicht. Ihr Tonfall verändert sich nicht.«
»Teil der psychiatrischen Ausbildung. Irgendwelche Nachrichten für mich?«
»Nur von Billy.«
»Hat er eine Nachricht im Büro hinterlassen?«, fragte Clevenger.
»Er sagt, er hätte es auf Ihrem Handy versucht, aber keinen Anschluss bekommen.«
»Wie lautet die Nachricht?«
»Er hat sich aus der Schule abgesetzt, um Dr. Heller wieder bei einer Operation zuzuschauen.«
»Was?«
»Ich glaube nicht, dass er es Ihnen persönlich sagen wollte – persönlich am Telefon, meine ich. Deshalb hat er hier angerufen.«
»Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Nur, dass es eine wirklich große Operation wäre und er sicher sei, dass Sie nichts dagegen hätten. Er hat gesagt, es könnte den ganzen Tag und die halbe Nacht dauern.«
»Ach wirklich?«
»Ich hab ihm gesagt, dass es nicht ganz koscher klingen würde«, sagte Moffett. »Keine schriftliche Entschuldigung von Dad, verstehen Sie?«
»Hat Heller angerufen, um zu fragen, ob es in Ordnung geht?«
»Nö. Vielleicht hat er’s auf Ihrem Handy versucht.«
»Ich werd nachschauen. Was gibt’s sonst noch?«
»John Haggerty hat einen Fall für Sie. Ein Schuldunfähigkeitsgutachten. Er möchte Ihnen die Akte rüberschicken.«
»Sagen Sie ihm, er soll sie schicken. Aber es wird eine Weile dauern, bevor ich mich dransetzen kann.«
»Ich sag es ihm.«
Nachdem Clevenger aufgelegt hatte, hörte er die Voicemail auf seinem Handy ab. Es gab eine Nachricht, dass er Mike Coady zurückrufen solle, doch nichts von Heller. Clevenger würde Billys Besuchen im Mass General eindeutig Grenzen setzen müssen.
Er wählte Coadys Nummer und wurde zu ihm durchgestellt. »Was gibt’s?«, fragte er.
»Ich habe George Reese etwas früher als abgesprochen aufs Präsidium geholt.«
Clevenger sah auf die Uhr. 13 Uhr 20. »Warum?«
»Er war auf dem Weg zum Logan-Flughafen. Ich habe ihn zum internationalen Terminal verfolgen lassen. Er hatte einen Flug nach Madrid gebucht.«
»Ein kleiner Urlaub, um über den Verlust von Grace hinwegzukommen?«
»Das Ticket war nur für den Hinflug.«
»Vielleicht legt er sich nicht gerne fest.«
»Nun, jetzt sitzt er jedenfalls erst einmal hier fest. Zumindest für den Moment. Jack LeGrand ist bei ihm in der Zelle.«
LeGrand war Neuenglands König des Strafrechts, ein Verteidiger, der jeden Prozess wie ein Gladiator ausfocht und bedeutend mehr Fälle gewann als verlor. Clevenger hatte vor ein paar Jahren bei einigen Fällen mit ihm zusammengearbeitet. »Richten Sie Jack einen Gruß von mir aus.«
»Ich würde Sie gern so schnell wie möglich hier haben. Ich weiß nicht, wie lange ich Reese hier festhalten kann, ohne Anklage zu erheben. Und so weit bin ich noch nicht.«
»Ich bin in einer knappen Stunde da«, versprach Clevenger.
»Bis dann.«
Clevenger nahm die Back-Bay-Ausfahrt vom Storrow Drive und fuhr zum Mass General. Er wollte sich vergewissern, dass Billy die Wahrheit darüber erzählte, warum er die Schule schwänzte.
Clevenger stellte den Wagen im Parkhaus ab und ging zur OP-Abteilung. Die Abteilungssekretärin, eine dicke, rotbackige Frau um die sechzig, erklärte ihm, dass Heller derzeit operiere, und bestätigte, dass ein junger Mann ihn in den OP begleitet habe.
»Ich bin sein Vater«, sagte Clevenger. »Wissen Sie, was das für eine Operation ist?«
»Ein Aneurysma an der Basilararterie«, antwortete sie. »Sie sind jetzt seit drei Stunden dort drin. Sie haben noch gut fünf Stunden vor sich.«
Die Basilararterie verläuft entlang der Hirnbasis. Sie gehört zum Circulus arteriosus willisii, dem Gefäßring, der die Großhirnrinde mit Blut versorgt. Das Abclippen eines Aneurysmas ist extrem riskant.
»Die Patientin ist ein neunjähriges Mädchen«, sagte die Sekretärin.
Clevenger schnürte sich das Herz zusammen. »Neun Jahre.« Die Tragödie eines kleinen Mädchens, das eine mehr als achtstündige Operation über sich ergehen lassen musste, zeigte wieder einmal, wie vollkommen unparteiisch und gänzlich unfair Krankheiten waren. Er machte sich Sorgen, wie Billy reagieren würde, wenn sie die Operation nicht gut überstand.
»Sie ist in den besten Händen«, versicherte die Sekretärin. »Dr. Heller tut alles Menschenmögliche für seine Patienten. Für ihn ist es immer eine persönliche Angelegenheit. Er nimmt sich jeden Fall zu Herzen, verstehen Sie?«
»Das höre ich nicht das erste Mal über ihn«, sagte Clevenger. Es war schwer, bloß an Hellers chirurgische Fähigkeiten zu denken, wenn seine Umgangsformen so zweifelhaft waren. Er hatte nicht den Anstand besessen, Clevenger Bescheid zu sagen, dass er Billy abermals zu einer Operation eingeladen hatte.
Clevenger überlegte, Billy aus dem OP rufen zu lassen und umgehend mit nach Hause zu nehmen, um ihm klarzumachen, dass er nicht auf eigene Faust beschließen konnte, die Schule sausen zu lassen, um Doktor zu spielen. Aber er wollte ihn nicht vor Heller in Verlegenheit bringen. »Könnten Sie ihm wohl ausrichten, dass ich vorbeigekommen bin, um mich zu vergewissern, dass bei ihm alles in Ordnung ist?«, fragte Clevenger.
»Sie können gerne warten, wenn Sie möchten. Er wird sicher bald eine Pause machen.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, erwiderte Clevenger.