7
20 Uhr 40
Clevenger und Anderson verließen das Haus in der Beacon Street gemeinsam. Sie fuhren getrennt zurück nach Chelsea und trafen in ihrem Büro wieder zusammen.
»Was meinst du?«, fragte Anderson und setzte sich in den Sessel neben Clevengers Schreibtisch – den Sessel, in dem Grace Baxter gesessen hatte.
»Zwei Menschen, die einander lieben oder zumindest eine intime Beziehung miteinander haben, sterben innerhalb weniger Stunden«, sagte Clevenger. »Ich finde schon, dass ihre Affäre der logische Ausgangspunkt ist, um mit den Ermittlungen zu beginnen. Jemand konnte nicht ertragen, was zwischen den beiden war, oder konnte nicht ertragen, dass es vorbei war.«
»Das könnte Grace selbst sein. Sie könnte die Schützin gewesen sein.«
»Möglich«, pflichtete Clevenger bei. »Aber um sich diese Verletzungen selbst zuzufügen, hätte sie psychotisch sein müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht war sie verstörter, als ich erkannt habe. Sie hat von Schuldgefühlen gesprochen. Vielleicht war es mehr als das. Vielleicht war sie überzeugt, schlecht zu sein. Vielleicht glaubte sie, sich ausbluten zu lassen wäre der einzige Weg, um sich von ihren Sünden rein zu waschen.«
»Könnte der Mord an Snow sie in diese Verfassung gebracht haben?«, fragte Anderson.
Clevenger sah ihn nachdenklich an. »Durchaus möglich.« Eine der Feinheiten von forensischen Gutachten über Mörder bestand darin, zu verstehen, dass ihre geistige Verfassung drastisch vom Akt des Tötens selbst beeinflusst werden kann. Zu töten kann einen Menschen in einen Zustand stürzen, der wie ein Wahn oder sogar paranoide Schizophrenie anmuten kann – manchmal Minuten, manchmal Stunden nach der Tat. Clevenger schüttelte den Kopf. »Aber ich hatte bei ihr trotzdem nicht den Eindruck, dass sie im Begriff stand, den Bezug zur Realität zu verlieren.«
»Bis wir etwas anderes in den Händen haben, folgen wir deinem Instinkt. Wenn das hier ein Mord gefolgt von einem Selbstmord war, ist die Sache erledigt. Das Gleiche gilt, wenn beide Selbstmord begangen haben. Aber wenn da draußen ein Doppelmörder herumläuft, dann sind wir die Einzigen, die ihm auf der Spur sind.«
Anderson hatte Recht. Sie beide waren die Einzigen, die auf der Suche nach der Wahrheit waren. Und wenn diese Wahrheit einen Mörder beinhaltete, der unverfroren genug war, einen berühmten Erfinder und seine Highsociety-Geliebte umzubringen, war es an der Zeit, dass sie anfingen, sich über ihre eigene Sicherheit Gedanken zu machen. »Wir sollten ab sofort vorsichtiger sein«, sagte er.
»Keine Frage«, pflichtete Anderson bei.
»Ich denke, meine nächste Anlaufstelle ist Snows Frau, um herauszufinden, ob sie über Grace Baxter Bescheid wusste. Morgen früh kriege ich von Coady Snows Tagebuch. Ich werde einen Blick hineinwerfen, bevor ich ihr einen Besuch abstatte.«
»Ich muss immer noch Coroway ausfindig machen. Und irgendwie müssen wir an George Reese herankommen.«
»Sehe ich auch so.«
»Es ist dir doch klar, dass wir hier eigentlich keinen Auftraggeber haben«, bemerkte Anderson. »Du sollst für Coady ein Gutachten über Snows geistige Verfassung erstellen, aber er könnte dir selbst das wieder entziehen, wenn wir mit der Doppelmord-Theorie auf Volldampf voraus schalten.«
Clevenger ließ es sich durch den Kopf gehen. Es stand ihnen frei, sich von dem Fall loszusagen, und in einem Winkel seines Herzens hätte er das auch gern getan. Im Büro warteten jede Menge Fälle auf sie, ganz zu schweigen von der Zeit und Energie, die es Clevenger kostete, ein Auge auf Billy zu halten. Doch er wusste nur zu gut, falls tatsächlich jemand Grace Baxter und John Snow ermordet hatte, würde dieser Jemand bedeutend ruhiger schlafen, wenn er und Anderson das Handtuch warfen. Und das würde ihm schlaflose Nächte bereiten und Albträume bescheren, in denen sein betrunkener Vater in Raserei wütete. Nachdem er Stück um Stück von jenem Mann getötet worden war, konnte er es einfach nicht ertragen, einem Mörder freie Bahn zu lassen. So waren die zerbrochenen Bruchstücke seiner Psyche zusammengewachsen, so hatte sich seine Persönlichkeit gebildet. »Genau betrachtet war John Snow von Anfang an unser einziger Auftraggeber«, erklärte er. »So wie ich die Sache sehe, ist er der Einzige, der uns von unseren Posten abberufen kann.«
»Dann lass uns mal hoffen, dass er es per Ferngespräch macht, wenn es so weit ist.«
22 Uhr 35
Clevenger fuhr mit dem Frachtaufzug in den vierten Stock und ging auf die Stahltür zu seinem Loft zu. Stimmen und Gelächter schollen durch die Tür. Er fragte sich, ob Billy einen Freund mitgebracht hatte, etwas, das er immer noch gelegentlich unter der Woche tat, obgleich Clevenger ihn wiederholt gebeten hatte, es auf die Wochenenden, wenn er am nächsten Tag keine Schule hatte, zu beschränken. Clevenger versuchte, seine Gedanken von den Ermittlungen loszureißen und sich für eine väterlicheJetzt-ist-hier-mal-Schluss-Rede – und einige strengere Worte, sobald er und Billy allein waren – zu wappnen. Doch als er die Tür öffnete, sah er J. T. Heller mit Billy in der Küche sitzen und Cola trinken, als wären sie alte Kumpel.
