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14. Januar 2005
Clevenger traf kurz vor acht Uhr vor Vania O’Connors Haus ein. Es handelte sich um eine große Villa im Kolonialstil in einer ruhigen Seitenstraße von Newburyport. Er parkte und stieg aus. Es war zwei Grad über null. Aber bei dem Wind kam es ihm wie minus zwanzig Grad vor. Die Luft glitzerte von hauchzarten Schneeflocken.
O’Connors Frau, eine hübsche Blondine mit einem brillanten Kopf für Zahlen, setzte gerade aus der Einfahrt zurück. Sie arbeitete als Controller für einen in Boston ansässigen Hedgefonds. Sie ließ das Fahrerfenster herunter. »Vania wartet schon auf dich«, rief sie Clevenger zu. »Er hat gesagt, du bringst Kaffee mit.«
Clevenger hielt den Becher hoch. »Groß, mit Sahne, vier Stück Zucker.«
»Er kann es brauchen. Er war fast die ganze Nacht auf. Könntest du ihn bitte daran erinnern …?«
»Dass er den Nachtisch zum Montessori-Kindergarten bringt. Ich weiß längst Bescheid.«
Sie lächelte, kurbelte das Fenster wieder hoch und fuhr davon.
Clevenger ging den Steinweg entlang, der zu der äußeren Kellertür an der Seite des Hauses führte. Er klopfte und zog sie auf. »Vania?«
»Gestern war ich’s noch«, antwortete O’Connor.
Clevenger stieg die schmale Betontreppe zu O’Connors Reich hinab, sah, dass er über eine Tastatur gebeugt dasaß und tippte. Der gleißende Schein des Monitors vor ihm war das hellste Licht im Raum. Clevenger war schon gut ein Jahr nicht mehr hier gewesen, doch die einzige Veränderung war, dass der Keller jetzt mit noch mehr Computern, Büchern und Software voll gestopft war, die sich auf jeder verfügbaren Oberfläche türmten.
Clevenger trat hinter O’Connor und sah auf den Computerbildschirm, der mit Zahlen, Buchstaben, Asterisken, Pfeilen und Et-Zeichen übersät war. Er stellte den Kaffee neben die Tastatur. »All das bedeutet tatsächlich etwas?«, fragte er.
»Das ist das Problem. Im Moment will es einfach keinen Sinn ergeben.« Er griff nach dem Becher, nahm den Deckel ab und trank einen Schluck.
»Scheint ansteckend zu sein.«
O’Connor lächelte ihn an. »Du klingst müde, Mann.« Er streckte ihm die Hand hin.
Clevenger schüttelte sie. »Und du siehst müde aus.« Das stimmte nicht. O’Connor sah energiegeladen aus, jünger als vor einem Jahr.
»Wie geht’s Billy?«
»Gut.«
»Vergiss nie, dass ich eine falsche Programmierungszeile von der anderen Seite des verdammten Zimmers aus erkennen kann«, sagte er und sah Clevenger forschend an. »Was ist los?«
»Nichts ist los. Er ist eine ständige Herausforderung. Das ist los.«
»Hättest du dir vorstellen können, ein Kind aufzunehmen, das keine Herausforderung gewesen wäre?«
Clevenger überlegte. »Nein.«
»Siehst du. Ein Kind, bei dem alles glatt läuft, wäre in deinem Fall die reinste Verschwendung.«
O’Connor hatte Recht. Aber Clevenger fragte sich, warum es so sein musste. Warum hatte ihn das Überleben seines eigenen Kindheitstraumas so unlösbar an andere kaputte Menschen gekettet? »Aber es wäre trotzdem nett, wenn wenigstens ab und zu etwas glatt laufen würde.«
»Glaub mir, du würdest es nicht ertragen. Du bist ein Vollzeit-Heiler. Ob’s dir gefällt oder nicht.« Er deutete mit einem Nicken auf die Disketten in Clevengers Hand. »Was für Probleme haben wir denn, Partner?«
»Das sind die Dateien, von denen ich dir erzählt habe. Sie stammen von John Snows Laptop. Dem Erfinder.«
»Der Typ, der ermordet wurde oder sich selbst erschossen hat oder was auch immer.«
»Ja.«
»In den Nachrichten berichten sie ja über kaum was anderes.« Er deutete abermals mit einem Nicken auf die Disketten. »Du denkst doch nicht, dass er wegen dem, was auf den Dingern da ist, umgebracht wurde, oder?«
»Keine Ahnung. Aber ich habe keiner Menschenseele erzählt, dass ich sie dir gebe.« Er sah, dass O’Connors Miene etwas von ihrer Unbekümmertheit verlor. »Du brauchst es nicht zu tun.«
O’Connor starrte einen Moment lang auf die Disketten. »Ich hab bereits deinen Kaffee getrunken«, sagte er. »Erzähl mir alles.«
Clevenger erzählte ihm von Vortek.
