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8 Uhr 35
Grace Baxter, Besitzerin einer ambitionierten Kunstgalerie in der Newbury Street und Ehefrau von George Reese, Gründer und Präsident der Beacon Street Bank & Trust, schlang die Arme um sich, um das Zittern zu unterdrücken. Ihr Internist verschrieb ihr seit rund einem Jahr Zoloft und Ambien und manchmal auch Klonopin, aber dies war ihre erste Therapiesitzung und höchstwahrscheinlich auch das erste Mal, dass ihr jemand knapp eine Stunde lang zugehört – wirklich zugehört – hatte. »Es tut mir Leid, dass ich mich so gehen lasse«, hauchte sie. »Aber die Tabletten wirken nicht. Ich muss mich zwingen, morgens aus dem Bett aufzustehen. Ich muss mich zwingen, zur Arbeit zu gehen. Ich muss mich zwingen, mich abends zu meinem Mann ins Bett zu legen. Ich muss mich zwingen zu leben.«
Dr. Frank Clevenger, achtundvierzig Jahre alt, schaute aus dem Fenster seiner am Hafenrand von Chelsea gelegenen Praxis auf die Autoschlange, die Richtung Bostoner Innenstadt kroch. Er fragte sich, wie viele von den Leuten in jenen Autos wirklich an den Ort wollten, zu dem sie unterwegs waren. Wie viele von ihnen genossen den Luxus, einen Platz anzusteuern, an dem sie etwas Echtes, Ehrliches über sich selbst aussagen würden oder zumindest etwas, das ihnen nicht das Gefühl gäbe, Schwindler zu sein, Theater zu spielen? Wie viele von ihnen kehrten zu einem Zuhause zurück, in dem sie tatsächlich leben wollten? »Spielen Sie mit dem Gedanken, sich etwas anzutun, Grace?«, fragte er sanft und sah sie an.
»Ich will einfach nur, dass der Schmerz aufhört.« Sie wiegte sich im Sessel vor und zurück. »Und ich will nie wieder jemandem wehtun.«
Irrationale Schuldgefühle waren eins der Kennzeichen für eine klinische Depression. Manche Patienten konnten sich tatsächlich in die Überzeugung hineinsteigern, sie seien für den Holocaust oder alles sonstige Leid der Welt verantwortlich. »In welcher Weise wehtun?«, fragte Clevenger.
Sie senkte den Blick. »Ich bin ein schlechter Mensch. Ein abscheulicher, abscheulicher Mensch.«
Clevenger sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie war achtunddreißig und noch immer sehr attraktiv. Ihr welliges kastanienbraunes Haar, ihre smaragdgrünen Augen und der perfekte Schnitt von Nase und Wangenknochen verrieten, dass sie geradezu überirdisch schön gewesen sein musste, als sie mit sechsundzwanzig den vierzehn Jahre älteren und bereits sagenhaft reichen George Reese geheiratet hatte. Erst jetzt, wo ihre physische Anziehungskraft nachließ, stellte sie sich der Tatsache, dass sie weder ihren Mann noch ihre Arbeit noch ihren Lebensstil mochte – nicht die teuren Autos und auch nicht den Privatjet oder das Patrizierhaus am Beacon Hill oder die Feriendomizile auf Nantucket und in Aspen. Sie spürte, dass Schönheit und Reichtum sie weit von ihrem eigentlichen Selbst entfernt hatten, und sie wusste nicht, wie sie zu sich zurückfinden sollte oder ob überhaupt noch etwas von ihr übrig wäre, wenn sie tatsächlich zurückkehren könnte. »Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dass man Menschen wehtut, Grace«, sagte Clevenger. »Nicht, wenn man ein wirklicher Mensch sein möchte.«
Grace faltete die Hände im Schoß. »Als ich ihn heiratete, ließ er mich meinen Namen behalten. Es sollte ein Symbol dafür sein, dass keiner von uns Eigentum des anderen ist.« Sie zupfte an den drei diamantenen Armbändern, die sie um ihr eines Handgelenk trug. Mit dem Daumen fuhr sie über das Uhrglas der goldenen brillantbesetzten Rolex am anderen Handgelenk. »Ich hasse diese Dinge«, sagte sie. »George hat sie mir geschenkt. Hochzeitstagsgeschenke. Es könnten ebenso gut Handschellen sein.«
Bei diesen Worten fragte sich Clevenger, wie düster Graces Gedanken tatsächlich waren. Vielleicht erging sie sich bloß in einer eleganten Metapher für ihr Leben im goldenen Käfig, doch die Tatsache, dass sie praktisch im gleichen Atemzug davon gesprochen hatte, jemandem wehzutun und Handschellen zu tragen, beunruhigte ihn: Vielleicht hatte sie doch etwas wirklich Zerstörerisches im Sinn.
