17
Nachdem der Unvergleichliche Miss Trent verlassen hatte, gab es für sie nur einen Wunsch: ihr Zimmer zu erreichen, ehe sie von Erregung übermannt wurde. Schluchzen drohte sie zu ersticken; Tränen, die aus ihren Augen brachen, mußten schnell getrocknet werden; sie raubten ihr die Sicht. Als sie sich zum Stiegengeländer getastet hatte und den Fuß auf die erste Stufe setzte, kam Tiffany heruntergetrippelt. Ihre gute Laune war wiedergekehrt, als sie erfuhr, daß Sir Waldo gekommen war, um sie zu besuchen.
«Oh, suchen Sie mich? Totton brachte mir die Nachricht, Sie hätten sich nicht bemühen müssen, liebste Ancilla. Ist er im grünen Salon? Ich habe eine herrliche Idee! Da mich Mr. Calver so wunderbar kutschieren gelehrt hat, werde ich versuchen, Sir Waldo zu überreden, mich seine Kastanienbraunen lenken zu lassen. Stellen Sie sich diesen Triumph vor! Mr. Calver sagte, kein weibliches Wesen hatte jemals Sir Waldos Rosse lenken dürfen!»
Es war erstaunlich, wie schnell ihr die seit Jahren geübte Gewohnheit die Fassung zurückgab. Miss Trent war krank von eigenem Leid, aber ihr Geist reagierte automatisch. Sie hätte geglaubt, daß jeder Versuch zu sprechen von Tränen erstickt werden würde, aber sie hörte ihre Stimme ohne Zittern sagen: «Er ist schon fort. Er wollte nur wissen, ob wir schon Nachricht von den Verreisten hätten. Er wollte nicht länger bleiben.»
«Wollte nicht länger bleiben?» Tiffany schnitt eine alberne Grimasse. «Wo ich ihn doch so dringend sehen wollte!»
«Ich nehme an, er wäre geblieben, wenn er es gewußt hätte», sagte Ancilla friedfertig.
«Aber Sie haben es doch gewußt! Das ist häßlich von Ihnen! Ich glaube, Sie haben ihn absichtlich weggeschickt, um mich zu ärgern», sagte Tiffany böse, aber ohne innere Überzeugung. «Was soll ich jetzt tun?»
Miss Trent zwang sich zur Beherrschung. Es hätte genug für ihre Schülerin zu tun gegeben: eine sehr nötige Klavierstunde, ein Spaziergang mit Zeichenblock, eine französische Konversationsstunde. Aber sie unterließ diese Vorschläge. Wußte sie doch, daß solcherlei Zerstreuungen keine Gnade vor den Augen der jungen Dame finden würden, die entschlossen war, jede Anregung abzuweisen. Zum Glück kam eine Ablenkung, die Tiffanys aufsteigenden Zorn dämpfte: ein Wagen fuhr vor, dem Lizzie Colebatch entstieg. Sie brachte eine Einladung, mit ihr und ihrer Mama nach Harrogate zu fahren, wo Lady Colebatch ihren bevorzugten Arzt aufsuchen wollte. Elizabeth, noch immer Tiffany freundschaftlich zugetan, eröffnete ihr ein Programm, das Tiffany lockend erscheinen mußte. Außer dem Besuch einiger teurer Geschäfte – die in der letzten Zeit aus dem Boden geschossen waren – umfaßte es einen Spaziergang auf der Neuen Promenade und einen Besuch von Hargroves Buchladen, zu dem eine der modernsten Teestuben in ganz Harrogate gehörte. Das bedeutete für Tiffany, sich sofort anzukleiden und ihren allerbesten Hut mit Bändern hervorzuholen, der, in einem Berg von Seidenpapier verwahrt, in einer Schachtel auf einen großen Anlaß wartete.
Da die Saison auf dem Höhepunkt war, konnte man mit Sicherheit annehmen, daß der Streifzug zweier modisch gekleideter junger Damen – von denen die eine auffallend rothaarig, die andere brünett und blendend schön war – genau jene Art von Aufsehen erregen würde, wie es Tiffanys Tante Burford nicht wünschte. Da aber Miss Trent wußte, daß Mrs. Underhill die Begleitung von Lady Colebatch als Garantie für Sicherheit betrachten würde, fühlte sie sich nicht berufen, ihre Zustimmung zu verweigern. Doch sie fühlte sich verpflichtet, Lady Colebatch zu begrüßen. So sehr sie sich nach Alleinsein sehnte, ging sie hinaus, um die Dame ins Haus zu bitten, während Tiffany sich in ihre feinste Toilette warf. Lady Colebatch lehnte ab, bat aber Miss Trent, zu ihr in den Wagen zu steigen, um ein bißchen zu plaudern. Miss Trent erfüllte diese Aufgabe mit mechanischer Höflichkeit. Sowenig sie die Unterhaltung genoß, tat sie ihr doch gut; als Tiffany und Elizabeth in den Wagen stiegen, waren ihre Nerven ruhiger geworden und der Drang, sich das Herz aus dem Leib zu weinen, verflogen.
Auch ihr abgewiesener Freier – obwohl keine Gefahr bestand, daß er einem hysterischen Anfall erliegen würde – war froh, eine Pause des Alleinseins zu haben. Doch kaum hatte er die Bibliothek in Broom Hall betreten, als sein junger Cousin eintrat und fragte: «Bist du sehr beschäftigt, Waldo? Wenn das nicht der Fall ist, möchte ich dir etwas sagen – aber nicht, wenn ich dich störe», fügte er schnell hinzu, als er die Falte auf Sir Waldos Stirn bemerkte.
Waldo unterdrückte die Absicht, Lord Lindeth zu sagen, wie ganz besonders störend er wirke, und sagte: «Nein, ich bin nicht beschäftigt. Komm, setz dich und erzähle, was es gibt!»
Der Ton war ermutigend und noch mehr das leichte Lächeln. Lord Lindeth wurde ein wenig rot, sagte aber schlicht: «Ich glaube – du weißt es.»
«Nun, ich habe eine leise Ahnung.»
«Ich dachte es mir. Du hast es wahrscheinlich erraten, aber ich möchte es dir sagen – und ich möchte dich um Rat fragen.»
«Mich um Rat fragen?» Sir Waldo hob die Brauen. «Guter Gott, Julian, wenn du meinen Rat brauchst, ob du Miss Chartley einen Heiratsantrag machen sollst oder nicht, kann ich nur sagen, daß meine Meinung oder mein Rat völlig irrelevant ...»
«Oh, nicht das», unterbrach ihn Julian ungeduldig. «Ich hoffe, daß ich auch ohne Rat weiß, was ich zu tun habe. Was deine Meinung betrifft ...» er hielt inne, dachte nach und sagte mit einem entwaffnenden, um Entschuldigung bittenden Lächeln: «Sie beeinflußt mich, aber nicht sehr.»
«Sehr richtig – und aufrichtig!»
«Jetzt ziehst du mich auf! Tue das bitte nicht – es ist sehr ernst.»
«Ich ziehe dich nicht auf. Also: warum brauchst du meinen Rat?»
«Nun ...» Julian faltete die Hände zwischen seinen Knien und betrachtete sie sinnend. «Die Sache ist die, Waldo: als wir hierherkamen, errietest du, wenn ich es dir nicht selbst sagte, daß ich in Miss Wield ziemlich vernarrt war.» Er blickte auf, ein schelmisches Lächeln spielte um seinen Mund. «Du wirst sagen, ich habe mich lächerlich gemacht – und ich glaube, das stimmte auch.»
«Nicht so lächerlich, daß du um ihre Hand angehalten hättest!»
Julian blickte ihn in höchster Überraschung an. «Weißt du, Waldo, ich habe nie ans Heiraten gedacht», sagte er naiv. «Ich habe es nie in Betracht gezogen. Ich habe erst ans Heiraten gedacht, als ich Miss Chartley kennenlernte. Ich habe überhaupt nie an die Zukunft gedacht. Aber seit ich Patience näher kenne, möchte ich den Rest meines Lebens mit ihr verbringen. Und das werde ich auch tun!» sagte er mit fester Stimme.
«Meinen Segen hast du! Sie wird dir eine ausgezeichnete Gattin sein. Aber wozu benötigst du wirklich meinen Rat? Oder willst du mich nur einwickeln, damit ich deiner Mutter die Nachricht bringe?»
«Nein. Natürlich werde ich es ihr selbst sagen. Aber es wäre eine Hilfe, wenn du mich unterstütztest», sagte er nach einem Augenblick des Nachdenkens.
«Das werde ich tun!»
Julian blickte ihn dankbar an. «Waldo, ich weiß, auf dich kann man bauen!»
«Bringe mich nicht zum Erröten! Und welchen Rat willst du von mir?»
«Es gibt etwas, das mir Sorge macht. Es handelt sich um folgendes: Obwohl die Chartleys so freundlich und umgänglich waren, wie sie nur sein konnten – kein Abwinken oder dergleichen –, bin ich mir nicht im klaren, ob es nicht zu früh ist, den Rektor um die Erlaubnis zu bitten, seiner Tochter einen Antrag machen zu dürfen. Ich fürchte, daß er vielleicht glaubt, es wäre nur ein Strohfeuer; nach meinem Tändeln mit Miss Wield müßte er mich eigentlich wegschicken – und das wäre mein letzter Tag.»
«Ich glaube nicht, daß er dich so strenge beurteilen wird», antwortete Sir Waldo mit bewundernswertem Ernst. «Schließlich hast du dich ja nicht an Tiffany gebunden – oder –?»
«O nein!» versicherte ihm Julian. «Nichts dergleichen. Tatsächlich war sie es, die mir nach den Vorfällen in Leeds die kalte Schulter gezeigt hat, so daß ich nicht glaube, in irgendeiner Form an sie gebunden zu sein. Glaubst du nicht auch?» Er kicherte. «Laurie hat sie mir ausgespannt – ich war noch nie über etwas froher! Das wundert dich, nicht wahr? Zu denken, daß ich Laurie dankbar sein muß! Herrgott! Aber sag mir, Waldo, was soll ich tun?»
Sir Waldo, dessen private Meinung war, daß der Rektor Lord Lindeth' Antrag stündlich erwarten mußte, zögerte nicht, die Frage zu beantworten. Er empfahl seinem ängstlichen jungen Cousin, bei der nächsten Gelegenheit seine Absicht kundzutun und einen formellen Antrag zu machen, und den Rektor, falls dieser befürchte, der Freier seiner Tochter könnte ein hartgesottener Roué sein, des Gegenteils zu versichern. Diese Aufmunterung bewirkte ein beifälliges Grinsen Julians. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, Sir Waldo mit Miss Chartleys zahlreichen Tugenden zu langweilen.
Schließlich ging er. Aber ehe zehn Minuten um waren, wurde sein Platz von Laurence eingenommen. Er kam herein, blieb unschlüssig an der Tür stehen und blickte fragend auf seinen Cousin.
Sir Waldo hatte an dem Schreibtisch Platz genommen, schien sich aber mit den vor ihm liegenden Papieren nicht zu beschäftigen. Seine Hände lagen auf dem Schoß und sein Blick schweifte in die Ferne. Sein Gesichtsausdruck war ungewöhnlich streng und hellte sich auch nicht auf, als er den Kopf wandte und Laurence erblickte. Der Ausdruck wurde eher härter.
«Nun?»
Wenn schon sein Gehaben Laurence nicht zu verstehen gab, daß er den ungünstigsten Moment gewählt hatte, hätte der kühle Ton des einen Wortes es tun müssen. Laurence hielt noch die Türklinke in der Hand und bewegte sich rücklings hinaus. «Oh, nichts – ich wollte – entschuldige – ich wußte nicht, daß du beschäftigt bist – ein andermal.»
«Mach dir keine falschen Hoffnungen – niemals!» sagte Sir Waldo scharf.
Unter anderen Umständen hätte sich Laurence zu einer längeren Erklärung herausgefordert gefühlt, aber diesmal wagte er nicht die kürzeste Antwort und zog sich schnell zurück. Als er die Tür zwischen sich und seinem gefürchteten Cousin geschlossen hatte, machte er sich mit einem erstaunten «Hui!» Luft. In seiner Brust kämpfte Unmut mit Neugierde – die Neugierde gewann. Er blickte noch eine Weile gedankenvoll nach der Tür, als könnte er Waldos Gesicht durch das dicke Holz sehen. Sein unruhiger Geist konzentrierte sich auf das neue, unerwartete Problem, das sich ihm aufdrängte.
Nach einigem Überlegen kam er zu dem Schluß, daß der einzige Grund für Waldos noch nicht dagewesenes Benehmen nur eine Enttäuschung in der Liebe sein könne. Daß Waldo mit pekuniären Schwierigkeiten belastet wäre, wies Laurence als absurd von sich; nach seinen Ansichten konnten nur Liebeskummer oder Geldsorgen eine solche Wirkung haben. Auf den ersten Blick schien es lächerlich anzunehmen, daß er von Miss Trent eine Abfuhr erhalten habe. Aber nach weiteren Erwägungen fand er, daß nur das der Fall sein könnte. Mochte es noch so unwahrscheinlich sein, daß ein weibliches Wesen in ihren Verhältnissen einen so wohlhabenden Bewerber zurückweisen sollte, so war Miss Trent doch zweifellos ein sehr seltsames Geschöpf. Und es gab keinen Zweifel – sie war so verliebt in ihn wie er in sie.
Am nächsten Tag beim Frühstück trübte keine Falte mehr die klare Stirn Sir Waldos; er war besonders guter Laune. Dann fuhr er – nachdem er Julian eine neckende Bemerkung über die Schulter zugerufen hatte – aus; und wenn er auch sein Ziel nicht verriet, hätte nur ein Einfaltspinsel bezweifelt, daß er Staples zustrebte. Julian, der mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, wußte vielleicht nicht, daß Waldo seit einer Woche tagtäglich Staples besuchte, aber sein viel schlauerer Cousin wußte es. Es sah ganz danach aus, daß Waldi die bedeutsame Frage gestellt hatte und abgewiesen worden war. Aber warum?
Sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, konnte Laurence zu keiner zufriedenstellenden Lösung des Rätsels kommen. Wäre ein anderer Mann im Spiel gewesen, hätte Laurence vermutet, daß dieser Waldo bei Miss Trent angeschwärzt habe. Er hielt sie für ziemlich prüde. Aber auch Waldo war zurückhaltend, und nicht einmal das schändlichste Lügenmaul konnte etwas über ihn sagen, das eine Frau abgestoßen hätte. War am Ende die Bohnenstange so dumm, eine Skandalgeschichte zu glauben, die eine der eifersüchtigen Klatschbasen aus der Pfarrgemeinde erfunden hatte?
Alles schien so verworren, aber es mußte doch eine Erklärung geben, die zu finden der Mühe wert war!
Sein erster Plan, die Dankbarkeit seines großzügigen Cousins zu gewinnen, war schiefgegangen; er brauchte nicht lange, um zu erkennen, daß seine Hilfe, Julian von Miss Wield abzubringen, nicht nötig war. Aber es konnte doch sein, daß in dieser neuen verzwickten Situation die gesuchte Gelegenheit lag. Wenn nun – durch seine Vermittlung – die entzweiten Liebenden versöhnt würden, wäre es nicht schwer zu erreichen, daß Waldo – kein Geizkragen, das mußte man ihm lassen – seine Dankbarkeit in entsprechender Weise bekunden würde.
Das war es! Laurence Stimmung – die schon sehr verdüstert war – hellte sich auf. Ärgerlich, daß sein schlauer Plan, Tiffany seinem Cousin auszuspannen, verlorene Liebesmühe war. Er bedauerte es nicht gerade, denn es war sehr unterhaltend, den lächerlichen ländlichen Verehrern die Schöne vor der Nase wegzuschnappen, und gut geeignet, sich die Zeit in diesem entsetzlich langweiligen Nest zu vertreiben. Er hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, ernstlich um Tiffany zu werben, ihn aber bald wieder verworfen. Schon die Vorstellung, sich durch eine Ehe zu binden, war ihm widerlich. Und wenn er auch diese Abneigung – in Anbetracht von Tiffanys Vermögen – überwunden hätte, so war doch die Wahrscheinlichkeit, die Zustimmung ihres Vormunds zu erhalten, gleich null. Und noch weniger konnte er annehmen, daß ihr Onkel ihr die Verwaltung ihres Vermögens auch nur einen Tag vor ihrer Großjährigkeit anvertrauen würde. So vergnüglich es war, mit der anerkannten Schönheit zu flirten – die ganze Sache war doch eine Zeitverschwendung.
Den einzigen Vorteil sah er darin, daß dieser Flirt jetzt die Ausrede bot, Staples zu besuchen und die Situation zu erkunden. Vielleicht war es nicht leicht, sich in Miss Trents Vertrauen zu schmeicheln, doch sie zeigte sich trotz ihres reservierten Benehmens ihm gegenüber in letzter Zeit freundlicher. Und wenn sie über den Bruch mit Waldo ebenso trübsinnig war wie er, spekulierte Laurence, wäre sie vielleicht froh, ihr Herz zu erleichtern. Soweit er die Frauen kannte, brannten sie darauf, sich auszuweinen! Ein Streit schien allerdings unwahrscheinlich; sie machte nicht den Eindruck eines Mädchens, das sich zu einer Szene oder zu Beleidigungen hinreißen ließ, und Waldos ausgeglichenes Temperament war sprichwörtlich. In großen ganzen neigte Laurence zu der Ansicht, daß es sich um ein Mißverständnis handle. Wahrscheinlich war jeder der beiden zu stolz, vom anderen eine Erklärung zu verlangen, und niemand wäre ihnen willkommener als ein taktvoller Vermittler. Natürlich, Nachrichten von einem zum anderen zu tragen wäre ermüdend; aber da er damit seine eigenen Zwecke verfolgte, schien die Mühe lohnend.
So vorbereitet fuhr er noch am selben Tag nach Staples, allem Anschein nach, um Tiffany zu besuchen. Hier erfuhr er, daß Tiffany nach Harrogate gefahren war und Miss Trent mit Kopfschmerzen zu Bett lag. Er hinterließ seine Karte und Grüße und fuhr – keineswegs unzufrieden – zurück. Zu Bett mit Kopfschmerzen? Vielversprechend! Das war immer die Ausrede der Frauen, wenn sie Weinkrämpfen erlagen. Es wäre viel mutloser gewesen, hätte er sie bei guter Laune angetroffen.
An diesem Abend fand er auch Waldos Benehmen zufriedenstellend, nicht gerade trübsinnig, aber auch nicht jubilierend. Freundlich, wenn angesprochen, war er doch die meiste Zeit in tiefes Grübeln verfallen. Da Julian mit Edward Banningham ausgefahren war, verlief das Dinner einsilbig, und Laurence war nicht so dumm, Waldo durch unsinniges Geschwätz zu irritieren, wenn er deutlich merkte, daß sein Cousin nicht in gesprächiger Laune war.
Nach dem Dinner ging Waldo in sein Arbeitszimmer. Er entschuldigte sich, ein schlechter Gesellschafter zu sein, er habe Ärger mit der Beschaffung eines geeigneten Verwalters für Broom Hall. Eine faule Ausrede natürlich! Aber Laurence antwortete voll Mitgefühl und meinte, Waldo solle sich seinetwegen keine Gedanken machen, er sei zufrieden mit einem Buch.
Als er aber am nächsten Morgen weder Tiffany noch Miss Trent in Staples vorfand, war er schon recht mißvergnügt. Doch der Abend, den er bei den Ashes verbrachte, erwies sich als lohnender. Miss Trent, die Tiffany begleitete, machte einen deprimierten Eindruck. Zwar lächelte sie und sprach mit der gewohnten Ruhe, doch sie war verdächtig blaß und hatte tiefe Schatten unter den Augen. Sobald es nur anging, setzte sie sich zu einer kleinen mausgrauen Person, die er als Gouvernante der Kinder des Hauses erkannte. Sie gab sich Mühe, nicht in Waldos Richtung zu blicken. Zuviel Mühe! dachte Laurence. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Waldo, der sich Miss Trent näherte. Er konnte nichts von dem Gespräch verstehen, jedoch seine Schlüsse ziehen. Seine forschenden Augen sahen, wie fest ihre Hand den Retikül umspannte und wie schnell das Blut in ihre Wangen schoß und wieder verschwand. Dann verbeugte sich Waldo – keine Frage, es war die Verbeugung eines Mannes, der abgewiesen wurde – und ging mit Sir William Ash in das Spielzimmer. Miss Trent hatte die Augen niedergeschlagen, aber sie hob sie wieder, als Sir Waldo gegangen war, um ihm durch das Zimmer nachzublicken.
Herrgott! dachte Laurence. Wer hätte diesem kühlen Geschöpf einen solchen Blick zugemutet? Reinste Verzweiflung! Aber was, zum Teufel, war zwischen das Paar getreten?
Ein Geigenton zwang ihn, seine Gedanken anderem zuzuwenden. Die Paare fanden sich zum ersten Tanz. Da es eine zwanglose Party war, verkündete Lady Ash, daß sie es den jungen Leuten – die sich ja alle kannten – überlasse, ihre Partner selbst zu wählen. Laurie hielt Ausschau nach einer noch freien Dame.
Er sah Tiffany mit Miss Banningham und Lindeth lebhaft plaudern. Julian wartete offensichtlich, die älteste Tochter des Hauses auf das Parkett zu führen. Einen Augenblick lang wunderte sich Laurence, Tiffany ohne eine Korona von Bewunderern zu sehen, die um ihre Gunst eiferten. Obwohl er sich vor ihr verbeugte und um die Ehre bat, mit ihr tanzen zu dürfen, war er noch zu sehr abgelenkt, um mehr als höfliche Aufmerksamkeit zu zeigen. Er bemerkte auch nicht, daß die von Bewunderern belagerte Dame Miss Chartley war.
Aber Miss Trent bemerkte es und wußte, daß dies der Vorbote eines schweren Abends sein werde. Sie kannte Tiffanys flackernden Blick, ihre übertriebene Heiterkeit nur zu gut. Und wenn sie auch mit Erleichterung sah, daß Tiffany den ganzen Abend nie ohne Partner war, wich diese Erleichterung, als sich ihr folgendes Schauspiel bot: Mr. Wilfred Butterlaw – ein Jüngling, dessen Gesicht von Pickeln übersät war und der Tiffany eine wenn auch unbeachtete Verehrung zollte – führte die Schöne zum Tanz. Miss Trent war froh, ein wenig Ruhe gefunden zu haben, denn sie konnte nicht ahnen, daß Butterlaws böser Geist ihn veranlassen werde, während des Tanzes mit Tiffany herauszuplatzen: «Ich kü-kümmere mi-mich nicht im ge-geringsten, wa-was die L-Leute sagen, Miss Wield, i-ich gl-glaube, Sie sind wun-wun-wunderbar!»
Obwohl Miss Trent von dieser beispielhaften Taktlosigkeit nichts wußte, war sie nicht überrascht, auf der Heimfahrt Tiffany in ihrer gefährlichsten Stimmung zu finden. Diese entlud sich nicht in einem stürmischen Ausbruch, sondern in einem spöttischen Lachen und der wahllosen Aufzählung alles dessen, was es an den Manieren und dem Aussehen ihrer Bekannten zu tadeln gab. Miss Trent bewahrte eine entmutigende Ruhe und hoffte von Herzen, daß Courtenay, der ihnen gegenübersaß, nicht auch noch Ol ins Feuer gießen werde. Das tat er anfänglich auch nicht, bis Tiffanys gallige Tiraden den Höhepunkt erreichten und sie mit schrillem Lachen sagte: «Und Patience Chartley! Wie eine Landpomeranze sah sie in ihrem scheußlichen grünen Kleid aus und gab mit ihrer schmachtenden Miene vor, so scheu und bescheiden zu sein! Geradezu lächerlich, wie sie die Augen niederschlägt, wenn sie jemanden überzeugen will, daß sie eine Heilige ist!»
«An deiner Stelle wäre ich nicht so gehässig gegen Patience», sagte Courtenay geradeheraus.
«Gehässig? Oh, das wollte ich nicht sein. Das arme Ding! Sie ist fast zwanzig und hat noch keinen Heiratsantrag bekommen. Sie tut mir aufrichtig leid! Wie schrecklich, so unansehnlich zu sein!»
«Nein, das bist du nicht», sagte Courtenay. «Aber du ärgerst dich grün und blau, weil nicht du es warst, der heute die ganze Aufmerksamkeit galt, sondern sie! Und ich sage dir ...»
«Nicht!» sagte Miss Trent müde, aber ihr Einwurf blieb unbeachtet.
«Wenn du dich nicht vorsiehst», fuhr Courtenay rücksichtslos fort, «wirst du dich in die Nesseln setzen; glaube nicht, daß deine kostbare Schönheit dich davor bewahren wird. Herrgott! Nie noch habe ich eine so dumme Gans gesehen wie dich! Zuerst hast du Lindeth mit deinen kalten und heißen Duschen vertrieben, dann Arthur, und um deiner Dummheit die Krone aufzusetzen, hast du nicht einmal über die Vorfälle in Leeds den Mund gehalten. Damals war es Patience, die zeigte, was für ein Prachtkerl sie ist, nicht du! Du konntest bloß zeigen, was für ein Kampfhahn du bist!»
«Ein Prachtkerl?» sagte Tiffany mit vor Zorn bebender Stimme. «Patience ist nichts als eine schamlose Angeberin! Ich nehme an, du beziehst deine Weisheit von Ancilla. Sie ist bestimmt begeistert von Patience, denn sie ist genau das, was sie sich unter einem wohlerzogenen Mädchen vorstellt.»
«O nein, Miss Trent erzählte mir nur, daß Patience mit Schneid und Geistesgegenwart ein Slumkind, das unter die Räder einer Karosse geriet, gerade noch weggerissen hat. Auch Lindeth hat nichts über dich gesagt. Und was Patience betrifft – nun, die spricht überhaupt nicht darüber. Du warst es, die es herumerzählte, weil du Angst hattest, jemand könnte berichten, welche Rolle du gespielt hast. Und darum hast du ausgesprengt, daß Patience ein Theater aufführte, um die Leute glauben zu machen, sie sei eine Heldin, wo doch alles Schwindel war, keine Gefahr für das Kind oder sie selbst bestand.»
«Es bestand auch keine. Wenn Ancilla sagt ...»
«Es bestand keine? Also jetzt, liebe Cousine, werde ich dir etwas sagen: Ned Banningham war gestern in York bei Freunden, und wer, glaubst du, befand sich unter den Gästen? Der Bursche, der Patience fast niedergefahren hatte! Ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern, aber du wirst ihn ja wissen! Er stand noch ganz unter dem Eindruck des Unfalls. Jedem erzählte er, was für ein Prachtkerl Patience ist und . wie sie nicht das geringste Aufhebens machte, und wie aufgeregt er war, weil er glaubte, sie überfahren zu haben. Er hat auch dich beschrieben. Jack wollte mir nicht sagen, was er über dich gesagt hat, aber mir war es lieber so; schließlich bist du meine Cousine, und ich schäme mich nicht gerne. Aber Ned hat es Jack erzählt, und Jack hat es Arthur erzählt, und Arthur hat es Greg erzählt – und jetzt weißt du, warum man dir heute die kalte Schulter gezeigt hat! Ich kann dir nur sagen, niemand hätte Anstoß genommen, wenn du etwas gegen Sophie Banningham gesagt hättest – die ist nicht sehr beliebt. Aber Patience haben alle gern. Außerdem waren sie und Lizzie, ehe du nach Staples zurückkamst, hier die hübschesten Mädchen, denen man am meisten den Hof machte. Also sieh dich vor!»