»Wir reden hier also von Technik, Physik, Kraft, Impuls. All dies Zeug.«
»All dies Zeug.«
»Dann lass uns mal eine einlegen.«
O’Connor schob die Floppydisk in das Laufwerk seines Computers und rief das Verzeichnis auf. Er öffnete VTK1.LNX und starrte lange stumm auf das Feld aus Zahlen und Buchstaben. »Gut«, sagte er schließlich.
»Verstehst du das?«
»Nein. Aber ich kann dir sagen, warum. Es ist stark verschlüsselt, C++, Visual Basic Language.«
»Du meinst, noch verschlüsselter als deine Erklärung?«
O’Connor lachte.
»Kannst du es entschlüsseln?«, fragte Clevenger.
»Wenn ich Glück habe. Aber selbst wenn, einhundertsiebenundfünfzig Dateien brauchen eine Weile.«
»Und Geld.«
»Das auch. Genug, um es unter die Leute zu bringen. Ich kenne einen ehemaligen NASA-Typen, der jetzt auf einer Farm in Rowley lebt. Ich brauche möglicherweise seine Hilfe bei einigen der Codes.«
»Was immer du brauchst«, sagte Clevenger. »Aber an deiner Stelle würde ich bei diesem Typen nicht gleich alle Karten auf den Tisch legen. Wie ich schon sagte, ich weiß nicht, ob Snow für das gestorben ist, was in diesen Dateien steht. Und ich kenne deinen Freund nicht – und weiß auch nicht, wen er kennt.« Er griff in die Tasche und gab O’Connor zwanzig Einhundert-Dollar-Noten.
»Damit lässt sich schon mal ein Anfang machen«, sagte O’Connor. »Aber ich brauche noch mehr.«
»Betrachte das hier als Vorschuss. Das ist alles, was ich im Moment bei mir habe.«
»Kein Geld«, winkte O’Connor ab. »Informationen. Snows Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer, die Geburtsdaten seiner Kinder, sein Hochzeitstag. Manche Leute benutzen solche Angaben als Schlüssel für die codierten Daten.«
»Ich besorge dir so viel, wie ich kann.«
»An deiner Stelle würde ich mich in Acht nehmen, Frank«, sagte O’Connor und studierte weiter den Bildschirm. »Snow hat sich große Mühe gegeben, die Leute davon abzuhalten zu sehen, was immer sich hinter diesem Code verbirgt. Es mag ja vielleicht niemand wissen, dass ich diese Disketten habe, aber du solltest besser nie vergessen, dass andere wissen, dass du sie hast.«
Clevenger fuhr zurück nach Boston, um im Suffolk-County-Gefängnis mit Kyle Snow zu sprechen. Er sah, dass North Anderson sein Handy angerufen hatte, und rief ihn zurück.
Anderson ging ran. »He, Frank.«
»Irgendwas Neues?«, fragte Clevenger.
»Coroways Geschichte stimmt, zumindest teilweise. Der Parkhauswächter und die Kassiererin in der Cafeteria erinnern sich beide an ihn.«
»Und was ist der Teil, der nicht stimmt?«
»Ich habe mit dem Fahrer desBoston Globe-Lieferwagens gesprochen, mit dem er zusammengestoßen ist. Ein Bursche namens Jim Murphy. Um die dreißig, fünfunddreißig. Er sagt, dass Coroway außer sich war, völlig aufgelöst, obwohl es im Grunde nicht mehr als ein Blechschaden war. Coroway wollte ihm Geld geben, damit er den Schaden nicht seiner Versicherung meldet. Fünfhundert Dollar.«
»Da wäre er nicht der Erste, der das tut«, hielt Clevenger dagegen. »Und Coroway sagt, er wäre in Eile gewesen. Er musste seinen Flieger erwischen.«
»Klar. Aber Murphy fühlte sich richtig unter Druck gesetzt. Er hat ihm gesagt, dass er das nicht machen könnte, weil es doch einGlobe-Lieferwagen war und so, aber Coroway wollte einfach kein Nein akzeptieren. Er hat sein Angebot auf einen Riesen erhöht und hat keine Ruhe gegeben, bis Murphy schließlich die Polizei angerufen und den Unfall angezeigt hat. Coroway ist weitergefahren, bevor der Streifenwagen gekommen ist.«
»Interessant.«
»Also, was machen wir jetzt?«, wollte Anderson wissen.
»Wir müssen herausfinden, ob Coroway beim Patentamt in Washington irgendwelche Urheberrechte angemeldet hat«, sagte Clevenger. »Ich will wissen, ob Vortek wirklich ein Fehlschlag war oder nicht.« Er sah in den Rückspiegel und entdeckte rund fünfzehn Meter hinter sich einen dunkelblauen Crown Victoria. Er dachte, er habe denselben Wagen schon einmal gesehen, als er auf der Route 95 nach Newburyport gefahren war. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass jemand ihn den ganzen Weg von Chelsea aus beschattet hatte. Er wechselte auf die linke Spur und beschleunigte auf fünfundsiebzig Meilen pro Stunde.
»Sind Erfindungen fürs Militär überhaupt aufgeführt?«, fragte Anderson.
»Lass es uns herausfinden«, sagte Clevenger. Er erinnerte sich an Jet Hellers Frage, ob er in Washington gewesen wäre, um mit den großen Rüstungsunternehmen zu reden. »Außerdem wäre es nett zu wissen, ob Coroway die Lizenzen für Vortek an Boeing oder Lockheed oder sonst jemanden verkauft hat.« Der Crown Vic hatte nicht die Spur gewechselt, aber er hielt mit Clevengers Tempo mit. Clevenger zog quer über drei Spuren, um die nächste Ausfahrt zu nehmen und seine Paranoia zu besänftigen.
»Ich besorge die Namen der Vorstandsmitglieder der größten Luftfahrtunternehmen«, sagte Anderson. »Wir können sie mit unseren Kontakten vergleichen, um zu sehen, ob sich da irgendein Ansatzpunkt findet. Vielleicht kann ja einer meiner Freunde von Nantucket helfen.«
Anderson war Polizeichef von Nantucket gewesen, bevor er sich mit Clevenger zusammengetan hatte. »Klasse. Ich rufe dich an, wenn ich mit Kyle Snow gesprochen habe. Ich bin gerade auf dem Weg zum Gefängnis.« Er nahm die Ausfahrt. Der Crown Vic folgte ihm.
»Gut.«
»Bleib mal kurz dran. Ich glaube, ich werde beschattet«, sagte Clevenger.
»Wo bist du?«
»In der Nähe von Newburyport.«
»Hast du die Disketten bei O’Connor abgegeben?«
»Ja. Kannst du jemanden von der Polizei in Newburyport dazu kriegen, an seinem Haus vorbeizuschauen? Jackson Way fünfundfünfzig. Sie könnten mir dorthin gefolgt sein.«
»Wird gemacht. Bleib auf dem Highway. Verlass ihn auf gar keinen Fall.«
»Schon zu spät. Ich bin gerade in Georgetown abgefahren. Route 133.«
»Fahr wieder auf die 95. Ich ruf dich gleich wieder an.« Er legte auf.
Clevenger hörte eine Sirene hinter sich. Er schaute in den Rückspiegel und sah ein rotierendes Blaulicht auf dem Armaturenbrett des Crown Vic. Er konnte Umrisse eines männlichen Fahrers und eines ebenfalls männlichen Beifahrers ausmachen. Er fuhr an den Straßenrand, zog seine Pistole aus dem Halfter und schob sie unter seinen Schenkel.
Der Fahrer blieb hinter dem Lenkrad sitzen. Der Beifahrer, ein hoch gewachsener Mann Mitte fünfzig mit schütterem Haar und Brille kam an sein Fenster.
Clevenger ließ es herunter.
»Dr. Clevenger.«
»Wer will das wissen?«
»Paul Delaney, FBI.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Sie hätten mein Büro anrufen und sich einen Termin geben lassen können.«
Delaney lächelte. »Tut mir sehr Leid. Ich muss Ihren Wagen durchsuchen, Doktor.«
»Nicht ohne Durchsuchungsbefehl.«
»Habe ich.« Delaney griff unter sein Jackett. Bevor Clevenger sich rühren konnte, drückte die Mündung einer Pistole gegen seinen Nacken. »Haben Sie Augen im Hinterkopf?«, fragte Delaney. »Dann lesen Sie mal meinen Durchsuchungsbefehl.« Er nickte in Richtung des Crown Vic.
Einen Augenblick später ging die Beifahrertür von Clevengers Pick-up auf, und Delaneys Partner, ein dicker Mann von mindestens einsachtzig, lehnte sich ins Wageninnere und fing an, unter den Sitzen und im Handschuhfach zu wühlen. Er hievte sich mühsam auf den Beifahrersitz. »Ich muss Sie abtasten, Doc«, verkündete er.
Clevengers Handy klingelte. Er warf einen Blick auf die Rufnummernanzeige. North Anderson.
»Wir sind in null Komma nichts fertig«, erklärte Delaney. »Sie können zurückrufen.«
Der Dicke tastete Clevengers Brust, Arme und Beine ab. Er fand die Pistole und hielt sie seinem Partner hin.
»Leg sie einfach ins Handschuhfach«, wies ihn sein Partner an.
»Wenn Sie mir sagen, wonach Sie suchen, könnte ich es Ihnen vielleicht geben«, sagte Clevenger. »Wir könnten uns dann diese ganze Kojak-Nummer sparen.«
»Die Computerdisketten. Man hat Sie Ihnen irtümlicherweise gegeben.«
Clevengers Handy fing abermals an zu klingeln.
»Und wessen Irrtum war das?«
»Detective Coadys«, erwiderte Delaney. »Amateurhaft. Sie hätten an das FBI übergeben werden sollen.« Er deutete mit einem Nicken auf Clevengers Handy. »Gehen Sie ran, wenn Sie wollen. Vielleicht braucht Billy Sie.«
Clevenger wusste, wie bekannt sein Sohn war, aber seinen Namen aus Delaneys Mund zu hören wollte ihm nicht gefallen. »Wenn Sie meinem Sohn drohen wollen, dann sollten Sie besser befugt sein, den Abzug zu drücken.«
Delaney zuckte mit keiner Wimper. »Entschuldigen Sie. Das hier hat nichts mit Ihrem Sohn zu tun. Es tut mir Leid, dass ich ihn erwähnt habe. Aber um Ihre Frage zu beantworten, ich bin befugt, den Abzug zu drücken, wenn Sie sich der Durchsuchung oder der Festnahme widersetzen.«
Das Klingeln des Telefons verstummte, dann fing es von neuem an.
»Ich schätze, diese Dateien sind wohl ziemlich wichtig«, sagte Clevenger. »Ich habe sie nicht.« Er deute mit einem Nicken auf das Handy. »Darf ich? Das ist jetzt Billy.«
»Machen Sie nur.«
Clevenger nahm das Gespräch an.
»Frank?«, sagte Anderson.
»Fünf blaue Disketten. Neben meinem Computer im Loft. Hol …« Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, als Delaney ihm den Knauf seiner Pistole über den Hinterkopf zog. Dann wurde alles schwarz.
Er erwachte fröstelnd und zusammengesackt auf dem Beifahrersitz seines Pick-up in einer menschenleeren Ecke des Parkplatzes eines Shaw’s-Supermarktes am Georgetown-Plaza-Einkaufszentrum. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand zum Volleyballspielen benutzt. Er strich sich mit der Hand über den Schädel, fühlte etwas Klebriges und sah auf seine Finger. Er blutete. Delaney, oder wie immer er wirklich hieß, hatte ihn mit einem Schlag seiner Pistole außer Gefecht gesetzt. Er sah auf die Uhr. 9 Uhr 40. Er war rund zwanzig Minuten bewusstlos gewesen. Er suchte nach seinem Handy, konnte es aber nicht finden.
Er stieß die Tür des Pick-up auf und taumelte zu dem Münzfernsprecher vor Shaw’s. Er steckte drei Quarter in den Schlitz und wählte Andersons Nummer.
»Wo bist du?«, fragte Anderson.
»Georgetown Plaza. Sie haben mich k.o. geschlagen, mich in meinem Wagen hergefahren und hier abgestellt. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut. Wie’s aussieht, hatten sie drei Teams. Eins hat sich das Loft vorgenommen, bevor ich hingekommen bin, und hat sich die Disketten gegriffen. Deinen Computer auch.«
»Ist mit Billy alles in Ordnung?«
»Ja. Ich hab sein Handy angerufen. Er hat das Loft gleich nach dir verlassen.«
»Was ist mit Vania?«
»Sie müssen dich den ganzen Weg bis zu seinem Haus beschattet haben. Sie haben seine gesamte Soft- und Hardware mitgenommen, einschließlich der Disketten. Aber ihm ist nichts passiert – körperlich. Er hat gerade seine kleine Tochter in den Kindergarten gebracht, als sie sein Haus auseinander genommen haben.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er hat zusammengepackt und ist Segeln gegangen.«
»Ach, komm schon.«
»Ehrlich. Der Bursche muss so ’ne Art Zen-Meister sein. Er hat gesagt, es gäbe nicht viel, was er tun könnte, bis das FBI ihm sein Eigentum zurückgibt. Er ist noch immer auf dem Wasser.«
»Wo bist du?«
»Im Büro. Sie sind hierher gekommen, nachdem sie im Loft waren.«
»Haben Sie die Computer mitgenommen?«
»Die Computer. All unsere Disketten. Sie haben die Akten durchgesehen, aber anscheinend nichts Interessantes gefunden. Sie wollten auch Kims BlackBerry haben, aber sie hat ihnen recht unmissverständlich gesagt, dass sie sich das abschminken können. Sie haben einen Blick darauf geworfen, und dann den Schwanz eingezogen.«
»Ich kann es ihnen nicht verübeln«, bemerkte Clevenger. Er schmunzelte unwillkürlich, was einen scharfen Schmerz von seinem Schädelansatz in die Stirn schießen ließ. Er schloss die Augen.
»Bist du noch dran?«
»Ich bin noch dran.«
»Kannst du fahren, oder soll ich hinkommen und dich abholen?«
»Ich kann fahren. Ich werde mir Coady vorknöpfen. Er muss gewusst haben, dass das passieren würde. Danach steht immer noch mein Gespräch mit Kyle Snow im Suffolk-County-Gefängnis an.«
»Ich kümmere mich weiter um die Namen der Vorstandsmitglieder und den ganzen Rest.«
»Warum treffen wir uns nicht nachher im Büro? Passt dir ein Uhr?«
»Bestens.«
Der wachhabende Sergeant des Polizeipräsidiums brachte Clevenger zu Coadys Büro und verschwand, als Coady hinter dem grauen Metallschreibtisch aufstand, der sich förmlich unter Ermittlungsakten bog.
Clevenger trat vor den Schreibtisch. In seinem Schädel hämmerte es. »Wussten Sie, dass das passieren würde?« Er klammerte sich an die Schreibtischkante, um sich Halt zu geben.
»Obich es wusste?«
»Haben Sie mich dazugeholt, um mich auf Abstand zu halten? Haben Sie sich Sorgen gemacht, dass Theresa Snow mich anheuern könnte, um den Fall richtig zu untersuchen?«
Coady antwortete nicht.
»Hat jemand Sie bezahlt?«, setzte Clevenger nach. »Coroway?«
Coady blitzte ihn wütend an. »Sie haben zu lange mit Verrückten zu tun gehabt, das muss abgefärbt haben.«
»Wann haben Sie das FBI dazugerufen?«
An Coadys Hals zeigten sich rote Flecke. »Ich bin von Anfang an ehrlich mit Ihnen gewesen. Wie können Sie es wagen …?«
»Warum versuchen Sie nicht noch mal, mir die Doppelselbstmord-Theorie zu verkaufen? Oder vielleicht können Sie sich ja auch mit einem Mord-Selbstmord abfinden.«
»Ich versuche nicht, Ihnen irgendetwas zu verkaufen. Was für eine Show veranstalten Sie hier eigentlich? Wenn überhaupt, dann haben Sie mich verraten und verkauft.«
»Klar doch. Ich untergrabe Ihre grandiosen Ermittlungen.«
»Ich bin hier nicht derjenige mit Kontakten in Washington«, wütete Coady.
»Wovon, zum Teufel, reden Sie?«
»Sie wissen genau, wovon ich …« Er verstummte und sah zur Tür.
Clevenger drehte sich um, und es verschlug ihm augenblicklich die Sprache. In der Tür stand die wunderschöne Whitney McCormick, die forensische Psychiaterin des FBI, die Frau, die alles aufs Spiel gesetzt hatte, um mit ihm zusammen den Highway-Killer, alias Jonah Wrens, zu fassen. Die Frau, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchte.
Coady ging an ihr vorbei hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich.
»Ich habe North gefragt, wo ich dich finden kann«, erklärte Whitney McCormick mit sanfter, fast verletzlicher Stimme. »Er musste mir versprechen, dir nichts zu sagen.«
»Hat er auch nicht.« Er konnte den Blick nicht von ihr losreißen. Sie war sechsunddreißig, schlank, hatte lange, glatte blonde Haare und dunkelbraune Augen. Jeder hätte sie als hübsch beschrieben. Doch für Clevenger war sie mehr als schön. Sie war der Schlüssel zu etwas in ihm, das normalerweise eingeschlossen war.
Er bemerkte, dass sie den gleichen blassrosa Lippenstift trug wie bei ihrer ersten Begegnung vor einem Jahr. Er erinnerte sich daran, wie erstaunt er an jenem Tag gewesen war, dass sie nicht ein Quäntchen ihrer Weiblichkeit aufgab, während sie ihm eine Einführung in das Blutbad gab, das Wrens auf seinen Streifzügen kreuz und quer durchs Land hinterlassen hatte.
»Ich arbeite jetzt wieder fürs FBI«, sagte sie. »Seit einem Monat.«
Whitney hatte als Leiterin in der forensischen Psychiatrie gekündigt, nachdem ihr direkter Vorgesetzter, ein Mann namens Kane Warner und der Direktor der Abteilung für Verhaltensforschung des FBI, herausgefunden hatte, dass sie und Clevenger eine Affäre hatten, während sie auf Wrens Fährte waren.
»Derselbe Posten?«, fragte Clevenger.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Kanes alten Job.«
»Ich bin beeindruckt.« Er fragte sich, ob Whitneys Vater, ein Ex-Senator, irgendetwas damit zu tun hatte, dass sie den Posten des Mannes übernahm, der sie unter Druck gesetzt hatte. »Gehört es zu den Aufgaben deines neuen Jobs, mir ein bisschen Therapie anzubieten, nachdem man mich mit einem Pistolenknauf davon abgehalten hat, meine Arbeit zu tun?«
»Ich bin nicht im Auftrag des FBI hier«, sagte sie.
Er nickte. Es wäre so leicht gewesen, zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Ihre Anziehungskraft auf ihn war unwiderstehlich. Sie gab ihm Halt. Sein Puls verlangsamte sich in ihrer Gegenwart. Seine Ängste in Bezug auf die Welt und seinen Platz darin verflüchtigten sich. Er dachte an seinen ehemaligen Professor John Money, an dessenLovemap-Theorie. Vielleicht war Whitney seineLovemap.
Doch selbst eineLovemap kann nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Zum Beispiel die Tatsache, dass Whitney ihrem Vater so nahe stand, dass möglicherweise kein Platz für wahre Intimität mit einem anderen Mann blieb. Oder die Tatsache, dass sie wieder für eine Vollstreckungsbehörde arbeitete, mit der Clevenger schon seit langem auf Kriegsfuß stand. Und vor allem war da die Tatsache, dass Clevenger sein Leben dem Aufziehen von Billy Bishop gewidmet hatte, was ihm reichlich wenig Zeit für Romantik ließ.
»Also, warum bist du dann hergekommen?«, fragte er.
»Um es einfacher für dich zu machen.«
»Wie?«
»Zuerst einmal, indem ich dich dazu bringe, die Disketten zu vergessen.«
»Ich dachte, du wärst nicht im Auftrag des FBI hier.«
»Ich bin auf eigenen Wunsch hier«, erwiderte sie. »Niemand hat mich geschickt. Aber du solltest wissen, dass diese Disketten konfisziert wurden, weil es dabei um die nationale Sicherheit geht. Das ist nichts Persönliches.«
»Es ist nicht so einfach, einen Schlag auf den Kopf nicht persönlich zu nehmen.«
Sie lächelte. »Was ich zu sagen versuche, ist, dass niemand dich davon abhalten will, John Snows Mörder zu finden. Darum ging es nicht. Es ging nur darum, ein Leck zu stopfen.«
»Haben sie auch die Disketten aus der Asservatenkammer hier im Präsidium mitgenommen?«
»Diese Disketten hat es nie gegeben. Du wirst sie nie wieder sehen oder von ihnen hören. Weder die Disketten noch das Tagebuch.«
Clevenger hatte seine Kopie des Tagebuchs neben seinem Computer liegen lassen. Zweifellos hatte das FBI sie auch mitgenommen. »Welche Rolle spielst du bei dieser Sache?«, fragte Clevenger. »Eine Mordermittlung in Boston würde gewöhnlich nicht das Interesse der Abteilung für Verhaltensforschung in Quantico erregen.«
»Ich habe damit nichts zu tun, mein Dad allerdings schon.«
»Ah …« Senator McCormick war ein integraler Bestandteil der Geheimdienstbranche gewesen, bevor er sich für das Senatorenamt zur Wahl gestellt hatte. Anscheinend war er es immer noch. »Warum überrascht mich das nicht?«, bemerkte Clevenger spitz.
»Fang jetzt nicht damit an. Ich kann gut darauf verzichten, dass du meinen Psychoanalytiker spielst.«
»Was, wenn ich diese Disketten brauche, um meinen Mordfall aufzuklären?«
»Wir reden hier von Raketentechnologie, Frank. Ein Haufen schwer verschlüsselter Daten. Mathematische Gleichungen. Welche Rolle können die spielen?«
»Keine Ahnung. Und gerade das macht mir Sorgen.«
»Dann mach dir Sorgen«, erwiderte McCormick. »Aber hak es ab.«
»Sonst …?«
»Glaub mir, du solltest dich raushalten, wenn es um die nationale Sicherheit geht. Erst recht heutzutage.«
Das war eine ziemlich deutliche Warnung. »Und dir hat niemand aufgetragen, mir das zu sagen?«
»Nein. Du hast bereits einen Schlag auf den Kopf einstecken müssen. Ich möchte dir den Ärger ersparen, auch noch mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.«
»Schon verstanden«, sagte er.
Sie sah ehrlich besorgt aus, dass er ihren Rat in den Wind schlagen würde.
»Ich habe dich schon verstanden«, versicherte er. »In Ordnung?«
Sie nickte.
»Also, was meinst du? Bist du heute Abend noch hier? Wir könnten uns zu einem verspäteten Abendessen verabreden.«
»Ich bin hier, wenn du es möchtest.«
»Neun Uhr? Ich möchte erst sicherstellen, dass Billy zu Hause ist und alles hat, was er braucht.«
»Ist er dieser Tage um neun zu Hause?«
»Fast nie. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.«
»Gut für dich – und für ihn.«
»Wo soll ich dich abholen?«
»Ich werde mir ein Zimmer im Four Seasons nehmen.«
Clevenger musste unwillkürlich schmunzeln.
»Was ist?«
»Nichts. Ich werde uns einen Tisch im Aujourd’hui reservieren.«
Sie standen einen Moment lang schweigend da. Schließlich kam Whitney auf ihn zu, blieb einen Schritt vor ihm stehen. »Bis nachher dann«, sagte sie.
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Ihr Duft brach den letzten Rest seines Widerstands. Er schloss sie in die Arme.
Clevenger fand Coady an einer alten Kaffeemaschine vor dem Vernehmungszimmer, wo er sich gerade einen Becher Kaffee einschenkte. »Ich möchte mich für das entschuldigen, was ich in Ihrem Büro gesagt habe«, erklärte er. »Wie’s aussieht, sind wir da beide in etwas hineingeraten, das sich unserer Kontrolle entzieht.«
»Das werden wir noch sehen«, erwiderte Coady und rührte drei Päckchen Süßstoff in seinen Kaffee.
»Soll heißen?«
Coady lehnte sich gegen den gesprungenen Resopaltisch. »Scheiß-FBI«, schimpfte er. »Die haben dieses Police Department schon viel zu lange überfahren, wann immer es ihnen gefällt. Ich kann einfach nicht glauben, dass das immer noch passiert.«
»Und was wollen Sie dagegen unternehmen?«
»Ich ziehe jedenfalls nicht den Schwanz ein, so viel steht mal fest.« Er sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand in Hörweite war. »Es gibt da ein paar Dinge, die Sie wissen sollten.«
»Schießen Sie los.«
»Kyle Snow wurde an dem Morgen, an dem sein Dad erschossen wurde, um drei Uhr zehn in der Bostoner Innenstadt gesehen. Er hatte zehn Oxycontin-Tabletten von seinem Dealer gekauft.«
»Woher wissen Sie das?«
»Kyle hat den Dealer verpfiffen, als ich ihm damit gedroht habe, dass ich ihn den Rest seiner Bewährungsstrafe im Knast absitzen lassen würde. Ich hab dem Burschen einen Besuch abgestattet – ein College-Junge von der Bostoner Uni. Konnte es gar nicht abwarten, zu singen. Hat mir erzählt, was er Kyle verkauft hat und wann.«
»Wie können Sie sicher sein, dass er Ihnen die Wahrheit gesagt hat?«
»Er hat ihm die Tabletten in dem ›Store 24‹ an der Ecke Chestnut und Charles verkauft. Kyle ist auf dem Band der Überwachungskamera zu sehen, wie er hinterher ein Sandwich und einen Karton Milch kauft.«
»Es gibt tatsächlich Leute, die deren Sandwiches essen?«
»Sie kaufen sie. Ob sie wirklich den Mut haben, sie zu essen, weiß ich nicht.«
»Damit wissen wir, dass er rund vier Blocks vom Tatort entfernt war, anderthalb Stunden bevor der Schuss gefallen ist«, fasste Clevenger zusammen.
Coady nickte. »Die zweite Sache: Ich hole heute zu Geschäftsschluss George Reese zur Vernehmung aufs Präsidium. Ohne Vorwarnung. Das sollte diese FBI-Knaben aufhorchen lassen. Ich leg ihm Handschellen an und schleif ihn her. Haben Sie Zeit?«
Das war ein ganz neuer Mike Coady. Manchmal muss man einen Menschen bis an seine Grenzen treiben, um herauszufinden, was wirklich in ihm steckt. »Das brauchen Sie nicht zu fragen«, antwortete Clevenger.
»Die Säcke kommen aus Washington her und nehmen sich einfach Beweisstücke von meinem Mordfall? Ohne mich zu informieren? Ohne jeden Respekt? Wenn ich einmal zulasse, dass sie so was mit mir machen, kann ich mir bald selbst nicht mehr ins Gesicht sehen.«
»Langsam machen Sie mir Angst.«
»Warum das?«
»Sie denken schon fast genauso wie ich.«