In dem Jahr, seit Clevenger den Fall mit dem Highway-Killer gelöst und Serienmörder Jonah Wren gefasst hatte, bevor der irgendwo an einem einsamen Straßenrand eine weitere enthauptete Leiche zurücklassen konnte, hatte sich die Kluft zwischen seiner forensischen Arbeit und seiner psychotherapeutischen Praxis geschlossen. Es klopften nur noch wenige Wald-und-Wiesen-Depressive und -Neurotiker an seine Tür. Die meisten Leute, die sich Heilung von ihm erhofften, kämpften gegen den Drang an, anderen Menschen etwas anzutun.
Grace wäre nicht die erste Frau, die sich so sehr als Gefangene ihrer Ehe fühlte, dass sie sie gegen eine Gefängniszelle eingetauscht hätte. »Stellen Sie sich manchmal in Ihrer Fantasie vor, jemand Bestimmtem etwas anzutun?«, fragte er.
Sie starrte zu Boden und stellte sich dabei eindeutig etwas vor. Was immer es war, es ließ sie erröten. »Nein«, antwortete sie. Sie sah auf und strich einige imaginäre Falten an ihrem Rock glatt. »Ich meinte einfach nur, dass ich gern ein besserer Mensch wäre. Ich möchte das, was ich habe, auch lieben können.«
Das klang nach einem Ausweichmanöver. Leute werden rot, wenn eines ihrer innersten Geheimnisse enthüllt wird. Etwas, das in ihrer Seele wurzelt. Der Name eines Liebhabers. Eine sexuelle Vorliebe. Selbst eine unausgesprochene persönliche Ambition. Und es sah ganz danach aus, dass Grace in ihrem Innersten den Drang verspürte, jemandem etwas anzutun. Diese Tatsache – mehr noch als ihre eilfertige Erklärung, dass sie Clevenger im Fernsehen über den Highway-Killer habe sprechen sehen und ihr seine ganze Erscheinung, Jeans, schwarzer Rollkragenpullover und kahl geschorener Schädel, gefallen habe – war wohl der eigentliche Grund dafür, dass sie sich von einem forensischen Psychiater mit der Gabe, sich in Mörder hineinzuversetzen, therapieren lassen wollte.
»Sie können es mir ruhig sagen«, hakte Clevenger nach.
»Ich muss gehen«, erklärte Grace und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich schwöre Ihnen: Ich bin für niemanden eine Gefahr, mich selbst eingeschlossen. Derlei Gedanken sind mir noch nie gekommen.«
Das war das, was Psychiater einenContract for Safety nennen, eine Art Sicherheitsversprechen, die Worte, die ein potenziell gefährlicher und gefährdeter Patient aussprechen muss, um einer Zwangseinweisung zu entgehen – um nicht in die geschlossene Psychiatrie zu wandern. Clevenger fragte sich, ob Grace sich vielleicht besser mit den psychiatrischen Gepflogenheiten auskannte, als sie vorgab. »Ich muss Sie rundheraus fragen: Haben Sie die Absicht, Ihrem Mann etwas anzutun?«
»Habe ich … Das ist ja lächerlich.« Sie starrte ihn an.
Er wich ihrem Blick nicht aus. »Gut.«
Sie stand auf und strich mit den Fingerspitzen über die Goldknöpfe an ihrer schwarzen Chanel-Jacke. »Ich rufe Sie in den nächsten Tagen an, wegen eines Termins, falls Sie etwas frei haben.«
Clevenger blieb sitzen. Er wollte klarstellen, dass es einzig und allein Graces Entscheidung war, nicht tiefer vorzudringen. Sie würde ihm den Rücken zukehren müssen. Und damit der Wahrheit. »Wir haben noch zehn Minuten«, sagte er.
Sie stand einen Moment lang da und sah unbehaglich drein, so als könnte Clevengers Schweigen sie vielleicht doch verleiten, sich wieder hinzusetzen. Aber zuletzt wandte sie sich abrupt um und ging.
Clevenger beobachtete vom Fenster aus, wie sie zu ihrem Wagen ging, einem großen, blauen BMW mit getönten Scheiben. Sie wühlte in ihrer Handtasche, schüttelte sie aufgebracht, griff abermals hinein. Tränen liefen ihr über die Wangen. Schließlich fand sie den Schlüssel, riss die Wagentür auf, stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu.
»Kriegt sie ihr Geld zurück?«, fragte North Anderson von der Tür zu Clevengers Büro aus.
Clevenger drehte sich um.
Anderson war seit zwei Jahren Clevengers Geschäftspartner beiBoston Forensics. Er war ein ehemaliger Cop aus Baltimore, der in die Privatdetektivbranche gewechselt hatte, ein Schwarzer, der ein Jahrzehnt jünger als seine fünfundvierzig Jahre aussah, wahrscheinlich, weil er ein besessener Gewichtheber war – drei Stunden täglich. Es gab an seinem ganzen Körper nicht ein Gramm Fett. Der einzige Hinweis auf sein früheres hartes Leben waren die schartige Narbe über dem rechten Auge und das leichte Nachziehen seines linken Beins, Ersteres ein Andenken von einem messerschwingenden Verdächtigen, Letzteres ein Andenken von einem Verdächtigen mit einer .45er. Beide hatten bäuchlings auf dem Pflaster geendet. Der mit dem Messer war in den Knast gewandert. Der mit der Pistole ins Leichenschauhaus.
»Sie lebt eine Lüge«, sagte Clevenger, als Grace Baxters Wagen an dem Maschendrahtzaun und dem Tor vorbeifuhr, die die Fitzgerald-Werft – auf deren GeländeBoston Forensics seine Heimstatt gefunden hatte – vom Rest von Chelsea trennten. »Das tut weh. Jeden Tag mehr.«
»Die Wahrheit wird dich befreien«, bemerkte Anderson. »Es sei denn, du bist schuldig.« Seine Lippen verzogen sich zu jenem gewinnenden Lächeln, das andere Leute unweigerlich dazu brachte, ihn zu mögen und sich ihm zu öffnen, in Boston nicht anders als zuvor in Baltimore. Weil er die Menschen mochte, mit all ihren Schwächen. »Detective Mike Coady von der Bostoner Polizei hat gerade angerufen.«
»Was wollte er?«, fragte Clevenger.
»Hast du von dem Typen gehört, bei dem sie im Massachusetts General so eine Hirnoperation durchführen wollten?«
»Klar, war für heute Morgen angesetzt. John Snow. DerGlobe hat ihn wieder mal als Aufmacher benutzt.«
»Die Operation findet nicht statt.«
»Warum?«
»Er ist tot.«
»Tot? Wie denn das?«
»Sie haben ihn in einer Gasse hinter dem Krankenhaus gefunden. Mit einer 9-mm-Kugel in der Brust.«
»Mein Gott. Haben sie den Schützen?«
»Coady denkt schon – Snow höchstpersönlich.«
»Er hat Selbstmord begangen?«
»Keine Zeugen. Die Kugel stammte aus Snows eigener Waffe.«
»Und wofür braucht Coady uns dann?«, wollte Clevenger wissen.
»Der Gerichtsmediziner schließt offiziell Mord nicht aus«, erklärte Anderson. Er verschränkte die massigen Arme. »Coady hat derzeit noch elf andere Mordfälle auf dem Schreibtisch.«
»Also möchte der werte Detective, dass ich mit dem passenden Psychogramm aufwarte, posthum, um die Selbstmordtheorie zu untermauern«, sagte Clevenger. Er schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn anrufen und ihm sagen, dass er besser das Ergebnis der ballistischen Untersuchung abwartet.«
Anderson zuckte die Achseln. »Ich könnte ein bisschen herumschnüffeln, mal horchen, ob irgendwas gemunkelt wird, nur um ein Gefühl für die Sache zu bekommen.«
»Warum Energie verschwenden, wenn Coady nichts weiter will, als dass wir seine Theorie absegnen, damit er den Fall zu den Akten legen kann.«
»Niemand würde je glauben, dass wir irgendetwas einfach unbesehen absegnen.«
»Vielleicht hofft er gerade deshalb, dass wir es diesmal tun. Glaubwürdigkeit wird mitgeliefert.« Er griff nach dem Telefonhörer. »Hast du seine Nummer?«
»Klar«, sagte Anderson. Doch er rührte sich nicht von der Stelle.
Clevenger sah ihn fragend an. »Was ist?«
»Kennst du das nicht, dass man manchmal einfach so ein komisches Gefühl hat? Vielleicht lasse ich mich bloß von all den Lobeshymnen auf diesen Snow blenden, aber er stand kurz davor, eine Reise in medizinisches Neuland anzutreten. Er war nahe daran, Geschichte zu schreiben. Jeder Reporter des Landes brannte darauf, den Typen nach der Operation zu interviewen. Ich bin kein Seelenklempner, aber ich würde denken, das kann einem genug Auftrieb geben, dass es einen über ein paar miese Tage hinwegträgt. Und er erschießt sich in einer Gasse, einen Steinwurf vom OP entfernt? Das ergibt einfach alles keinen Sinn.«
»Du denkst also nicht, dass es Selbstmord war?«
»Ich denke, Selbstmord ist die Antwort, die Coady sich erhofft. Es könnte die richtige sein. Doch jemand hat heute Morgen eine Kugel in die Brust bekommen, und mein Instinkt sagt mir, dass ich die vollständige Geschichte hören sollte.«
»Von einem Toten.«
»Wenn es leicht wäre, die Wahrheit ans Licht zu bringen«, gab Anderson zurück, »dann hätte Coady dich gar nicht erst anzurufen brauchen.«