9

Während Lord Lindeth in leichtem Trab Miss Chartley nach Hause brachte, erzählte er ihr natürlich, daß beim Ball in Colby Place Walzer getanzt werden würde. Sie war, ebenso wie Tiffany, überrascht, doch sie empfing die Neuigkeit anders. Sie sagte bescheiden: «Ich habe noch nie Walzer tanzen gelernt, aber ich werde gern zusehen.»

«Sie können den Schritt sofort erlernen», versicherte er ihr. «Ich weiß, wie gut Sie tanzen, Miss Chartley. Jeder Hüpferling kann es Ihnen in einer Lektion beibringen. Ich selbst könnte Sie unterrichten, obwohl ich kein Meister bin. Bitte, lassen Sie mich Ihr Lehrer sein!»

Sie lächelte ihn dankbar an und sagte: «Ich glaube nicht, daß Mama es erlauben wird.»

«Glauben Sie? Auch nicht, wenn sie weiß, daß Mrs. Mickleby ihn sanktioniert?»

Sie schüttelte den Kopf, aber sie schwieg. Eine wirkliche Dame sagte Mama – sprudelte ihre Meinung nicht so heraus, das taten nur Emporkömmlinge. Mama drückte sich zwar nicht so aus, aber sie war viel besser erzogen als die Gattin des Gutsherrn, und Patience wußte nur zu gut, daß Mama die Zumutung, Mrs. Mickleby als Beispiel zu akzeptieren, zurückweisen würde.

«Hält sie ihn für einen unpassenden Tanz?» fragte Lindeth. «Auch meine Mutter war dieser Ansicht, ehe sie ihn tanzen sah. Ich werde versuchen, Mrs. Chartley umzustimmen. Es wäre doch zu dumm, wenn Sie nur zusehen dürften.»

«Ich fürchte, Sie werden keinen Erfolg haben», sagte sie, denn sie glaubte nicht an seine ehrliche Absicht.

Aber sie irrte sich. Als sie das Pfarrhaus erreichten, trat Lindeth mit ihr ein und war bald in ein Gespräch mit Mrs. Chartley, die sich auf dem Sofa im Salon von ihrer Indisposition erholte, verwickelt. Er versuchte, ihr die Erlaubnis abzuschmeicheln und ihre Meinung über den österreichischen Tanz, der eben in London große Mode war, zu korrigieren.

Sie war keineswegs unempfindlich für seinen Charme, aber ihre Ansichten über Anstand waren streng; es wäre ihm wohl nicht gelungen, sie umzustimmen, hätte er nicht von unerwarteter Seite Hilfe bekommen. Der Rektor trat ins Zimmer, und als er den Gegenstand der Unterhaltung erfuhr, meinte er, daß eben jede Generation die Sitten der nächsten zu verdammen pflege. Er selbst wolle kein Urteil über einen Tanz, den er nie gesehen habe, abgeben. Deshalb forderte er Julian mit einem freundlichen Lächeln auf, den Walzerschritt zu zeigen.

«Mr. Chartley!» protestierte seine Gattin lachend.

«Als ich jung war, tanzte ich sehr gerne», sagte der Rektor nachdenclich. «Meine Güte, was für Kerle waren wir! Immer fidel, wie ihr jungen Leute sagen würdet.»

Darüber mußten alle lachen. Und als er seiner Gattin sagte, er hoffe zwar, daß keines seiner Kinder jemals die Grenzen des Anstands überschreiten werde, wünsche aber auch nicht, daß seine Tochter als Mauerblümchen dasitze, schlug Mrs. Chartley in gespieltem Unglück die Hände über dem Kopf zusammen und versprach, ihr Urteil zu überdenken. Zum Schluß wurde Julian überredet, Patience die erste Lektion zu erteilen. Er wurde dabei geschickt von Miss Jane Chartley unterstützt, die nicht nur ihre ältere Schwester nötigte, mit Julian anzutreten, sondern auch die Musik beistellte. Das tat sie mit großem Selbstbewußtsein und soviel Gefühl für den Rhythmus, daß ihre Mama sich wunderte, wieso sie Walzer spielen konnte. Ihre überkorrekte Gouvernante hatte ihr das sicher nicht beigebracht.

Patience tanzte sehr gerne, und sobald sie die erste Nervosität überwunden hatte, zeigte sie sich als gelehrige Schülerin. Sie hielt sich noch ein bißchen steif, als sie zum erstenmal Julians Arm um ihre Taille fühlte, doch bald meisterte sie die Schritte und den Rhythmus des Tanzes.

«Bravo!» rief der Rektor und klatschte in die Hände. «Sehr hübsch! Wirklich sehr hübsch!»

«Oh, Papa, meinst du das im Ernst?» rief Patience eifrig. «Ich war doch so ungeschickt und vergaß immer meine Schritte. Aber wenn du es nicht für unschicklich hältst, möchte ich es gerne korrekt lernen. Es ist sooo lustig!»

Dieser impulsive Ausruf war es, der Mrs. Chartley später zu den Worten veranlaßte: «Mein lieber John, ich wundere mich über deine Ermunterung zu diesem unanständigen Tanz! Als sie durch das Zimmer glitten, seine linke Hand ihre rechte über den Köpfen haltend, berührte seine Rechte ihre Taille!»

«Wegen der Führung, meine Teure», sagte der Rektor. «Lindeth hat keine verliebten Absichten. Eigentlich hätte ich Patience lieber ein bißchen weniger steif gesehen – aber ich glaube, sie war aus Unwissenheit steif.»

«Ich glaube beinahe, du selbst würdest Walzer tanzen wollen!» sagte Mrs. Chartley strenge.

«Nein – nicht in meinem Alter», sagte er schuldbewußt. Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. «Aber wäre Walzer, als ich ein junger Mann war, modern gewesen – natürlich vor meinen Weihen –, ich hätte ihn getanzt, und mit dir, meine Liebe. Hätte er dir mißfallen?»

Ein Grübchen erschien auf ihren Wangen, aber sie sagte: «Meine Mutter hätte so etwas nie erlaubt! Erwartest du im Ernst, daß ich Patience in der Umarmung eines Mannes durch einen Ballsaal wirbeln lasse? Denn anders kann ich das nicht nennen.»

«Nun, du kannst am besten beurteilen, was sie tun darf, und ich muß es dir überlassen, meine Liebe. Aber ich sage offen, ich möchte keinesfalls, daß Patience an der Wand sitzt, während ihre Freundinnen – wie du es nennst – durch das Zimmer wirbeln.»

«Nein, das nicht!» stimmte Mrs. Chartley bei, von diesem Aspekt schwer betroffen. «Nein, keinesfalls!»

«Nichts läge mir ferner als zu wünschen, daß sie ihre Freundinnen aussteche; aber manchmal habe ich schon gedacht: Wenn sie auch Tiffany nicht an Schönheit übertreffen kann, ist sie doch die viel bessere Tänzerin.»

Diese Worte machten Mrs. Chartley nachdenklich. Sie war noch nicht überzeugt, aber ihr Urteil war ins Wanken geraten. Obwohl der Rektor es nicht wissen konnte, hatte seine Anspielung auf Tiffany ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie war zwar, gottlob, keine Dame von Welt, aber auch keine Heilige (oder eine so unnatürliche Mutter), daß es sie unberührt gelassen hätte, ihre Tochter in den Schatten gestellt zu sehen, und das von einem frühreifen kleinen Ding, bis zum Übermaß wild, so eitel wie schön, charakter- und talentlos. Der Himmel war ihr Zeuge, sie war keine kupplerische Mutter. Ungleich anderen Damen der Gesellschaft machte sie nie den kleinsten Versuch, ihr Kind Seiner Lordschaft aufzudrängen. Aber als sie die beiden im Tanz betrachtete, huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß die beiden bemerkenswert gut zueinander paßten. Lindeth entsprach genau der Art junger Männer, wie sie sie für Patience gewählt hätte. Sein Interesse für ihr Kind zu erwecken war eine Sache, aber Hindernisse in den Weg legen, auf dem er sie näher kennenlernen sollte, war eine ganz andere Sache.

Sie hatte sich noch immer nicht entschieden, als eine Einladung Mrs. Underhills an Patience kam, an ein oder zwei Vormittagen nach Staples zu kommen, um Walzer tanzen zu üben.

«Vormittags schon tanzen!» rief sie. «Allmächtiger Gott, was noch?» Patiences Augen leuchteten, ihre Wangen glühten.

«Das ist Tiffanys Idee, Mama. Miss Trent sagt, es sei wirklich wahr: es ist jetzt große Mode in London, vormittags zu tanzen, um es den Leuten zu ermöglichen, sich in Walzer und Quadrille zu üben. Und sie wird die Musik dazu machen und uns sagen, wie man Walzer korrekt tanzt. Mama, fast alle meine Freundinnen gehen! Und auch Courtenay und die Banninghams und Arthur Mickleby – alle wollen Walzer tanzen lernen! Und Lord Lindeth und Mr. Ash sind so nett und haben versprochen, zu kommen und zu unterrichten. Und Mrs. Underhill wird anwesend sein und ...»

«Nicht so rasch, mein Kind!»

«Oh, verzeih mir! Darf ich gehen? Nicht, wenn du es nicht willst! Aber ich möchte so gerne!»

Einer solchen Bitte konnte Mrs. Chartley nicht widerstehen.

«Nun, meine Liebe, da dein Papa nichts Schlechtes darin sieht und es sich um einen Privatball handelt und nicht um eine offizielle Veranstaltung ...»

«O danke, Mama», hauchte Patience. «Jetzt kann ich mich darauf freuen. Bisher habe ich das nicht können, weil ich fürchten mußte, sitzen zu müssen, während die anderen tanzen.»

«Nein, das wäre schlimm.» Nur mit Mißbehagen konnte sie sich eine solche Szene vorstellen.

«Es wird eine schöne Party werden», vertraute ihr Patience an. «Mit bunten Lampen im Garten und – aber das ist ein großes Geheimnis, Mama, das mir Lizzie anvertraut hat – einem Feuerwerk um Mitternacht!»

«Da kann man nur hoffen, daß es nicht regnen wird!»

«Oh, erwähne so etwas gar nicht!» bettelte Patience. «Mama, hältst du es für verschwenderisch, wenn ich mir einen neuen Retikül kaufe? Meiner ist schon schäbig von den vielen Gesellschaften.»

«Nein, durchaus nicht. Weißt du, mein Kind, ich habe mir gedacht, daß du am Freitag eine Länge Satin mitbringen könntest, für ein neues Unterkleid zu deinem Tüllballkleid. Mir hat das grüne nie sehr gefallen. Ein zartes Rosa würde dir gut passen. Und wenn du dazupassende Samtbänder bekommen könntest! Wie ärgerlich, daß ich nicht mit dir fahren kann, aber Doktor Wibsey droht mir alle möglichen Folgen an, wenn ich mich nicht wenigstens bis zum Ende der Woche schone. Wenn ich nächste Woche mit dir auf den Ball gehen soll, muß ich tun, was er sagt. Nun, Miss Trent ist ja mit euch. Ziehe sie zu Rate, sie hat einen ausgezeichneten Geschmack.»

Die Vorfreude auf den Tanz in Staples, die Aussicht auf eine Einkaufsorgie in Leeds, gefolgt von einer Lunchparty, versetzten Patience in festliche Stimmung, als sie Freitag auf den Wagen aus Staples wartete. Sie hatte ihr bestes Straßenkleid angezogen, aus geblümten Musselin mit langen Ärmeln und einer doppelten Reihe Rüschen um den Saum; auf dem Kopf trug sie eine hübsche Strohkappe, mit Blumen verziert, an den Füßen Sandalen aus hellbraunem Leder. In einer Hand hielt sie einen kleinen Sonnenschirm und in der anderen die gestrickte Geldbörse, die ihr Mama großzügig gefüllt hatte. Es schien sehr verschwenderisch, so viel Geld für ihre Verschönerung auszugeben. Obgleich die vermögende Herkunft des Rektors ihm erlaubte, ein verfeinertes Leben zu genießen, erzog er seine Kinder zur Sparsamkeit, in der Meinung, daß es falsch wäre, auf die äußere Erscheinung zuviel Gewicht zu legen.

«Hast du die Absicht, dein Geld für noch mehr Putz auszugeben?» fragte er lächelnd und zugleich mißbilligend.

«Mein Lieber, ich hoffe, du möchtest deine Tochter nicht in vertretenen Schuhen und schmutzigen Handschuhen sehen?»

Patience fühlte sich sehr erwachsen, als Mama ihr später in vertraulichem Ton erklärte, warum sie den Satin und die Samtbänder verschwiegen hatte: «Es ist besser, den Männern nichts von Rüschen und Falbeln zu erzählen, weil sie ja doch nichts davon verstehen und weil sie das weibliche Schnattern nur langweilt.»

Miss Trent fand, Patience habe noch nie so gut ausgesehen, und schloß daraus, daß nichts ein Mädchen so hübsch mache wie die Vorfreude auf ein Vergnügen. Obwohl Patience von Tiffany in den Schatten gestellt wurde, war etwas sehr Ansprechendes in ihrer Erscheinung. Tiffany war in großer Aufmachung erschienen, sie trug eine auffallende Haube mit sehr hohem Kopfteil und einer gebauschten Wollrüsche, die ihr Gesicht umrahmte. Obwohl Patiences Augen der Glanz von Tiffanys Augen fehlte, hatten sie doch einen außergewöhnlich süßen Ausdruck.

Nachdem Patience einen edelmütigen Streit mit Miss Trent gewonnen hatte, wer lieber mit dem Rücken zu den Pferden sitzen wolle, verlief die Fahrt nach Leeds in vollkommener Harmonie. Tiffany beteiligte sich nicht an diesem Streit, der sie ihrer Meinung nach gar nichts anging, aber sie war bereit, die verschiedenen Einkäufe, die beabsichtigt waren, zu besprechen, und zeigte ein freundliches, wenn auch oberflächliches Interesse an Patiences bescheidenen Wünschen.

Als reiche Erbin hatte sie ein beachtliches Nadelgeld, aber zum Unterschied von Patience keine Ahnung von Sparsamkeit. Wenn etwas ihr Verlangen erregte, wurde es auch schon gekauft. Ihre Laden waren zum Bersten voll mit der Ausbeute ihrer Besuche in Leeds und Harrogate; doch die meisten der gekauften Modesachen paßten ihr dann nicht oder waren nicht so hübsch, wie ihr schien, als sie sie kaufte. Da gab es unzählige Paare Rosetten für Schuhe, ein griechisches Diadem, mit dem sie ihrer Ansicht nach wie eine Hexe aussah, einen Angoraschal, der für eine Witwe paßte, ein Paar spanische Hausschuhe aus meergrünem Ziegenleder, drei Muffe: aus Hermelin, aus Chinchilla und aus Schwanendaunen; ein Gewirr von Flitterbändern und einen Kopfschmuck aus Silberfiligran.

Noch mußte sie immer Mrs. Underhill um Erlaubnis bitten, wenn sie ihr Taschengeld beheben wollte. Eine gewissenhafte Gouvernante mußte Alpträume bekommen beim Gedanken, was geschehen würde, wenn Tiffany einmal in den vollen Besitz ihres Vermögens gelangte.

Miss Trent machte ebenso ausdauernde wie ermüdende Anstrengungen, Tiffany eine Ahnung vom Wert des Geldes beizubringen. Es gelang ihr nicht. Aber da sie nicht eine von denen war, die nach dem Unmöglichen greifen, blieb ihr nichts anderes übrig, als Tiffanys Verschwendungssucht mit allem, was ihrem Scharfsinn gerade einfiel, einzudämmen. Ihr Versagen entschuldigte sie mit der Überlegung, daß ja die Kontrolle über das Vermögen dieser leichtsinnigen Dame einmal in die Hände ihres wenn auch heute noch unbekannten Gatten übergehen werde.

In Leeds angekommen, verließen sie vor dem King's Arms ihren Wagen und setzten den Weg durch die Hauptgeschäftsstraße zu Fuß fort. Leeds war eine lebendige, sich rasch ausbreitende Stadt. Zu den öffentlichen Gebäuden gehörten zwei Tuchhallen, eine von ihnen von eindrucksvollen Ausmaßen, unterteilt in sechs gedeckte Straßen; fünf Kirchen, ein Versammlungshaus und die Börse (ein schöner achteckiger Bau), ein Krankenhaus, ein Erholungsheim für Patienten nach einer Infektionskrankheit, eine Schule, die bis zu hundert Kinder unentgeltlich erziehen und kleiden ließ. Dort hielt sich, was sie nicht wußten, zur Stunde Sir Waldo Hawkridge auf, begleitet von den Leitern der Schule. Außerdem gab es einige Teppichfabriken, Baumwollmühlen und Gießereien, unzählige Wirtshäuser und ein halbes Dutzend ausgezeichneter Poststationen.

Die meisten Häuser waren aus Rotziegeln, freilich geschwärzt vom Rauch der Fabriken. Und dann gab es noch einige Plätze und Paradestraßen, die Privatwohnungen von beachtlicher Eleganz beherbergten, zudem sehr gute Läden und Seidenwarenhäuser.

Es dauerte nicht lange, daß Miss Trents Einfallsreichtum auf die Probe gestellt wurde. Tiffany verliebte sich zuerst in ein Paar französische goldene Schuhspangen mit Straßschnalle. Dann fiel ihr Auge auf einen Überraschungsfächer aus Crêpe, reichlich mit blauen und goldenen Mustern geziert. Miss Trent gab vor, noch nie etwas so Vornehmes wie die Schuhschnallen gesehen zu haben, bedauerte jedoch den raschen Wechsel der Mode, die es unmöglich machte, sie jetzt zu tragen, ohne altmodisch zu erscheinen. Was den Fächer betraf, gab sie zu, daß er eine amüsante Kleinigkeit sei, die sie gerne selbst kaufen würde, wäre er nicht so entsetzlich häßlich!

Nachdem diese Gefahren erfolgreich umgangen waren, steuerte sie ihre Schutzbefohlenen in ein großes, verlockendes Warenhaus, wo die beiden jungen Damen Handschuhe und Bänder kauften und Tiffany einige Paare Seidenstrümpfe erstand. Diese erregten so sehr Miss Chartleys Verlangen, daß sie sich entschloß, zwölf Shilling von dem Geld in ihrer Börse für ein Paar zu verwenden, das sie auf dem Colebatch-Ball tragen wollte.

Dann besuchten sie das Seidenwarenhaus, das Mrs. Chartley empfohlen hatte. Während Tiffany, die sehr bald das Interesse am Satin für Patiences Unterkleid verloren hatte, mit einem verzückten, sie sklavisch bewundernden jungen Verkäufer umherwanderte, um Seiden und Samte anzusehen, stellte Miss Trent der jungen Freundin ihren Geschmack und ihre Erfahrung zur Verfügung. Nachdem ein preiswerter Satin in einem reizenden rosa Ton entdeckt war, blieb bis zur Verabredung mit Lord Lindeth gerade noch so viel Zeit, Patiences Tanzschuhe zu erstehen. Das war bald geschehen, und obgleich es einige Minuten dauerte, Tiffany davon abzuhalten, ein Paar blaue Seidensandalen einzuhandeln, kamen sie zum King's Arms gerade noch zurecht, ehe sich ihr Gastgeber ernste Sorgen machte, daß ihnen ein Unfall zugestoßen sein könnte.

Er erwartete sie in einem Privatsalon, und aus der Fülle von kaltem Fleisch, Obstgelees und Crêmes auf dem Tisch war ersichtlich, daß er sich große Mühe um die Bewirtung gemacht hatte. Nur eines fehlte nach Miss Trents Ansicht; aber nichts hätte sie dazu bewogen, nach des Unvergleichlichen Verbleib zu fragen. Doch als Tiffany, die weniger zurückhaltend war, wissen wollte, wo er zur Zeit sei, hatte Miss Trent zum erstenmal kein Verlangen, eine vorlaute Frage zu rügen.

«Er wird gleich kommen», antwortete Lindeth. «Wir werden keinesfalls auf ihn warten. Er bat mich darum, nicht zu warten und ihn zu entschuldigen, wenn er noch aufgehalten werden sollte. Ich glaube, er verhandelt noch immer mit den Verwaltern. Soviel ich gesehen habe, hat der Advokat – wie war doch sein Name Smith! – eine ganze Anzahl von ihnen versammelt, damit Waldo mit ihnen verhandeln könne.»

«Oh!» rief Tiffany schmollend. «Welch fade Arbeit!»

«Nun», er zögerte und sagte dann: «Ja, natürlich ist es eine langweilige Arbeit – für eine Dame, glaube ich.»

«Ich nehme an, es ist sehr schwierig», sagte Patience nachdenklich. «Besonders, wenn man dem Verwalter alles übertragen will. Man hört von so schrecklichen Fällen von Eigenwilligkeit und Schlamperei – obwohl mein Vater sagt, die Schuld läge oft vor des Verpächters Tür.»

«Ja, das ist sehr wahr», stimmte er ihr bei. «Geizkrägen wie der alte Joseph Calver, die jeden Groschen aus dem Land herauspressen wollen und ihre Äcker kurzfristig an gewissenlose Pennyjäger verpachten, damit ...» Da er die Runzeln auf Tiffanys Stirne sah, hielt er inne. «Aber ich sehe nicht ein, warum wir über diese Dinge sprechen und Miss Wield langweilen.»

«Auch ich sehe es nicht ein», sagte diese mit gezierter Bosheit. «Sagen Sie mir: warum?»

Er lachte: «Nicht um die Welt! Ich führe Sie statt dessen zu Tisch. Hoffentlich sind Sie alle sehr hungrig. Miss Trent, bitte setzen Sie sich hierher. Darf ich Ihnen ein Stück Huhn abschneiden?»

«Mißbrauch der Sprache, Lindeth! Abhacken ist das richtige Wort!» sagte in diesem Augenblick Sir Waldo, den Salon betretend. «Guten Tag, Miss Trent; Miss Chartley – Ihr ergebener Diener; Miss Wield – der Ihrige. Ich bitte alle um Entschuldigung, daß ich mich verspätet habe.»

«Also, das bringt mir eine Bemerkung in Erinnerung, die einmal jemand machte», sagte Miss Trent, scheinbar einer entfallenen Erinnerung nachjagend, «etwas über Gewöhnung an Unpünktlichkeit ... ich möchte wissen, wer das nur gesagt haben kann! Ich habe ein elendes Gedächtnis.»

«Dann sollten Sie keine Zitate verwenden, Ma'am», antwortete Sir Waldo mit lachenden Augen. «Ich habe über die Unpünktlichkeit Ihres Geschlechts geredet.»

«O nein! Hat er das gesagt?» rief Lindeth. «Vom eigenen Geschoß getroffen!»

«Ich flehe euch an: was soll das heißen?!» rief Tiffany.

«Mich dürfen Sie das nicht fragen», antwortete Sir Waldo mit einem herausfordernden Blick. «Julian sollte solche Sachen nicht in der Gegenwart von Damen sagen!»

«Ist es etwas Unanständiges?» fragte sie unschuldig.

«Sehr unanständig!» sagte er mit unüberbietbarem Ernst.

Da sie bemerkte, daß die anderen lachten, schob sie das Kinn vor und errötete. Aber als Sir Waldo sich neben sie an den Tisch setzte und sie aufforderte, alles über ihre Einkäufe zu erzählen, und ein erfreuliches Interesse an dem Erstandenen zeigte, legte sich ihre schlechte Laune bald und sie schnatterte in der besten Stimmung während der ganzen Mahlzeit mit ihm.

Ein neuer Retikül für Patience und Samtbänder, passend zu dem rosa Satin, mußten noch gefunden werden. Als sie vom Tisch aufstanden, entschuldigte sich Sir Waldo und ging, um seine Prüfung der Verwalter fortzusetzen. Aber Lindeth erklärte, ein sehr gutes Auge für Farben zu besitzen, und bat, die Damen begleiten zu dürfen. Da bei Tisch der Unvergleichliche sich ganz der Unterhaltung mit Tiffany gewidmet hatte – Julian wunderte sich über das ungewöhnliche Verhalten seines Cousins –, tat er sein Bestes, um seine beiden anderen Gäste zu unterhalten. Aber Miss Trent machte sich, obwohl sie ihn dabei bestens unterstützte, Sorgen. Der leise Verdacht, daß Lindeth Miss Chartleys Gefallen mächtig errege, hatte sie schon ein- oder zweimal befallen und sich jetzt verstärkt. Des Rektors gut erzogene Tochter benahm sich zwar so, wie es sich gehörte, aber das Leuchten ihrer Augen, wenn sie sie zu Seiner Lordschaft erhob, schien Miss Trent zweifellos zärtlich. Wie Mrs. Chartley fand sie, daß die beiden gut zueinander paßten. Zwar wußte sie – wenn man den Chronisten und Dichtern glauben darf –, daß Liebe auf den ersten Blick bei einem Manne nicht ungewöhnlich ist (bezeugt durch den außergewöhnlichen Aufruhr der Gefühle, die der junge Montague erlebte, als seine Augen zum erstenmal Miss Capulet erschauten), doch andererseits wußte sie nicht, ob der Unvergleichliche Miss Chartley mit Billigung betrachten würde. Sie zweifelte auch nicht daran, daß er, in diesem Fall, versuchen würde, eine mögliche Werbung Julians im Keime zu ersticken. Diese Gewißheit, dachte sie, sollte sie warnen, daß Sir Waldo ein skrupelloser Mensch war, vor dem sie sich in acht nehmen sollte. Das Unglück war, daß sie sich eine solche Möglichkeit nur in seiner Abwesenheit eingestand; doch wenn sich ihre Augen in einem Zimmer trafen, war sie von seiner Rechtschaffenheit überzeugt.

Er fand Gelegenheit, einige Worte mit ihr zu wechseln, als sie das King's Arms verließen, und fragte sie plötzlich: «Werde ich Sie auf dem Ball bei den Colebatchs sehen?»

«Ja, ich bin eingeladen, und die liebe Mrs. Underhill sagt, ich dürfe gehen – besser gesagt: sie besteht darauf.»

«En Chaperon?»

«Nein, sie geht selbst, für mich ist es ein freier Tag.»

«Dann werde ich mir nicht die Augen nach Ihnen ausweinen müssen.»

Er wartete ihre Antwort nicht ab und verabschiedete sich mit kurzem Händedruck.

Die nächste Stunde verbrachten sie sehr angenehm in verschiedenen Läden, wo sie nicht nur den Retikül und die zum Satin passenden Bänder fanden, sondern wo Tiffany auch ein Paar Ohrgehänge aus Silberfiligran kaufte und Miss Trent ein Sträußchen Kunstblumen, die zu ihrem einzigen Ballkleid paßten. Lindeth' Anwesenheit trug viel zur Fröhlichkeit bei dem Unternehmen bei. Er nahm regen Anteil an den Einkäufen, doch da er wenig von Damenmode verstand, machte er einige wunderbare Schnitzer, die Heiterkeit erregten. Er fand auch einen Konditor, der Eis zum Kauf anbot, und da den Damen heiß war und sie alle schon ein wenig müde waren, hätte er keine Schwierigkeiten, sie zum Besuch des Ladens zu bewegen. Miss Trent fand, daß sie noch selten einen so angenehmen Tag verbracht hatte.

Nach dem Genuß von Zitroneneis verließen sie den Konditor und lenkten ihre Schritte nach dem King's Arms. Die Straße war belebt und bot zuwenig Platz, um zu viert in einer Reihe zu gehen. Die beiden Mädchen gingen also voran, die letzten Modefragen eifrig diskutierend, Lindeth bot Miss Trent höflich seinen Arm. Ein Gemälde, das in einem Schaufenster hing, zog seine Aufmerksamkeit an. Er sah, daß es den Dripping Well darstellte, und machte Miss Trent aufmerksam. Aber während sie es betrachteten, wurde die Harmonie des Tages plötzlich rauh gestört. Es gab einen Auflauf und Rufe: Haltet den Dieb!, und als sie sich rasch umsahen, bemerkten sie, daß ein in Lumpen gekleideter Knirps, einen Apfel in der verkrampften Hand, auf sie zulief, den Ausdruck gejagten Schreckens in den weitaufgerissenen Augen. Er zwängte sich zwischen den Menschen durch und hatte beinahe Patience und Tiffany erreicht, als ein Bürger mittleren Alters seinen Spazierstock zwischen die Beine des Flüchtenden warf, um ihn zu Fall zu bringen. Ein harter Sturz war die unausbleibliche Folge; das Kind wollte ausweichen, um dem übereifrigen Bürger zu entgehen, und fiel nach vorne, aber nicht auf den Gehsteig, sondern auf das Katzenkopfpflaster der Fahrbahn.

Patience stieß einen Schrei des Protestes aus, warf Päckchen, Sonnenschirm und Geldbörse von sich und sprang vor den Augen der entsetzten Miss Trent auf die Fahrbahn, faßte den Knirps unter den Hufen eines kastanienbraunen Hengstes, der, vor einen Tilbury gespannt, mit raschem Trab die Straße herunterkam. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob sie niedergetrampelt würde. Der Hengst bäumte sich auf, schnaubte und wurde – wie durch ein Wunder – zur Seite gelenkt. Der Lenker des Tilbury war ein schmucker junger Mann, dessen Kleidung ihn, so eindeutig wie seine Handhabung der Zügel, als einen Angehörigen der höheren Gesellschaftsklasse auswies. Sein Beitrag zu dem allgemeinen Aufruhr war ein kräftiger Fluch. Im nächsten Augenblick schoß Lindeth an Miss Trent vorbei zu Patiences Rettung, Tiffany ganz unzeremoniell zur Seite schiebend.

Er neigte sich über Patience.

«Guter Gott! Miss Chartley, sind Sie verletzt?»

Sie hatte den Knirps aus der Gefahr gerissen, kniend hielt sie ihn in ihren Armen und blickte voll Entsetzen auf sein Gesicht, über das von einer Wunde auf der Stirn das Blut floß. Sie blickte auf und sagte: «O nein, nein! Aber der kleine Junge! – Etwas um das Blut zu stillen – ein Taschentuch – irgend etwas! – Oh, bitte, einer von euch!»

«Hier! Nehmen Sie meines», sagte Lindeth und drückte es Patience in die Hand. «Armer kleiner Teufel, warf sich selbst zu Boden!»

Er blickte auf den Lenker des Tilbury und sagte höflich: «Es tut mir leid, Sir, ich möchte Ihnen danken, daß Sie so prompt gehandelt haben – ich nehme an, daß Ihr Pferd nicht verletzt wurde.»

Der schmucke Herr erkannte, daß das Mädchen, das neben dem Randstein kniete, jung und sehr hübsčh und offensichtlich aus gutem Haus war. Er wurde sehr rot und stammelte: «Nein, nicht im geringsten. Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung, Ma'am! Die Aufregung des Augenblicks – habe mich vergessen – beim Himmel – Sie hätten getötet werden können! Das tapferste Ding, das ich je im Leben sah, beim Himmel, so war es!»

Sie sah kurz auf und sagte: «O nein, ich bin Ihnen sehr dankbar – kein Wunder, daß Sie böse waren – aber sehen Sie – ich mußte es tun!»

Miss Trent, der es gelungen war, sich einen Weg durch die immer dichter werdende Menge zu bahnen, beugte sich über sie und fragte besorgt: «Wie schwer ist er verletzt, meine Liebe?»

«Ich weiß nicht, sein Kopf schlug auf die Steine, ich muß ihn ins Spital bringen.»

«Ja, ich fürchte, der Riß muß genäht werden», sagte Miss Trent, während sie aus ihrem eigenen Taschentuch ein kleines Kissen formte, um es gegen die Wunde zu pressen. «Halten Sie seinen Kopf so, daß ich Lindeth' Taschentuch darum binden kann.»

Da meldete sich eine neue Stimme zu Wort. Der Eigentümer des gestohlenen Apfels, ein dicker, atemloser Geschäftsmann erschien auf der Szene und bekundete laut seine Absicht, einen Konstabler zu holen, damit er das Ungeziefer in Haft nehme. In heller Wut sagte er in rauhem Ton zu Patience, daß der Platz für solche Strauchdiebe das Gefängnis und nicht das Spital sei.

Sie rief beschwörend: «Ich flehe Sie an, übergeben Sie ihn nicht dem Konstabler. Er hatte sehr unrecht, Sie zu bestehlen, aber sehen Sie doch! Er ist ein kleiner Junge – und wie elend er ist! Außerdem ist er schwer verletzt!»

«Na und?» rief der Kaufmann. «Geschieht ihm schon recht, den Kragen hätte er sich brechen sollen! Es ist eine Schande und ein Skandal, wie er und seinesgleichen sich herumtreiben und nur eine Gelegenheit abwarten, um zu stibitzen. Ich werde an diesem jungen Dieb ein Exempel statuieren – bei Gott, das werde ich tun!»

«He, Sie Schurke! Ist das die Art, mit einer jungen Dame zu sprechen?» rief nun der Besitzer des Tilbury ärgerlich. «Und ich verbürge mich, daß dieser Balg nicht halb so ein Dieb ist wie Sie! Ich kenne euch Händler! Ihr seid alle gleich: verkaufen eine Pennykerze als Schiffslaterne!»

Natürlich war die Wirkung dieser Einmischung weit davon entfernt, die Sache zum Besseren zu wenden. Der beteiligte Händler wandte sich an die Umstehenden um Unterstützung, und obwohl einige ihm empfahlen, den Dieb laufen zu lassen, nahmen andere für ihn Partei. Pro und Kontra schwirrten durch die Luft. Lindeth, der nie vorher im Mittelpunkt einer so peinlichen Szene gewesen war, nahm Witz und Würde zusammen und befahl dem Händler, den Wert des gestohlenen Apfels anzugeben. Seine Stimme hatte einen erstaunlichen Grad von Autorität.

Der Mann, der anfangs entschlossen schien, Rache zu üben, fand sich, nachdem sechs oder sieben der Umstehenden sich eingemischt hatten, bereit, die ihm angebotene Münze zu nehmen und sich mit seinen Helfern zurückzuziehen.

Daraufhin verlief sich die Menge.

Als der kleine Dieb von seiner Ohnmacht erwachte, begann er zu weinen und wollte nach Hause zu seiner Mammy. Während Patience ihn zu beruhigen versuchte und ihm versprach, daß er nach Hause gebracht und bestimmt nicht eingesperrt werde, hielten Miss Trent, Lindeth und der sportlich gekleidete Herr schnellen Rat.

Während dieser aufregenden Szene stand Tiffany vernachlässigt allein da, starr vor Demütigung, hin und her gestoßen von den Gaffern in der Menge, die die Gruppe neben dem Rinnstein näher sehen wollten.

Aus dem Weg gestoßen von Lord Lindeth, streng angeherrscht von Miss Trent, nicht wie ein Stock dazustehen, sondern Patiences Eigentum vom Boden aufzuheben! Ohne Begleitperson oder männlichen Schutz von seiten jener, deren erste Sorge ihre Sicherheit und ihre Bequemlichkeit hätte sein müssen! Selbst der sportlich gekleidete Herr im Tilbury schenkte ihr keine Beachtung! Patience – Patience kniete auf der Straße, das Kleid blutbefleckt, einen zerlumpten, widerlichen Bengel im Arme haltend! Patience war die Heldin dieses höchst aufregenden Stückes, während es ihr, der schönen Miss Wield, überlassen wurde, zwei Sonnenschirme, zwei Geldbörsen und eine Unmenge von Paketen zu halten!

Sie lauschte in kochender Wut den Plänen, die entworfen wurden. Der Herr im Sportanzug – er stellte sich als Mr. Baldock vor – bat um die Erlaubnis, sich zur Verfügung stellen zu dürfen und Patience und den schmutzigen kleinen Jungen ins Krankenhaus zu fahren. Lindeth versprach, daß er nachher beide zur Wohnung des Jungen bringen werde (zweifellos eine Höhle in den hintersten Slums der Stadt), und Miss Trent versprach, sofort zu Fuß in das Krankenhaus zu gehen und dort Patience alle Hilfe und jeden Schutz angedeihen zu lassen, die in ihrer Macht stünden. Keiner dachte an sie! Sie war müde. Sie wollte nach Hause! Nur aus reiner Güte war sie damit einverstanden gewesen, daß Patience (die sie nie gemocht hatte) sie nach Leeds begleiten dürfe. Sie hatte – ohne ein Wort des Protestes – gestattet, durch die ganze Stadt geschleift zu werden, um einen blöden rosa Satin zu suchen! Ihre eigene Gesellschafterin – deren Aufgabe schließlich darin bestand, auf sie achtzugeben – war, statt sie von dieser erniedrigenden Szene zu befreien, nur auf Patiences Wohlergehen bedacht und erwog jetzt – ohne sich um sie zu kümmern – mit Lindeth, das lästige Kind in ihrem –Tiffanys! – Wagen nach Hause zu fahren!

«Ich glaube, ich werde ohnmächtig!» verkündete sie mit durchdringender Stimme, die diese Ankündigung Lügen strafte.

Lindeth, der das Kind aus Patiences Arm hob, achtete nicht auf sie. Miss Trent, die Patience auf die Beine half, streifte sie nur mit einem Blick und sagte: «Ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern, Tiffany!» und Mr. Baldock warf nur einen flüchtigen Blick auf sie und sagte: «Ich sehe nicht ein, warum Sie ohnmächtig werden sollten. Es hätte mich nicht gewundert, wenn diese Dame ohnmächtig geworden wäre – aber die nicht! Ich habe Ihren Namen nicht gut verstanden, aber ich gestatte mir zu sagen, daß Sie ein richtig nichtssagendes Geschöpf sind. Nein, das hätte ich nicht sagen sollen – so etwas sagt man nicht zu einem weiblichen Wesen. Entschuldigen Sie! War nie ein Süßholzraspler. Was ich sagen wollte war: Sie sind – Sie sind eine ...»

«Heldin!» sprang Lindeth lachend ein.

«Ja, aber das ist die andere – eine ausgesprochene Heldin!»

«O bitte!» Patience wehrte ab. «Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber eine Heldin bin ich bestimmt nicht. Wenn Sie jetzt so gut wären, mich zum Krankenhaus zu fahren – bitte gleich! Er blutet noch immer, und ich fürchte, auch sein Bein ist verletzt. Es ist recht angeschwollen, und er weint, wenn man es berührt.» Sie sah sich um. «Ich weiß nicht, wo meine Pakete hingekommen sind – oh, Tiffany, du hast alles! Danke! