12


Clevenger rief im Mass General an, wurde zur OP-Abteilung durchgestellt und bekam mitgeteilt, dass Heller noch immer operiere. Er wählte Mike Coadys Handynummer.

»Ja«, meldete sich Coady.

»Frank hier.«

»Wieder zurück?«

»Bin vor zwei Stunden angekommen.«

»Wie war’s?«

Er erzählte Coady, wie ungerührt Coroway gewirkt hatte, selbst als er ihn über Vortek ausfragte; und dass Coroway Lindsey Snows Verdacht bestätigt hatte, dass ihr Vater eine Affäre mit Grace Baxter hatte.

»Dann kann man davon ausgehen, dass die Mutter es auch wusste«, sagte Coady.

»Wahrscheinlich. Aber das Wichtigste kommt erst. Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit Lindsey. Sie hat mir erzählt, dass sie Baxters angeblichen Abschiedsbrief gefunden hätte – den, den Sie am Tatort gefunden haben. Sie hat wortwörtlich daraus zitiert. Dieser Brief war nicht an George Reese gerichtet, sondern an John Snow. Lindsey hat den Brief vor rund einer Woche in seinem Aktenkoffer gefunden.«

»Dann hat Grace Baxter den Brief also vor einer Woche geschrieben?«

»Ja, und sie hat ihn Snow entweder gegeben, oder er hat ihn gefunden. Was immer er schließlich gesagt oder getan hat, es muss das Richtige gewesen sein. Denn sie hat ihre Drohung nicht wahr gemacht – nicht, solange er noch lebte.«

»Wenn Lindsey Snow den Abschiedsbrief gefunden hat, wie ist er dann wieder bei der Leiche gelandet?«

»Lindsey hat ihren Bruder damit zu George Reese geschickt. Sie wollte der Affäre offenkundig ein Ende setzen, ein für alle Mal.«

»Das dürfte sie damit wohl erreicht haben«, bemerkte Coady.

»Wenn sie die Wahrheit sagt, müsste Reese den Brief auf den Nachttisch gelegt haben – nachdem er seine Frau ermordet hatte.«

»Müsste.« Coady schwieg einen Moment lang. »Es sei denn, er hatte Angst, jemand könnte denken, dass er es getan hat. Ich meine, Grace Baxter hat diesen Brief geschrieben. Sie war ziemlich mitgenommen, als Sie bei Ihnen war. Er könnte sie tot aufgefunden haben, und dann ist er in Panik verfallen und hat alles ein bisschen ausgeschmückt.«

Sie war ziemlich mitgenommen… Coady versuchte immer noch, Grace Baxters Tod als Selbstmord hinzustellen. Und Clevenger musste sich fragen, ob er seinerseits ebenso versessen darauf war, ihren Tod als Mord hinzustellen. War Coadys Blick getrübt, oder trübten Schuldgefühle den seinen? »Könnte sein«, sagte er.

»Ich versuche nur, so zu denken, wie sein fünf Millionen Dollar teures Team von Verteidigern es sehen würde«, sagte Coady. »Aber ich werde veranlassen, dass er zu einer Vernehmung bestellt wird.«

»Ich freue mich schon darauf, noch mal mit ihm zu reden.«

»Wir müssen einfach nur sehr vorsichtig mit dieser Beacon-Street-Bank-Sache sein.«

»Vorsichtig?«

»Es ist eine wichtige Bank. Ein wichtiger Arbeitgeber. Die Aktien gehen in den Keller, wenn derGlobe druckt, dass Grace Baxter im Mittelpunkt der Ermittlungen steht, was keine fünf Sekunden dauern dürfte, wenn man sich ansieht, wie viele Reporter an dieser Sache dran sind. Ich werde ganz schön was von Bürgermeister Treadwell zu hören bekommen, wenn nicht sogar vom Gouverneur. Sie werden eine Garantie dafür verlangen, dass ich auch wirklich weiß, was ich tue.«

»Es kann wirklich niemand behaupten, dass Sie vorschnell handeln. Reese hat da einiges zu erklären. Was hat er mit dem Abschiedsbrief gemacht? Wie fand er es, dass seine Frau mit John Snow ins Bett gegangen ist? Wo war er gestern um, sagen wir, halb fünf am Morgen?«

»Wie schon gesagt, ich werde seine Vernehmung veranlassen.«

»Gut«, sagte Clevenger.

»Kyle Snow haben wir auch schon für Sie parat. Er wartet im Suffolk-County-Gefängnis auf Sie, wann immer Sie mit ihm sprechen wollen.«

»Ist er im Gefängnis?«

»Ihm hat der Vorschlag nicht gefallen, zur Vernehmung aufs Präsidium zu kommen, also habe ich unter Berufung auf seinen positiven Urintest seine Kaution widerrufen lassen.«

Lindsey hatte nicht erwähnt, dass ihr Bruder verhaftet worden war. »Wann haben Sie ihn verhaftet?«

»Ungefähr vor einer Stunde. Vielleicht kriegen Sie ihn ja jetzt dazu, den Mund aufzumachen.«

»Ich werd’s versuchen. Ich fahr morgen Vormittag vorbei.«

»Lassen Sie mich wissen, wie’s gelaufen ist.«

»Werd ich machen.«

Clevenger fuhr nach Hause, um auf Billy und Heller zu warten.

Es war 21 Uhr 20. Er schaltete den Computer ein und schob eine der fünf Floppydisks, die von der Festplatte von John Snows Laptop kopiert worden waren, ins Diskettenlaufwerk. Er rief das Verzeichnis auf, sah die üblichen Microsoft-Betriebssystemdateien sowie mehrere andere Standard-Programmdateien wie Word und Norton AntiVirus. Aber dazwischen fanden sich zwanzig Dateien, die mit VTK begannen und fortlaufend nummeriert waren – VTK1.LNX bis VTK20.LNX. Diese Dateien hatten offensichtlich etwas mit Vortek zu tun. Clevenger öffnete die erste. Seiten und Seiten von etwas, das wie Computercode aussah. Entweder waren die Dateien zerstört oder sie waren in einer Programmiersprache geschrieben, die Clevenger noch nie untergekommen war. Er schob die nächste Diskette ins Laufwerk, dann die übernächste, immer mit dem gleichen Ergebnis. Es gab insgesamt 157 VTK-Dateien, jede von ihnen unentzifferbar.

Clevenger griff zum Telefon und wählte die Nummer seines Freundes Vania O’Connor von Portside Technologies in Newburyport, nördlich von Boston, nah der Bundesstaatsgrenze zu New Hampshire. O’Connor war ein fünfunddreißig Jahre altes Computer-Genie mit einer langen Liste von Fortune-500-Klienten, die vermutlich niemals sein fensterloses Kellerbüro besuchten, in dem sich Hunderte von Fachbüchern über Computerprogrammierung und Problemlösungen stapelten.

O’Connor meldete sich beim ersten Klingeln. »Mmm. Hmm«, summte er in seinem charakteristischen Bariton.

»Frank hier. Tut mir Leid, dass ich so spät anrufe.«

»Wie spät ist es?«

Clevenger sah auf die Uhr. »Viertel nach zehn.« Er fragte sich, warum Billy noch nicht wieder zurück war.

»Vormittags oder abends?«

Clevenger schmunzelte. Er zweifelte nicht daran, dass O’Connor gelegentlich das Zeitgefühl verlor, wenn er unter dem Haus arbeitete, in dem er, seine Frau und die drei Kinder ein überraschend normales Leben führten. Und dieser Gedanke – dass O’Connor den Bedürfnissen seiner Genialität und seiner Familie Rechenschaft trug – brachte Clevenger von neuem zu der Frage, warum John Snow dazu nicht imstande gewesen war. »Vormittags«, scherzte er.

»Unmöglich«, entgegnete O’Connor. »Wir sind heute an der Reihe, den Nachtisch für den Kindergarten mitzubringen. Nicole hätte mich schon vor Stunden hochgescheucht.«

Nicole war O’Connors zauberhafte sechsjährige Tochter. »Du dienst vielen Herren.«

»Das weiß ich«, sagte O’Connor. »Lass mich raten. Du rufst an, um herauszufinden, warum es, wenn du einen Explorer-Browser öffnest, während du eine Excel-Tabelle benutzt, unmöglich ist, die monatliche Vorschau-Funktion aufzurufen – was ein wirklich seltsamer Zufall ist, da das genau das Problem ist, mit dem ich gerade beschäftigt bin.«

»Klingt interessant.«

»Aber sicher doch.«

»Wie lange plagst du dich schon damit herum?«

»Keine Ahnung.«

»Ich störe dich wirklich nur ungern.«

»Etwas sagt mir, dass du es trotzdem tun wirst. Also, was gibt’s?«

»Ich habe hier lauter Floppys mit allen möglichen Dateien darauf. Sie stammen von der Festplatte eines Laptop. Einige von ihnen sehen ziemlich standardmäßig aus, aber da sind einhundertsiebenundfünfzig andere, die mit den Buchstaben VTK anfangen und auf LNX enden.«

»Einhundertsiebenundfünfzig.«

»Ich habe jede einzelne geöffnet. Ich kann nicht herausfinden, ob sie von einem Virus zerstört wurden oder verschlüsselt sind. Für mich ergeben sie jedenfalls keinerlei Sinn.« Er hörte, dass die Tür des Lofts aufgeschlossen wurde, und ging darauf zu.

»Schick sie mir nicht per E-Mail«, sagte O’Connor. »Gott weiß, womit sie infiziert sind.«

Er sagte es in einem Tonfall, als hätte Clevenger nur noch einen Tag zu leben. »Wie wär’s, wenn ich sie vorbeibringe? Ich verspreche, dich nicht anzuatmen.«

»Jederzeit.«

»Morgen früh?«, fragte Clevenger.

»Vor halb neun oder nach Viertel nach neun. Wie ich schon sagte, wir sind an der Reihe …«

»Für den Nachtisch zu sorgen.« Die Tür ging auf. Er hörte Billys und Hellers Stimmen.

»Blaubeeren«, sagte O’Connor. »Es ist ein Montessori-Kindergarten. Die stehen voll auf gesunde Ernährung. Ich persönlich ziehe Hirnnahrung vor. Ich bin heute Abend inzwischen bei meiner dritten Packung Hot Tamales.«

Billy kam in einem OP-Kittel und Jeans herein, gefolgt von Heller, der einen OP-Kittel unter seinem schwarzen, drei Viertel langen Schurwollmantel anhatte. Er trug auch wieder seine schwarzen Krokodilleder-Cowboystiefel.

»Ich seh dich dann so gegen acht«, erklärte Clevenger O’Connor.

»Groß, mit Sahne, vier Stück Zucker.«

»Geht klar.« Er legte auf. »Also, wie war’s?«, fragte er Billy.

Billy grinste und sah zu Heller. Heller erwiderte sein Lächeln. »Irre«, sagte Billy. »Absolut, total irre.«

»Bleiben Sie doch noch kurz«, forderte Clevenger Heller auf.

»Steht unsere Verabredung für einen Drink noch?«, fragte Heller. »Ich glaube, Billy ist ziemlich müde.«

»Total erledigt«, pflichtete Billy bei. Er hielt ein Buch hoch. »Bettlektüre.«

Clevenger las den Titel.Gehirn und Rückenmark: Aufbau und Funktion, von Abraham Kader. Er konnte nicht ganz glauben, dass Billy das Buch in derselben Hand hielt, die gemeinhin für Marlboros und Eminem-CDs reserviert war. »Das ist ein Klassiker«, bemerkte er.

»Kader ist ein Freund von mir«, erklärte Heller.

Aber natürlich doch, dachte Clevenger bissig.

»Es hat ’ne Widmung«, verkündete Billy. »Von einem Heiler an den anderen

»Genau deshalb habe ich es Billy gegeben«, sagte Heller. »Könnte sich von neuem bewahrheiten.«

»Du hättest dabei sein sollen«, begeisterte sich Billy. »Wir haben zugemacht, und, echt, eine halbe Stunde später schlägt sie im Aufwachraum die Augen auf und …« Er schaute abermals zu Heller, der ihm mit einem Nicken gestattete, die Pointe zu präsentieren. »Sie konnte sehen«, sagte Billy ehrfürchtig.

»Das ist ja unglaublich«, sagte Clevenger.

»Wie ich Billy schon sagte, wir hatten nichts damit zu tun«, wiegelte Heller ab. »Gott hat dieser Frau ihr Sehvermögen zurückgegeben.« Er hielt die Hände hoch. »Er gab mir die hier.« Er ließ die Hände wieder sinken. »Und wenn Billy Neurochirurg werden sollte, dann nur, weil er es immer schon in sich hatte und es nur darauf wartete, dass er dieser Tatsache die Ehrfurcht zuteil werden ließ, die sie verdient.«

Clevenger stimmte dem Inhalt von Hellers Monolog grundsätzlich zu, doch seine Theatralik machte deutlich, dass er noch immer die manische Welle ritt, die ihn in den OP getragen hatte. »Was immer deine Gabe ist, du musst ihr Respekt zollen«, erklärte Clevenger Billy, doch er konnte hören, wie seine Worte vom Nachhall von Hellers Rede übertönt wurden.

»Stimmt genau«, sagte Heller.

»Ich hab beim Zumachen geholfen«, berichtete Billy.

»Fantastisch«, lobte Clevenger.

»Niemand mit einer Leidenschaft für die Chirurgie kann einfach nur zuschauen«, sagte Heller. »Billy hat vier volle Stunden lang Wundhaken gehalten. Ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben. Er hatte sich das Recht verdient, die letzten paar Stiche zu machen.«

»Irgendwie glaube ich nicht, dass dies das letzte Mal war, dass er im OP dabei sein möchte«, bemerkte Clevenger.

»Kein Problem«, erwiderte Heller. »Er hat sich wie ein richtiger Profi benommen. Fähig. Respektvoll. Alle mochten ihn.«

»Ich werd mich mal über das hier hermachen«, verkündete Billy und hielt das Buch hoch. Er sah Heller an. »Danke.«

»Ich danke dir.«

Clevenger sah zu, wie sie sich die Hand gaben.

»Gut Nacht«, sagte Billy zu Clevenger und trollte sich in Richtung seines Zimmers.

»Nacht, Kumpel«, antwortete er. »Hab dich lieb.« Er hatte sich an die Tatsache gewöhnt, dass Billy ihn selten umarmte oder sagte, dass er ihn liebe; der Junge stammte aus einer Familie, in der es einem nur Schmerz eingebracht hatte, wenn man sich verwundbar zeigte. Aber in Hellers Gegenwart spürte er eine besonders große Distanz zu Billy. »Wie wär’s jetzt mit dem Drink?«, fragte er Heller. Er sehnte sich nach einem Drink.

»Wohin gehen wir?«

»Ins Alpine? Es ist sehr bodenständig, aber es ist nur ein kleines Stück die Straße runter.«

»Ich hab mich nicht gerade fein gemacht«, bemerkte Heller.

Sie gingen zu Fuß zum Alpine, einer Spelunke, in der die Theke knapp die Hälfte des Raums einnahm. Als das Trinken noch Clevengers Lebensinhalt war, wirkte die Größe jener Theke passend, sogar tröstlich. Niemand ging für einen Kaffee ins Alpine, oder wegen der Ausstattung – dunkle Holztäfelung, strapazierfähige Auslegware, abgehängte Decke. Die Leute gingen ins Alpine, weil es bloß einen Steinwurf von den Mietskasernen entfernt war, in denen sie hausten, und weil dort ein Bier einen Dollar, ein Gin-Tonic zwei kostete.

Heller bestellte einen Scotch, pur.

»Und was darf’s für Sie sein, Doc?«, fragte der Barkeeper. Er war Anfang vierzig, knapp einsneunzig groß und bestand nur aus Muskeln.

Clevenger zögerte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn anzuweisen, zwei Scotch zu bringen – so leicht wie der erste Schritt von einem sehr hohen Gebäude. Er bestellte eine Diät-Cola.

»Wir haben Sie vermisst«, sagte der Barkeeper.

»Ich habe Sie auch vermisst, Jack«, erwiderte Clevenger.

»Wie man hört, läuft es für Sie ganz gut. Sie haben diesen großen Fall. Mit dem Professor, der sich erschossen hat, oder wie auch immer.«

»Stimmt.«

»Also, nur mal so unter uns Pastorentöchtern: War es Selbstmord oder was?«

»Wir arbeiten noch daran.«

Jack zwinkerte ihm zu. »Ach, Sie halten sich bedeckt. Ich nehm’s Ihnen nicht übel.« Er sah Heller an. »Was soll denn der Pyjama?«

»Er ist Chirurg«, erklärte Clevenger. »Kommt gerade aus dem OP.«

»Zwei Ärzte in diesem Laden«, kicherte Jack. Er schenkte die Getränke aus. »Die geh’n auf mich«, verkündete er.

»Danke«, sagte Heller.

»Betrachten Sie’s als Anzahlung, falls ich einen Leistenbruch oder eine Bilddarmentzündung kriege.«

»Er ist Neurochirurg«, warf Clevenger ein.

»Neuro …«, sagte Jack. »Gehirn.« Er musterte Heller eingehend. »Moment … Moment … Moment mal. Sie warensein Chirurg. Von dem toten Professor.«

Hellers Miene verdüsterte sich. »Stimmt.«

»Jet Heller?«

»Ja.«

»Muss hart gewesen sein, erst all das Getöse über die Lobotomie von dem Burschen, und dann wird ihm das Gehirn weggeblasen.«

»Es war ein schwerer Schlag«, bestätigte Heller.

»Wär ’ne nette Kerbe an Ihrem Halfter gewesen. Tut mir Leid, dass es nicht geklappt hat«, sagte Jack.

»Es ging mir nicht um eine Kerbe an meinem Halfter«, erwiderte Heller.

Jack griff unter die Theke und holte eine Flasche Johnnie Walker Red hervor. »Ja, klar doch. Ich wette, Sie hassen Schlagzeilen.«

Man konnte sehen, dass Heller die Zähne zusammenbiss.

Jack schenkte Hellers Drink ein. »Sie reden hier mit Jack Scardillo. Ich stehe seit elf Jahren hinter dieser Theke.« Er schob ihm das Glas hin. »Genug gesagt?«

»Mehr als genug«, erwiderte Heller und starrte ihn an.

Jack hatte genug Zeit hinter der Theke zugebracht, um eins mit Sicherheit zu wissen – wann ein Gast im Begriff stand, über eben jene Theke zu steigen. Er lächelte und offenbarte dabei zwei fehlende Zähne. »Ich zieh Sie doch nur auf.« Er streckte die Hand aus.

Heller schüttelte sie, aber sein Blick blieb eisig. »Kein Problem«, sagte er.

»Setzen wir uns«, forderte Clevenger Heller auf. »Wir hatten beide einen langen Tag.«

Sie setzten sich an einen Tisch neben dem Fenster, unter einer Neon-Budweiser-Reklame.

»Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen«, sagte Clevenger.

»Ich habe noch nicht genug Abstand dazu, John verloren zu haben, um Witze darüber zu machen«, erklärte Heller. Er deutete mit einem Nicken auf Clevengers Diät-Cola. »Trinken Sie nicht?«

Clevenger konnte Hellers Scotch riechen, konnte ihn förmlich schmecken. »Heute nicht.«

»Gute Entscheidung. Macht es Ihnen was aus, wenn ich trinke?«

»Ganz und gar nicht.«

Heller nahm einen tiefen Schluck von dem Scotch.

Clevenger trank die Hälfte seiner Cola in einem Zug. »Sie haben Ihre Schlacht im OP gewonnen.«

»Ein verdammt gutes Gefühl«, sagte Heller. »Weil ich mich an jede einzelne Niederlage erinnere. Ich bin froh, dass Billys erster Besuch nicht dazugehört hat.« Er trank einen weiteren Schluck. »Wie steht’s mit Ihnen? Werden Sie inzwischen besser mit der Sache mit Grace Baxter fertig?«

»Ich versuche immer noch, es zu verstehen«, gestand Clevenger.

Heller starrte in sein Glas. »Es gibt in der Medizin nur sehr wenige eindeutige Tatsachen«, sagte er.

Clevenger gefiel die Richtung, die die Unterhaltung nahm. Es sah aus, als würde sie wieder zurück zu Snow führen. »In der Psychiatrie, meinen Sie«, sagte er.

Heller blickte auf. »In jedem Fachgebiet. Nehmen Sie die Pathologie. Da haben wir etwas, von dem die breite Öffentlichkeit annimmt, dass die Antwort kristallklar sein müsste. Man nimmt Gewebeproben, legt sie auf Objektträger und betrachtet sie durch ein Mikroskop. Man sollte denken, dass man sagen könnte:Eindeutig ja, es ist Krebs, odereindeutig nein, es ist kein Krebs. Aber so läuft es nicht. Man kann von sehr fähigen Pathologen verschiedene Beurteilungen ein und derselben Probe erhalten. Ich musste manchmal schon Gewebeproben an vier verschiedene Labore schicken, bevor ich wirklich überzeugt war, dass ich es mit Krebs zu tun hatte und nicht mit irgendeinem seltsam aussehenden, gutartigen Tumor. Und selbst dabei habe ich noch immer ein Urteil über ein anderes stellen müssen. Mass Generals gegen Hopkins. Hopkins gegen das NIH. Weil Krankenheiten tatsächlich Spektren sind.«

»Einige«, versuchte Clevenger ihn zu ködern.

»Alle. Schauen Sie sich nur Diabetes an. Es gibt klare Fälle, aber es gibt auch Grenzfälle und subklinische Fälle. Vielleicht hat der Patient Diabetes, vielleicht auch nicht. Man macht einen Blutzuckertest, und der gibt einem ein zweideutiges Ergebnis, also muss man den Nüchtern-Glukose-Wert und die Höhe des glykierten Hämoglobins bestimmen. Vielleicht sollte der Mann behandelt werden, vielleicht auch nicht. Dasselbe gilt für Bluthochdruck. Es gibt jede Menge offensichtliche Fälle, aber die haben nichts mit der wahren Kunst der Medizin zu tun. Die kommt ins Spiel, wenn jemandes Blutdruck für gewöhnlich normal ist, aber nach einer Tasse Kaffee oder mit zu viel Stress plötzlich stark ansteigt – wenn man entscheiden muss, ob eine Erkrankung vorliegt oder nicht.« Er trank seinen Scotch aus.

»Bei Epilepsie ist es das Gleiche«, sagte Clevenger und fühlte für einen flüchtigen Augenblick, wie sich seine eigene Kehle wohlig wärmte. Er sah zu Jack und zeigte auf Hellers leeres Glas.

Heller nickte, sagte aber nichts.

»Ich meine, es muss Menschen mit abnormaler Hirnstromaktivität geben, die nicht das Niveau einer tatsächlichen Epilepsie erreicht«, fuhr Clevenger fort.

»Sicher«, bestätigte Heller. »Zwei, drei Prozent der Leute in dieser Bar würden Spitze-Welle-Komplexe zeigen, wenn wir sie an EEGs anschließen würden.«

Clevenger grinste. »In dieser Bar? Fünf oder zehn Prozent.«

»Deshalb hatte ich ja gehofft, dass Sie über Ihre Schuldgefühle bezüglich Grace Baxter hinweg wären. Vergessen Sie Diabetes, Bluthochdruck und Epilepsie. Es ist schlicht unmöglich, akkurat vorauszusagen, ob jemand an einer tödlichen Depression leidet. Es gibt noch nicht einmal ein Mikroskop dafür. Oder ein EEG. Nichts.«

Jack kam mit einem neuen Scotch an den Tisch und stellte ihn vor Heller. Im Umdrehen klopfte er ihm kurz auf die Schulter.

Heller reagierte nicht.

»Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen«, sagte Clevenger. »Wie war es bei Snow? Was war mit seinem EEG?«

»Was soll damit gewesen sein? Er hatte jede erdenkliche Untersuchung. EEGs, MRTs, PETs.«

»Waren die Ergebnisse eindeutig, oder waren sie Auslegungssache?«

»Sie waren sehr klar«, erklärte Heller. Er griff nach seinem Glas und trank einen Schluck.

»Es war also ein klassischer Fall von Epilepsie«, hakte Clevenger nach.

»Wenn es so etwas wie einen klassischen Fall gibt«, erwiderte Heller. »Er litt an tonisch-klonischen Grand-Mal-Anfällen, begleitet von abnormaler Hirnstromaktivität in mehreren Bereichen seines Gehirns, einschließlich des Temporallappens und des Hippocampus.«

Clevenger trank einen Schluck von seiner Cola und räusperte sich. »Und die Pathologie – die abnormalen Hirnstrommuster – hat die Ethikkommission zufrieden gestellt. Sie haben sich nur wegen der Nebenwirkungen der Operation Sorgen gemacht.«

»Hören Sie, wenn Sie es je mit einer Krankenhauskommission zu tun hatten, dann wissen Sie ebenso gut wie ich, dass jeder erdenkliche Einwand erhoben wird, ob echt oder eingebildet. Unter dem Strich zählte nur eins: Es war Snows Leben. Er hasste diese Anfälle. Er wollte sie loswerden.«

Das ließ die Frage unbeantwortet, ob ein oder mehrere Mitglieder der Kommission angezweifelt hatten, dass die Epilepsie echt war. Clevenger entschied nachzuhaken. »Was hat das EEG tatsächlich gezeigt? Sie nennen esabnormale Hirnstromaktivität. Aber, wie Sie schon sagten, jede Krankheit ist ein Spektrum. Also, wo war Snow auf dem betreffenden Spektrum zu finden? Wenn er nicht solch dramatische tonisch-klonische Muskelzuckungen gehabt hätte, wenn da nicht das auf die Zunge Beißen und das alles gewesen wäre, hätten Sie dann, allein auf dem EEG basierend, Epilepsie diagnostiziert?«

»Aber er hatte sie nun mal«, entgegnete Heller. Er überlegte kurz. »Was wollen Sie wirklich wissen?«

»Wenn ich wüsste, dass Snow in Wirklichkeit unter Pseudoanfällen gelitten hat, dann würde ich seine psychologische Verfassung im Generellen in Frage stellen«, sagte Clevenger.

»Natürlich würden Sie das«, erwiderte Heller. Er lächelte, allerdings mit verkniffenem Gesicht. »Aber das ist es nicht, worauf Sie hinauswollen. Was Sie wirklich wissen wollen, ist, ob ich eine experimentelle Gehirnoperation an John Snow durchgeführt hätte, einzig und allein, um ihn von seinen Beziehungen – seiner Vergangenheit – zu befreien, Epilepsie hin oder her. Um ihm ein neues Leben zu schenken. Stimmt’s?«

Clevenger hatte nicht speziell diese Frage im Sinn gehabt, aber offensichtlich lag sie Heller auf dem Herzen. »Hätten Sie es getan?«

»Möglicherweise.«

»Selbst wenn die Anfälle – Pseudoanfälle – das Ergebnis von Stress gewesen wären?«

»Denken Sie doch nicht immer so strikt schwarzweiß, Frank. Sie sind Psychiater. Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielt, ob die Krankheit ihren Ursprung in seinem Gehirn oder in seiner Psyche hatte. Ihm wären große Teile von beidem entfernt worden. Kaputte Schaltkreise und belastende Beziehungen. Und damit hätte er, wenn alles nach Wunsch verlaufen wäre, in beiderlei Hinsicht symptomfrei sein sollen.«

»Und wie steht es mit einem Patienten, der überhaupt keine Anfälle hat?«, fragte Clevenger. »Wie steht es mit jemandem, der einfach findet, dass sein Leben einen Endpunkt erreicht hat und er einen Ausweg braucht, dass er die ›Reset‹-Taste drücken will.«

»Keine Ahnung. Ein Teil von mir denkt, welches Recht habe ich, diesem Mensch seinen Wunsch zu verweigern?«

Die Antwort überraschte Clevenger. Er hatte Heller als einen Puristen eingeschätzt, jemanden, für den die bloße Vorstellung, sein Skalpell gegen irgendetwas anderes als krankes Gewebe einzusetzen, ein Affront gewesen wäre. »Würde das nicht bedeuten, Gott zu spielen?«, fragte Clevenger.

»Immer noch besser, als den Teufel zu spielen«, entgegnete Heller. Er schmunzelte und leerte seinen zweiten Scotch auf ex. »Die Operation heute war toll. Ehrlich. Die Frau kann wieder sehen. Aber John hätte wiederleben können. Sie war blind. Er war tot.« Er beugte sich vor. »Jemand hat ihn – und mich – dieser Chance beraubt. Was diese Person getan hat, war ebenso schlimm wie die Taten von John Wilkes Booth oder Sirhan Sirhan. Vielleicht schlimmer. Diese Person hat uns alle der Chance auf Wiedergeburt, auf Wiederauferstehung beraubt. In gewisser Hinsicht hat diese Person Christus selbst getötet.«

Vielleicht war Heller tatsächlich wahnsinnig, ging es Clevenger durch den Sinn. »Ich schätze also, Sie werden sich alsbald auf die Suche nach einem anderen John Snow machen.«

Heller schüttelte den Kopf. »So was wie ihn gibt es nur einmal. Er war ein Entdecker. Columbus. John Glenn. Ich glaube nicht, dass es einen anderen Menschen mit seiner psychologischen Stärke und seiner Intelligenz gibt, jemanden, der willens ist, sein Seh- und Sprachvermögen aufs Spiel zu setzen, um von vorn anzufangen. Und sein Gehirn war krank genug, um die Ethikkommission zufrieden zu stellen. Gerade eben ausreichend, aber ausreichend. Eine solche Gelegenheit wird sich mir nie wieder bieten. Es war meine Chance, Geschichte zu schreiben.«

Clevenger war abermals bestürzt, dass Heller Snows Tod tatsächlich als persönlichen Angriff auf sein Erbe betrachtete, von seinem Gott ganz zu schweigen. »Es tut mir Leid« war alles, was ihm als Antwort darauf einfallen wollte.

Diesmal gab Heller Jack selbst das Zeichen zum Nachfüllen. Dann sah er wieder Clevenger an. »Ich habe Ihre Fragen beantwortet, wie wär’s damit, wenn Sie jetzt einige meiner Fragen beantworten?«

»Ich werde es versuchen.«

»Billy hat gesagt, Sie wären in Washington gewesen.«

»Das stimmt.«

»Darf ich fragen, ob diese Reise irgendetwas mit dem Snow-Fall zu tun hatte?«

»Ich habe eine Spur verfolgt«, erklärte Clevenger.

Heller nickte. »Ich habe mit Theresa Snow gesprochen. Sie hat mir von ihrem Verdacht erzählt.«

»Was hat sie gesagt?«

»Sie denkt, dass Collin Coroway ihren Mann umgebracht hat – wegen Vortek und um mit dem Unternehmen an die Börse gehen zu können.«

Snows Witwe versuchte wirklich mit allen Mitteln, ihre Version seines Todes an den Mann zu bringen. »Okay …«, sagte er.

Jack brachte Heller seinen dritten Scotch und Clevenger seine zweite Diät-Cola, dann kehrte er wortlos hinter die Theke zurück.

»Ich habe zwei und zwei zusammengezählt«, fuhr Heller fort. »Vortek und Ihre Fahrt nach Washington. Sind Sie zufällig beim Patentamt gewesen, um sich nach jüngsten Anmeldungen in Snows Namen zu erkundigen?«

»Nein. Aber warum wollen Sie das wissen, wenn ich fragen darf?«, entgegnete Clevenger.

»Als Sie mir erzählt haben, dass John sich wahrscheinlich nicht selbst umgebracht hätte, dachte ich zuerst an ein Verbrechen aus Leidenschaft. Grace Baxter, seine verschmähte Geliebte, außer sich vor Schmerz, tötet meinen Patienten, dann nimmt sie sich selbst das Leben. Schuld und Sühne. Aber Sie kennen sich in diesen Dingen besser aus als ich. Und Sie scheinen von diesem Szenario nicht überzeugt.«

»Ich schließe es nicht aus.«

»Sagt Ihnen Ihr Instinkt, dass Collin Coroway Snow ermordet hat?«

»Mein Instinkt und meine Erfahrung sagen mir beide, dass ich jede Möglichkeit in Betracht ziehen muss.«

Heller trank die Hälfte seines Scotch in einem Zug. »Was sind die anderen Möglichkeiten?«

»Das ist vertraulich«, erwiderte Clevenger.

»Professionelle Höflichkeit, von einem Arzt zum anderen.«

»Helfen Sie mir zu verstehen, warum es Ihnen so wichtig ist, alles über die Ermittlungen zu erfahren.«

Heller fuhr mit einem Finger über den Rand seines Glases. »Sie verstehen es bereits.« Er sah Clevenger in die Augen. »Sie haben Grace Baxter eine Stunde lang erlebt, stimmt’s? Und Sie brennen darauf herauszufinden, wer sie umgebracht hat. Ich weiß, dass es Ihnen nicht nur darum geht, Ihr Gewissen zu beruhigen. Sie tun es, weil Sie finden, dass Sie es ihr schuldig sind, selbst nach nur einer Stunde. Weil sie IhrePatientin war. Das ist eine mystische, unauslotbare Verbindung. Versuchen Sie mal, das jemandem zu erklären, der kein Arzt ist – und noch dazu ein verdammt guter –, und Sie ernten nur Verständnislosigkeit. Habe ich Recht?«

»Ja.«

»Nun, ich habe über ein Jahr mit Snow zusammengearbeitet. Ich habe für ihn meine Karriere aufs Spiel gesetzt. Ich war mehr als nur sein Chirurg. Ich war sein Beichtvater. Und ich war derjenige, der ihn in der Notaufnahme behandelt hat. Ich war derjenige, der die Hand in seine Brust geschoben und sein Herz massiert hat.«

Clevenger sah forschend in Hellers Augen, suchte nach einer Lüge. Doch Heller sah ehrlich erschüttert aus, so als hätte er einen Bruder oder gar einen Sohn verloren. »Was immer ich letztendlich herausfinde, Sie werden nicht abwarten müssen, bis Sie es in der Zeitung lesen«, versprach er ihm. »Ich werde Sie in alles einweihen, sobald ich es kann. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Ich vertraue Ihnen«, sagte Heller. »Und bitte denken Sie an mein Angebot: Wenn Sie mehr Geld brauchen, um tiefer nachzuforschen, müssen Sie es mich nur wissen lassen. Ich bin auch bereit, eine Belohnung auszusetzen, wenn Sie meinen, dass das helfen würde.«

»Ich werde daran denken.«

Heller leerte sein Glas. »Drei Drinks sind genug für mich«, sagte er. »Was meinen Sie? Sollen wir uns auf den Heimweg machen?«

»Können Sie noch fahren?«, fragte Clevenger.

Heller stand auf, stellte sich erst auf ein Bein, dann auf das andere. Er strich mit dem Ballen seines rechten Fußes an seiner linken Wade hinauf, ohne zu wanken. »Alles noch im grünen Bereich. Ich gebe nur ungern zu, wie viele Drei-Scotch-Abende ich in den letzten sechs Monaten hatte. Ich habe praktisch nur für Johns Fall gelebt.«

Heller klang verdächtig wie ein Alkoholiker. »Der Fall ist vorbei«, erklärte Clevenger und stand auf.

»Nein«, widersprach Heller. »Sie müssen noch den finden, der Snow auf dem Gewissen hat. Dann ist es vorbei.«

Clevenger kehrte ein paar Minuten nach Mitternacht in sein Loft zurück. Unter Billys Tür drang kein Lichtschein hervor. Anscheinend war er überGehirn und Rückenmark: Aufbau und Funktion eingeschlafen.

Clevenger ging an den Computer, sah, dass der Bildschirm noch immer leuchtete und mit dem Code oder dem sinnlosen Zeichensalat der letzten VTK-Datei, die er sich angesehen hatte, bedeckt war. Das war komisch; der Computer war so eingestellt, dass sich nach fünf Minuten automatisch der Bildschirmschoner einschaltete. Clevenger streckte die Hand aus und befühlte das Sitzpolster des Schreibtischsessels. Warm.

Er war wütend und enttäuscht. Billy hatte seine Dateien durchgesehen. Er sah abermals zu Billys Tür. Vielleicht war es an der Zeit für eine kleine Unterhaltung darüber, dass man Privatsphäre des jeweils anderen zu respektieren hatte. Vielleicht würde Stubenarrest Billy eine Lehre sein. Doch unvermittelt drängte ein neues Gefühl alle anderen in den Hintergrund. Clevenger fühlte sich wie ein Sieger – er hatte über Jet Heller, über Abraham Kader, ja über die Neurochirurgie selbst triumphiert. Denn während Heller und er im Alpine gesessen hatten, hatte Billy sich offenkundig nicht in die Geheimnisse des Nervensystems eingelesen. Er hatte am Computer gesessen und versucht, Clevenger und seiner Arbeit näher zu kommen. Und obgleich Clevenger Angst hatte, Billy an die Düsternis von Mordfällen zu verlieren, konnte er doch nicht leugnen, dass die Neugier seines Sohnes ihm das Herz wärmte.

Und so klopfte er nicht an Billys Tür oder brüllte, er solle herauskommen, sondern setzte sich in seinen Schreibtischsessel und schloss die Augen, in dem Wissen, dass Billy noch vor wenigen Augenblicken auf eben diesem Platz gesessen hatte.

Begegnungen

Ein Sommertag, fünf Monate zuvor

18 Uhr

Grace Baxter klopfte an der Tür der Suite, unsicher, ob er dort sein würde. Sie hatten dieses Treffen eine Woche zuvor verabredet, aber sie hatte seitdem nichts von ihm gehört, obgleich sie ihn ein Dutzend Mal angerufen hatte. Sie klopfte abermals, wartete einen Moment, dann wandte sie sich zum Gehen um.

Er öffnete die Tür.

Sie drehte sich wieder zu ihm um und war entsetzt von dem, was sie sah. Er war unrasiert, die Augen waren blutunterlaufen und hatten dunkle Ringe. Sein weißes Hemd war zerknittert und schweißfleckig. Grace Baxter trat ein und schloss die Tür hinter sich. »John, was ist los?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Es tut mir Leid.« Er hob den Blick und sah sie an. Sie war atemberaubend in ihrem eng anliegenden schwarzen Etuikleid und den hochhackigen schwarzen Sandaletten. »Ich war nicht …« Er rieb sich die Augen.

Sie nahm seine Hand und führte ihn zu einem mit elegantem Samt bezogenen Zweisitzersofa.

»Ich wollte nicht, dass du mich so siehst«, sagte er.

»Wir hatten abgemacht, nie etwas voreinander zu verbergen.«

Er sah durch sie hindurch. »Die Dinge laufen nicht gut.«

»Welche Dinge.«

Er schüttelte den Kopf. »Einfach nur …«

»Welche Dinge? Bitte, John, sprich mit mir.«

»Mein Verstand«, sagte er und schien sie dabei kaum wahrzunehmen. »Meine Arbeit. Ich stecke in einer Sackgasse.«

Sie beugte sich zu ihm. »Du hast gesagt, es würde helfen, wenn wir einander öfter sähen. Ich treffe mich jeden Tag mit dir, wenn du möchtest.«

Er kniff die Augen zusammen.

Sie führte seine Hand zur Innenseite ihres Oberschenkels, bis seine Finger die Spitze ihres Tangas berührten. »Es ist dir wieder etwas im Weg. Das ist alles. Du hast eine Blockade. Die können wir überwinden.«

Er konnte fühlen, wie warm, wie nass sie war. Und ein Teil von ihm wollte in ihr sein, wollte die Energie anzapfen, die ihm in den letzten sechs Monaten geholfen hatte, so viele kreative Hürden zu überwinden und Vortek Schritt um Schritt der Vollendung näher zu bringen. Doch ihr letztes Zusammensein hatte ihn nicht stärker gemacht, nicht weniger leer. Er war überzeugt, dass selbst sie seine Vorstellungskraft nicht mehr befeuern konnte. Ihm waren die Ideen ausgegangen. Und für John Snow hieß das so viel wie tot zu sein.

Sie beugte sich dichter heran, küsste ihn auf den Mund.

Er spürte ihre Lippen kaum. Er war außerhalb ihrer Reichweite und entglitt ihr immer mehr. Mit einem Mal war ihm schwindelig.

Sie küsste seinen Hals.

Er fühlte, wie sich seine Kopfhaut kribbelnd zusammenzog. Arme und Beine waren steif. Er schaute Grace Baxter an, sah sie drei Meter entfernt auf dem Zweisitzersofa sitzen. Doch er fühlte noch immer die Wärme ihrer Lippen. Wie konnte das sein?, wunderte er sich.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er hörte die Worte wie ein entferntes Echo. Und da wusste er, was gleich passieren würde. Der unaussprechliche, undenkbare Verrat seines kurzschließenden Gehirns. Der Verlust aller Kontrolle, allen Lichts, aller Liebe. Er fühlte, wie er vor ihr zurückwich. Oder fiel er?

»John«, sagte sie. »Was ist mit dir? Mein Gott!«

Er beobachtete alles, was geschah, als wäre er ein Dritter im Zimmer, sah, wie sich seine Augen verdrehten, sich sein Hals verrenkte, seine Glieder zitterten, sich sein Rücken verbog wie ein Lappen, der ausgewrungen wird. Er sah sein groteskes Aussehen, gespiegelt im Entsetzen in Graces Gesicht. Und trotzdem, selbst während sich seine Kiefer wie Stahlzwingen schlossen, selbst als er das Blut schmeckte, das aus seiner Zunge strömte, sah er, wie sie die Hände nach ihm ausstreckte, fühlte er, wie sie fest die Arme um ihn schlang.

Er erwachte auf dem Fußboden, in ihren Armen. Sie weinte und wiegte ihn wie ein Baby. Er sah zu ihr auf.

»John?«, sagte sie und streichelte seine Wange. »Es ist alles in Ordnung. Es wird alles wieder gut.«

Er wollte etwas sagen, aber sein Mund fühlte sich an, als wäre er voller Rasierklingen. Seine Hose klebte an seiner Haut. Er hatte sich nass gemacht.

»Sag nichts«, sagte sie. »Du hast dir auf die Zunge gebissen. Versuch nicht zu sprechen.«

Er lag stumm da, noch immer benommen, und sah sie an.

Sie wiegte ihn weiter. »Du darfst dir das nicht länger antun«, sagte sie. »Hast du mich verstanden? Du musst dieses Projekt aufgeben. Vergiss es. Du kannst es ja in einem Jahr wieder aufnehmen, oder in fünf, oder nie. Es spielt keine Rolle.«

Er spürte ihre Tränen auf seinem Gesicht.

»Es ist doch nur eine Idee«, sagte sie. »Du darfst dich nicht davon kaputtmachen lassen. Ich werde das nicht zulassen. Ich liebe dich.«

Er fand es merkwürdig, dass er das wahre Ausmaß ihrer Hingabe in seiner finstersten Stunde erfahren sollte, fand es seltsam, dass sie ihn trotz seines Zusammenbruchs liebte. Doch ein anderer Teil von ihm wusste, dass er dieses Geschenk niemals auf andere Weise erlangt hätte. Denn jetzt war er sich absolut sicher, dass sieihn liebte, nicht sein Gehirn. John Snow. Den Mann, nicht die Maschine. Und so wie reine, bedingungslose Liebe wirklich heilen, wirklich inspirieren kann, wusste er tief in seinem Herzen, dass er den Kampf, zu erschaffen, was so viele andere für ein bloßes Hirngespinst hielten, niemals aufgeben würde. Denn in diesem Moment in ihren Armen – unrasiert, blutend, kaum Herr seiner Glieder – schien absolut alles erreichbar.