Heller stand auf und kam auf Clevenger zu. In der Hand hielt er einen dicken Umschlag. »Tut mir Leid, dass ich so unangemeldet hereingeschneit bin«, sagte er.
»Kein Problem«, erwiderte Clevenger etwas perplex.
»Ich wollte nur die Unterlagen vorbeibringen, um die Sie gebeten hatten. Snows psychiatrisches Gutachten.«
»Danke.«
»Ich wollte, dass Sie sie so schnell wie möglich bekommen«, sagte Heller. »Sie hatten vergessen, mir Ihre Adresse dazulassen. Ich habe sie mir von der Ärztekammer besorgt. Billy hat gesagt, Sie müssten jeden Moment nach Hause kommen.« Er hielt ihm den Umschlag hin.
Clevenger nahm ihn. »Vielen Dank für die Mühe.«
»Wie ich sehe, halten Sie’s auch mit der flexiblen Arbeitszeit. Ich habe gerade sechs Stunden im OP hinter mir.«
»Setzen Sie so spät noch Operationen an?«
»Nein. Da war so ein Mann, der mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens zu seinem Neurologen gegangen ist. Sie haben ihn umgehend geröntgt, wie es sich gehört, und haben ein Angiogramm gemacht. Ein riesiges Aneurysma saß mitten an der oberen Kleinhirnarterie. Da hieß es, keine Zeit zu vergeuden.«
»Wie hat er es überstanden?«
»Als ich ihn aufgemacht habe, leckte das Ding bereits. Wenn er es auch nur eine Stunde länger aufgeschoben hätte, zu seinem Arzt zu gehen, wäre das sein Ende gewesen. Ich habe es sauber abgeklammert und anschließend alles wieder zugemacht. Sollte die nächsten hunderttausend Meilen halten.« Er zwinkerte Clevenger zu und verdrehte die Augen zur Decke. »So Gott will.«
»Das haben Sie gut hinbekommen.«
»Der Tag hat bedeutend besser geendet, als er angefangen hat, so viel steht fest«, sagte er. Die Worte schienen die Erinnerung an den Morgen wachzurufen. Schlagartig sah er so erschöpft aus, wie man es von einem Mann erwartet hätte, der einen Patienten verloren und einen anderen nur um Haaresbreite gerettet hatte. »Ich mache mich besser wieder auf den Weg«, sagte er.
»Es ist doch noch nicht spät«, platzte Billy heraus, dann sah er verlegen zu Boden, als hätte er seine lässige Fassade irgendwo zu seinen Füßen fallen gelassen.
Clevenger war nicht sicher, ob er ihn je so begeistert mit einem Erwachsenen hatte reden hören.
»Ich bin erledigt«, sagte Heller zu Billy. »Aber ein anderes Mal gern. Versprochen.« Er zwinkerte Clevenger zu. »Billy und ich haben festgestellt, dass wir Etliches gemeinsam haben.«
Billy sah strahlend hoch.
»Das ist ja toll«, sagte Clevenger. »Was denn so?«
»Mein Weg zur Heilkunde war auch recht gewunden und steinig, dass ich zur Adoption freigegeben wurde eingeschlossen.«
»Und nicht nur das«, warf Billy ein.
Clevenger bedachte Heller mit einem Blick, der ihn aufforderte, die Lücken zu füllen.
»Meine leiblichen Eltern haben mich im Krankenhaus ausgesetzt, nachdem meine Mutter entbunden hatte. Sie sind einfach mitten in der Nacht auf und davon und haben den Bundesstaat verlassen. Ein Ehepaar aus Brookline hat mich schließlich aufgenommen. Er war Arzt – im Mass General. Sie war Krankenschwester. Sie konnten keine eigenen Kinder bekommen.« Er sah zu Billy, dann wieder zu Clevenger. »Ich muss gestehen, ich habe ihnen das Leben jahrelang zur Hölle gemacht. Schule schwänzen, Autos knacken. Als ich elf war, wurde ich wegen Körperverletzung angeklagt, und das hat mir acht Monate im Jugendgefängnis eingebracht.«
»Genau wie bei mir«, sagte Billy.
Billy hatte ein Jahr zuvor drei Monate im Jugendgefängnis zugebracht, nachdem er und ein Freund in eine Schlägerei mit drei anderen Teenagern aus dem nahe gelegenen Saugus geraten waren. Die Saugus-Jungs waren alle in der Notaufnahme gelandet.
»Was hat die Wende herbeigeführt?«, fragte Clevenger.
»Meine Religion«, erklärte Heller. »Das Nervensystem.« Er ließ seine Worte einen Moment lang wirken. »Ich fing an, meinen Dad – meinen Adoptivvater – zur Arbeit zu begleiten. Er war Neurologe. Ich durfte nach der Schule im Krankenhaus vorbeikommen, mir in seinem Büro die Zeit vertreiben, hin und wieder Anrufe entgegennehmen und manchmal sogar dabei sein, wenn er Patienten untersucht hat – die wirklich interessanten Fälle.«
»Ist das nicht total cool?«, fragte Billy.
Clevenger vermutete, dass Billy es bedeutend cooler fand als Clevengers Zurückhaltung, ihn an seiner forensischen Arbeit teilhaben zu lassen. »Und am Ende wurden Sie Neurochirurg«, sagte er zu Heller. »Ihnen hat gefallen, was Sie gesehen haben.«
»Ich war fasziniert davon. Ich war fasziniert von ihm. Dass er mir Einblick in sein Berufsleben gegeben hat, war buchstäblich meine Rettung. Bis ich sah, was er für diese Leute tun konnte, welche Kraft er hatte, ihnen zu helfen, wusste ich nicht, dass wir diese Kraft in uns haben. Die Kraft, Gutes zu tun.«
»Er hat gesagt, ich darf ihm bei einer Operation zuschauen«, jubilierte Billy. »Ich darfmit in den OP.« Er sprach die letzten Worte aus, als hätte man ihm Aufnahme in einen Geheimbund gewährt. In gewisser Weise war Neurochirurgie das auch.
»Ich habe es nicht über Ihren Kopf hinweg entschieden«, wand Heller ein. »Ich habe ihm gesagt, dass ich natürlich erst bei Ihnen nachfragen würde, ob es in Ordnung ist.«
Billy sah Clevenger erwartungsvoll an.
»Natürlich darf er«, sagte Clevenger. Er verspürte einen Stich von Eifersucht, doch er wusste, dass das irrational war. Schließlich war er es gewesen, der Billy immer wieder abgehalten hatte, an seiner Arbeit teilzuhaben. Billy hätte sich mit Begeisterung darauf gestürzt.
»Ich rufe an und gebe Ihnen ein paar Termine, sobald ich weiß, wann wir interessante Fälle haben«, sagte Heller zu Clevenger.
»Hört sich gut an«, erwiderte Clevenger.
»Vielleicht schon nächste Woche, wenn wir den Terminplan nicht wieder mal über den Haufen werfen. Ich habe da eine Operation an einer Frau angesetzt, die seit elf Jahren blind ist. Sie ist dreiunddreißig. Gutartiger Tumor am Ophthalmicus. Wenn alles nach Plan verläuft und wenn ich etwas Glück habe, wacht sie auf, schlägt die Augen auf und kann sehen.«
»Mein Gott«, entfuhr es Billy.
»Gott ist bei jeder Operation mit im OP«, sagte Heller zu Billy. Er wandte sich wieder an Clevenger und deutete mit einem Nicken auf den Umschlag in seiner Hand. »Lassen Sie mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann.«
»Um ehrlich zu sein, wenn Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit hätten«, sagte Clevenger, »ich würde Sie gern in Bezug auf ein paar Dinge im Snow-Fall auf den neusten Stand bringen. Wir können auf dem Weg zu Ihrem Wagen reden.« Er sah Billys enttäuschtes Gesicht. Es war nicht seine Absicht gewesen, ihn auszuschließen. Und er wollte schon gar nicht den Eindruck erwecken, er versuche im Kampf um Hellers Aufmerksamkeit zu konkurrieren. Aber er wollte auch nicht in Billys Anwesenheit über Grace Baxters Tod reden. Er versuchte, die Situation zu retten. »Aber wahrscheinlich sind Sie genauso müde wie ich – also unterhalten wir uns vielleicht doch besser morgen früh.«
Billy stand von seinem Hocker auf. »Auf mich braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen«, sagte er. »Ich muss mich jetzt sowieso in die Falle hauen.« Er trollte sich in sein Zimmer.
»Ich seh dich dann im General«, rief Heller ihm hinterher.
»Phett«, antwortete Billy.
Clevenger sah zu, wie er in seinem Zimmer verschwand.
»Gibt es was Neues in dem Fall?«, fragte Heller.
»Allerdings«, antwortete Clevenger. »Grace Baxter wurde heute Abend tot aufgefunden.«
»Grace Baxter …«, sagte Heller gedehnt, während er versuchte, den Namen einzuordnen.
»Ihr Mann George Reese ist Präsident der Beacon Street Bank.«
»Snows Grace.«
Clevenger nickte. »Ich komme gerade von Reeses Haus in der Beacon Street.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Ihre Pulsadern waren aufgeschnitten, und ihre Kehle war durchschnitten.«
»Sie hat Selbstmord begangen.« Er sah Clevenger forschend an, und seine Oberlippe verzog sich leicht. »Sie denken, sie hat Snow umgebracht? Was soll das sein, irgend so ein lächerlicher Mord-Selbstmord-Dreiecksverhältnis-Mist? Das hat mich meinen Patienten gekostet?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Clevenger, wieder einmal verblüfft darüber, dass Heller alles durch das Prisma des Eigennutzes betrachtete. Dass Snow sein Leben gelassen hatte, schien für ihn nicht halb so wichtig wie die Tatsache, dass er seinen Star-Patienten verloren hatte. »Ich habe es nicht erwähnt, als wir uns heute Vormittag in Ihrem Büro unterhalten haben«, fuhr Clevenger fort, »aber Grace Baxter war meine Patientin. Eine neue Patientin. Ich hatte eine Sitzung mit ihr.«
»Sie haben sie behandelt?«
»Sie war heute Morgen für ihre erste Therapiestunde bei mir.«
»Das ist seltsam.«
»Sie hat den Termin wahrscheinlich abgemacht, weil sie depressiv war, nachdem Snow sie verlassen hatte.«
»Hat sie über die Affäre gesprochen?«
»Nein.«
»Sie hatte deswegen mit Selbstmord gedroht«, sagte Heller. »Ich glaube, das habe ich bereits bei unserem ersten Gespräch erwähnt.«
»Ich wünschte, ich hätte ihre psychiatrische Vorgeschichte gekannt«, brachte Clevenger gegen den erbitterten Widerstand seiner Schuldgefühle heraus. »Ich hätte sie eingehender danach befragen sollen.«
»Sie geben sich die Schuld an ihrem Tod«, stellte Heller fest. Er sah Clevenger in die Augen.
Was hatte Jet Heller an sich, dass er sofortige Kameradschaft, sofortiges Vertrauen weckte? War es seine eigene Bereitschaft, sich zu öffnen? Lag es daran, dass er sich nicht an strikte Grenzen hielt – dass er einfach zu einem spätabendlichen Besuch hereinschneite, dass er Billy in den OP einlud? Oder war es einfach seine Vertrautheit und Unerschrockenheit in allen Dingen, einschließlich Tod und Sterben. Konnte irgendetwas einen Mann erschüttern, der von Berufs wegen jeden Tag die Köpfe von Menschen öffnete? »Es gibt da Fragen, die ich nicht gestellt habe«, sagte Clevenger. Er ließ unerwähnt, dass er nicht überzeugt war, dass Baxter tatsächlich Selbstmord begangen hatte.
»Kommen Sie, Frank. Von Arzt zu Arzt. Sie denken, Sie wären für ihren Tod verantwortlich.«
Clevenger räusperte sich. »Sie hat ein Sicherheitsversprechen gegeben.«
Heller nickte. »Ich habe siebenundzwanzig Patienten auf dem Operationstisch verloren«, sagte er. »Wollen Sie wissen, bei wie vielen davon ich Mist gebaut habe?«
»Hören Sie, Sie müssen nicht …«
»Bei sechs. Möglicherweise sieben. Sie sind wegen meiner Unzulänglichkeiten als Heiler tot.«
Clevenger ertappte sich dabei, dass er alle Kraft aufwenden musste, um Heller als Psychiater und nicht als seinem Patienten zuzuhören. »Und was bedeutet das für Sie?«, fragte er.
»Das bedeutet für mich, dass ich einen verdammt harten Job habe, den ich zufällig liebe, und es bedeutet für mich, dass ich auch nur ein Mensch bin, egal, was die Zeitungen behaupten. Wenn ich nicht mit meinen Schwächen fertig werden kann, dann habe ich nichts in einem OP, und schon gar nichts im Kopf eines anderen Menschen zu suchen.«
Clevenger schluckte schwer.
»Und wie steht es mit Ihnen, Frank? Sind Sie ein Mensch? Oder glauben Sie inzwischen selbst, was die Zeitungen über Sie schreiben – dass Sie jeden heilen, jeden Fall lösen können?« Er streckte die Hand aus und drückte Clevengers Arm.
Wenn man mit einem Vater aufwächst, der einem keinerlei Liebe zeigt, kann einen die freundschaftliche Berührung eines anderen Mannes erstarren oder dahinschmelzen lassen. Clevenger wandte den Kopf ab, während ihm Tränen in die Augen traten.
»Richtige Antwort, Bruder«, sagte Heller. »Ich bin ein halbes Dutzend Mal nach Hause gefahren und habe mich so gefühlt wie Sie jetzt, und ich werde noch ein Dutzend Mal mit diesem Gefühl nach Hause fahren, bis ich zu alt bin, um ein Skalpell zu halten.«
Clevenger atmete tief durch und sah ihn an. »Danke«, sagte er schlicht.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, sofern das nicht gegen die Regeln bei Ermittlungen verstößt«, bat Heller. »Und wenn Sie irgendwann denken, jemand anders als Snow selbst könnte für seinen Tod verantwortlich sein, und mehr Kohle brauchen, um den Mistkerl zur Strecke zu bringen, brauchen Sie es nur zu sagen. Wenn jemand Snow das Leben geraubt hat, dann hat er auch mich beraubt.«
»Ich lasse es Sie wissen, wenn sich etwas Wichtiges ergibt«, versprach Clevenger. Er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass er Heller im Grunde überhaupt nicht kannte. »Alles, was nicht der Geheimhaltung unterliegt. Das verstehen Sie sicher.«
»Wir haben alle unseren Ehrenkodex«, sagte Heller. »Ich würde niemals verlangen, dass Sie den Ihren brechen.« Er deutete mit einem Nicken auf Billys Zimmer. »Nebenbei bemerkt, Ihr Junge wird sich schon zurechtwachsen. Er hat ein wirklich gutes Herz.« Er zuckte mit den Achseln. »Man kann nie wissen, unter all dem Haar und den Piercings könnte ein Neurochirurg stecken.«
»Man kann nie wissen.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Heller drehte sich um und ging hinaus.
Clevenger ging zu Billys Zimmer. Die Tür war geschlossen. Kein Licht schien darunter hervor. Entweder schlief Billy, oder er tat so. Clevenger wäre am liebsten hineingegangen und hätte ihn geweckt, um einen überzeugenderen Versuch zu machen, an Billys Begeisterung über Heller und die Operation teilzuhaben. Doch er wusste, dass er nur das übliche »Später, okay? Ich bin erledigt« ernten würde.
Er ging zu seinem Schreibtisch vor der Fensterwand mit Ausblick auf die Tobin Bridge, setzte sich und öffnete den Umschlag, den Jet Heller ihm gegeben hatte. Er blätterte zur Anamnese, geschrieben von einem gewissen Dr. Jan Urkevic, und las den Abschnitt mit der Überschrift »Gegenwärtiger Krankheitsverlauf«.
Dr. Snow, ein 54-jähriger, verheirateter Vater von zwei Kindern, der unter Epilepsie leidet, unterzieht sich der Begutachtung zur Feststellung seiner Zurechnungsfähigkeit im Vorfeld eines neurochirurgischen Eingriffs, der sehr ernste Risiken, einschließlich Blindheit und Sprachverlust, birgt. Er ist als freiwilliger Proband vorstellig geworden und erklärt, dass er sich mit dem Ersuchen um dieses Gutachten den Wünschen von Familienmitgliedern – speziell seiner Frau – fügt. »Sie muss wissen, dass ich rational denke, dass ich bei der Entscheidung, der Operation zuzustimmen, Nutzen und Risiken abgewogen habe – selbst wenn sie mit meiner Entscheidung nicht übereinstimmt.«
Dr. Snow beschreibt den geplanten Eingriff als »experimentell«. Dr. J. T. Heller wird bestimmte Abschnitte seines Gehirns entfernen, in dem Bestreben, die Anfall-Foci zu beseitigen, die für Dr. Snows Epilepsie verantwortlich sind, eine Erkrankung, die er als »lebenslängliche Gefangenschaft in mir selbst« beschreibt. Er sagt aus: »Mein Gehirn ist kaputt. Es kommt zu Kurzschlüssen, wenn mein Verstand meine besten Ideen hervorbringt. Meine Nervenbahnen können nicht mit den elektrischen Impulsen fertig werden, die meine Vorstellungskraft erzeugt.«
Dr. Snow ist sich bewusst, dass es sich bei dieser Aussage um eine Metapher handelt, mit der er seinen Zustand beschreibt. Er ist sich vollends bewusst, dass die Entfernung der Anfall-Foci in seinem Gehirn – selbst wenn die Operation ihn von seiner Epilepsie heilt – möglichweise nicht in einer gesteigerten intellektuellen Funktionsfähigkeit resultiert. Er ist bereit, die Risiken der Operation (welche er akkurat auflistet) in Kauf zu nehmen, ungeachtet dessen, ob er in dieser Hinsicht einen Zugewinn erfährt.
Dr. Snow ist promovierter Luftfahrtingenieur und arbeitet als Erfinder in einem Unternehmen, dessen Mitgründer er ist (Snow-Coroway Engineering). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er außerstande wäre, Aufgaben auszuführen, die Erinnerungsvermögen, Konzentration oder rationale Entscheidungsfähigkeit verlangen.
Clevenger überflog die Seiten, bis er zu dem Abschnitt »Psychiatrische Krankengeschichte« kam, aus dem hervorging, dass Snow verneint hatte, in der Vergangenheit an irgendeiner psychiatrischen Erkrankung gelitten oder einen Psychiater konsultiert zu haben. Unter »Untersuchung des Geisteszustands« hatte Urkevic notiert, dass Snow bestritt, Selbstmord- oder Tötungsfantasien zu hegen oder an irgendwelchen Halluzinationen zu leiden. In seiner abschließenden Zusammenfassung erklärte er Snow für zurechnungsfähig, vorbehaltlich der Ergebnisse der psychodiagnostischen Untersuchung.
Clevenger überflog die Seiten, bis er einen »Psychologischen Untersuchungsbericht« von Dr. Kenneth Sklar fand. Das war der Teil von Snows Krankenakte, der den besten Einblick in seinen Intellekt und sein emotionales Innenleben bieten würde, einschließlich einer möglichen bewussten oder unbewussten Todessehnsucht. Die Bewertung beinhaltete eine Vielzahl von Verfahren, einschließlich Intelligenztests, Persönlichkeitserfassung und Tintenklecksen.
Clevenger begann zu lesen.
PSYCHODIAGNOSTISCHE VERFAHREN:
Gespräch
Rorschach-Test
Thematischer Apperzeptionstest (TAT)
Multidimensionaler Persönlichkeitstest (MMPI-2)
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest-Revision für Erwachsene (HWI-R)
Bender-Gestalt-Test (BGT), inklusive Hintergrund-Interferenz-Verfahren (HIV)
Klinische Demenzskala-2
BEOBACHTUNGEN ZUM VERHALTEN:
Dr. Snow wurde für alle Verfahren in meinem Büro im Haus Ellison 7 im Massachusetts General Hospital vorstellig. Er ist ein hoch gewachsener, attraktiver Mann, der sich während unserer Treffen sehr umgänglich zeigte. Sein Gedankenfluss war normal, und er zeigte keinerlei Anzeichen von Beklommenheit (s. unten). Er erkundigte sich nach der rationalen Grundlage für jeden der durchgeführten Tests, doch nicht aggressiv. Er bewies eine Neigung, zu hinterfragen, ob sein Gutachter hinlängliche Erfahrung in der Psychodiagnostik besaß, einschließlich Fragen nach meiner Ausbildung und der Anzahl der Jahre, die ich bereits in meinem Beruf tätig bin. Davon einmal abgesehen, zeigte er sich willig und in jeder Hinsicht kooperativ.
TESTERGEBNISSE:
Die Ergebnisse von Dr. Snows HWI-R-Test zeigen einen außerordentlich intelligenten und intellektuellen Mann. Verbale und nonverbale Argumentation liegen im Hochbegabten-Bereich, mit einem Intelligenzquotienten von 165, der ihn am oberen Ende des Genie-Spektrums einordnet.
Der HWI-R hat außerdem die Fähigkeit zu sowohl faktenorientiertem wie auch abstraktem Denken gezeigt. D. h. sein technisches Know-how schränkt seine Kreativität nicht ein. Diese Dualität ist höchst ungewöhnlich und erklärt, wie Dr. Snow eine komplexe wissenschaftliche Disziplin meistern kann und zugleich in der Lage ist, jene Disziplin in neuer, »bahnbrechender« Weise anzuwenden.
Die Ergebnisse der Projektions- und Objekt-Beziehungstests (einschließlich MMPI) offenbarten jedoch gewisse Beschränkungen: Er zeigt eine starke Tendenz zu Selbstkritik und Kritik an anderen. Er beschäftigt sich weit mehr mit seinen Schwächen als mit seinen Stärken und ist gleichermaßen fixiert auf die Schwächen anderer. Er beschreibt viele der Charaktere in den ihm vorgestellten Geschichten als »defekt« oder »wertlos«. Menschen werden von ihm an idealisierten, statt realistischen Verhaltensmaßstäben gemessen. Intelligenz wird gepriesen, doch nur, wenn sie Genialität repräsentiert. Niedrigere Intelligenzniveaus werden verachtet. Ideale physischer Schönheit werden überbewertet. Physische Unzulänglichkeiten werden übertrieben gesehen.
Diese Themen wiederholten sich beim Rorschach-Test. Für Dr. Snow repräsentierten viele der Karten »Chaos« oder »einen Sturm«, was darauf hindeutet, dass symmetrische, doch zufällige Muster ihm Unbehagen bereiten. In Bezug auf eine der farbigsten Karten machte er die folgende Feststellung: »Vielleicht ein Garten. Nicht gut angelegt. Ein Durcheinander. Alles verläuft ineinander.«
Interessanterweise rief Unordnung bei Dr. Snow keine Beklemmung hervor, sondern eher ein gesteigertes Maß von Erregung, die an Verärgerung grenzte. Er verglich die Emotion mit der, die er während des Erfindens empfindet. Er erklärte, dass das Finden der richtigen Lösung für ein Problem das Verwerfen der falschen Lösungen voraussetzt, einschließlich jener, die im strikten Sinne korrekt, aber mittelmäßig sind. »Diese fehlerhaften Ideen«, sagte er, »machen mich wütend, so wütend, dass ich sie auslöschen möchte – besonders, wenn es meine eigenen sind.« Es ist ein Gefühl, das er genießt und das seiner Überzeugung nach in direkter Verbindung zu seiner Kreativität steht.
Diese Fixierung auf das Bedürfnis nach Perfektion und Ordnung kann Dr. Snow in grüblerisches, egozentrisches Denken stürzen. Von anderen Leuten erwartet er, dass sie »das Beste aus sich machen« und nicht zulassen, dass ihre Emotionen ihren Intellekt beherrschen. Wenn sie dies nicht tun, werden sie als »schwach« oder »kaputt« betrachtet, besonders, wenn ihr Verhalten ihm zusätzlichen Stress bereitet.
Dr. Snows Thematischer Apperzeptionstest bestätigt dies. Er entwickelte zum Beispiel folgende Erzählung als Reaktion auf das Bild eines kleinen Jungen, der nachdenklich eine Geige betrachtet:
Er denkt an Mendelssohn und was dieser mit seiner Geige geleistet hat, und fragt sich, ob er wohl ebenso gut spielen könnte. Es gibt immer Hoffnung. Vielleicht ist er begabt. Und es gibt keinen anderen Weg, das herauszufinden, außer zu spielen. Doch das verlangt großen Mut. Ich meine, wer wagt es, sich der Prüfung zu unterziehen, nur um festzustellen, dass er bloß das Zeug hat, in der Highschool-Band mitzuspielen?
Als ich diese elitäre Denkweise bewusst in Abrede stellte, rechtfertigte Dr. Snow seine Ansichten damit, dass sie nur die in der Gesellschaft vorherrschenden Einstellungen reflektieren würden, »selbst wenn niemand den Mumm hat, es zuzugeben«. In seinen eigenen Worten:
Warum werden im Fernsehen keine Freundschafts-Basketballspiele aus dem örtlichen Stadtpark übertragen? Weil es niemanden interessiert. Sie sind bedeutungslos. Alles, was wirklich zählt, ist die NBA, und selbst da nur die Weltmeister, und selbst da nur der Superstar im Mittelpunkt der betreffenden Mannschaft. Das ist es, worauf jedes Freundschaftsmatch und Highschoolmatch und Collegematch in Amerika hinführt. Die ganze Energie wird bis hinauf in die oberste Spitze gesogen, wie bei einem Wurzelsystem, damit wir Zeuge eines Drei-Punkte-Wurfs in den letzten zwei Sekunden des Endspiels auf CBS werden und aufspringen und jubeln können, was eine Art der Anbetung ist – eine Verehrung von erhabener Größe, die ihrerseits nur ein Abglanz Gottes ist.
Dr. Snow legt die gleichen harten Maßstäbe an seine eigene Arbeit an. Er verachtet Gruppenleistungen, ist selbst sein unerbittlichster Kritiker und misst seine Leistungen an denen von Benjamin Franklin, Albert Einstein und Bill Gates.
ZUSAMMENFASSUNG:
Abschließend lässt sich feststellen, dass ein anders gearteter Mensch möglicherweise Dr. Snows Epilepsie tolerieren und die Risiken der Operation, die er akzeptiert, ablehnen würde. Er hat seine Anfälle immer als »eine unerträgliche Schwäche« betrachtet, ging sogar so weit, sie als »grotesk« zu bezeichnen. Doch diese harte Sicht seiner Pathologie ist nicht wahnhaft und dürfte keinen beeinträchtigenden Einfluss auf seine Fähigkeit haben, einer Operation zuzustimmen, deren Ziel die Heilung jener Pathologie ist.
Dr. Snows Intellekt, Erinnerungsvermögen und Konzentrationsfähigkeit sind intakt. Es gibt keine klaren Hinweise auf eine Denkstörung oder Psychose. Meiner Einschätzung nach ist er voll zurechnungsfähig.
Sollte Dr. Snow von Seiten der Ethikkommission die gewünschte Operation verweigert werden, befürchte ich, dass dies negative Auswirkungen auf seinen Geisteszustand haben könnte. Es besteht die Möglichkeit, dass er die Vorstellung, bis ans Ende seiner Tage an seiner Krankheit zu leiden, als zunehmend unzumutbar betrachten könnte.
Clevenger fiel es schwerer als je zuvor zu glauben, dass Snow tatsächlich den Mut verloren und am Morgen seiner Operation in einer Gasse Selbstmord begangen haben sollte. Weder Urkevic noch Sklar hatten Hinweise auf eine akute oder vergangene Depression entdeckt, die hätte erklären können, warum er suizidal geworden war. Er litt nicht unter Ängsten. Er besaß ein positives, vielleicht sogar übersteigertes Selbstbild, und sein Zorn richtete sich gegen seine eigenen Unzulänglichkeiten, derer er sich durch die Operation zum größten Teil zu entledigen hoffte. Er stand im Begriff, nicht nur die Teile seines Gehirns auszulöschen, die für seine Anfälle verantwortlich waren, sondern auch diejenigen seiner Erinnerungen, die für ein gut Teil seines Leidens verantwortlich waren, weil sie ihn an kaputte Beziehungen ketteten. Er musste euphorisch gewesen sein.
Das Telefon klingelte. Er ging ran. »Clevenger.«
»Wie geht’s?«, erkundigte sich Mike Coady.
Clevenger hörte ehrliches Mitgefühl in Coadys Stimme mitschwingen. »Ich halte durch«, antwortete er.
»Gut, sehr gut.« Er machte eine kurze Pause. »Ich bin hier bei Jeremiah Wolfe im Leichenschauhaus. Er obduziert gerade Grace Baxter.«
»Und?«
»Sie hatte Essen im Magen. Sie hat eine Stunde vor ihrem Tod gegessen.«
Was nicht gerade zu einem hysterischen Selbstmord passte. Aber es sprach auch nicht völlig dagegen. Clevenger fragte sich, weshalb Coady wirklich angerufen hatte. »Sie hat also entschieden, eine Henkersmahlzeit zu sich zu nehmen«, sagte er. »Na und?«
»Ich bin sicher, das kommt vor.«
»Zweifellos.«
»Aber es ist trotzdem merkwürdig.«
Clevenger war nicht sicher, worauf Coady hinauswollte oder warum er es nicht rundheraus sagte. »Zugegeben, es ist merkwürdig.«
»Also hat Jeremiah ihren Mageninhalt genauer unter die Lupe genommen. Er hat ein Tablettenfragment gefunden und es anhand von einem der Fotos im Ärztehandbuch identifiziert.«
»Die rote Liste«, sagte Clevenger.
»Es stellte sich heraus, dass das Tablettenfragment augenscheinlich von einer Vitamintablette stammt – irgendwas namens Materna.«
Clevenger sank der Mut. »Das ist ein Schwangerschaftsvitamin«, sagte er leise.
Coady antwortete nicht gleich. »Die Ultraschalluntersuchung zeigt, dass sie, ähm … Sie war im dritten Monat schwanger. Vielleicht etwas mehr.«
»Im dritten Monat«, wiederholte Clevenger.
»Also, nun ja, ich weiß nicht, vielleicht ist ja doch was dran an dem, was Sie gesagt haben. Ich bin kein Psychiater, aber ich glaube einfach nicht, dass eine Frau eine von diesen Tabletten schluckt, bevor sie sich umbringt. Und ich kenne die Statistiken nicht, aber ich würde nicht denken, dass überhaupt allzu viele Schwangere Selbstmord begehen.«
»Nein. Nein, tun sie nicht.«
»Weil sie sich auf die Geburt freuen und so. Stimmt’s? Es geht nicht mehr allein um ihr Leben.«
Clevenger glaubte, Coadys Stimme zum Ende des Satzes hin brechen zu hören. Er wollte ihm Gelegenheit geben zu sagen, was er fühlte. »Ich glaube nicht, dass ich mich je an diese Arbeit gewöhnen werde«, sagte er.
Coady machte keinen Gebrauch von dem Angebot. »Anderseits gibt es einen Abschiedsbrief.«
»Ich würde gern eine Kopie davon haben.«
»Ich besorge Ihnen eine.« Er räusperte sich. »Ich habe keine handfesten Beweise, die George Reese mit dem Tod seiner Frau in Verbindung bringen«, erklärte er. »Und ich halte es noch immer für ziemlich weit hergeholt, ihm gleich einen Doppelmord innerhalb von zwölf Stunden zur Last zu legen. Das wäre ein unglaublich dummer Plan, und er ist kein Dummkopf. Für mich war Snow weiterhin allein in jener Gasse.«
Clevenger wollte jetzt nicht darüber streiten. »George Reese ist nicht der Einzige, der über die Affäre erzürnt gewesen sein könnte«, gab er zu bedenken. »Ich habe noch mit niemandem von Snows Familie gesprochen.«
»Wann werden Sie das machen?«
»Wenn es nach mir geht, morgen.«
»Ich werde es arrangieren. Reese kann ich jederzeit zur Befragung herholen. Aber je mehr wir aus anderen Quellen über die Beziehung seiner Frau mit John Snow erfahren, desto besser.«
»Klingt, als wären wir da auf der gleichen Wellenlänge«, bemerkte Clevenger.
Coady nahm auch dieses Versöhnungsangebot nicht an. »Eine Sache noch«, sagte er. »Nachdem Sie gegangen waren, hat Reese eine Drohung ausgesprochen.«
»Was für eine Drohung?«
»Er hat gesagt, dass Sie derjenige sein sollten, den man ins Leichenschauhaus bringt, nicht seine Frau.«
»Danke für die Warnung.«
»Ich kann Ihnen auf Grundlage dieser Drohung Polizeischutz anbieten«, sagte Coady. »Er ist ein Mann, der über Mittel und Wege verfügt.«
»Nein, vielen Dank«, erwiderte Clevenger.
»Ich hatte auch nicht erwartet, dass Sie mein Angebot annehmen.« Er verstummte kurz gedankenverloren. »Mit drei, dreieinhalb Monaten kann man ein Baby nicht retten, stimmt’s? Selbst mit vier nicht.«
Clevenger schloss die Augen. Er begriff, dass Coady sich fragte, ob er Graces Baby hätte retten können. Es war ein irrationaler Gedanke – er hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal gewusst, dass sie schwanger war –, aber es waren gerade die irrationalen Gedanken, die die Macht hatten, einem Löcher in die Seele zu brennen. »Nein«, versicherte Clevenger. »Das Baby hätte nicht überleben können.« Er wusste, dass Coady etwas noch Nachdrücklicheres brauchen würde als Rüstzeug, wenn die Zweifel tief in der Nacht zurückkehrten – vielleicht nicht in dieser Nacht, vielleicht in sechs Wochen oder sechs Jahren. »Keine Chance«, erklärte er. »Absolut null.«
»Natürlich nicht«, sagte Coady, und es schwang Erleichterung in seiner Stimme mit. Er räusperte sich. »Wir reden morgen weiter.«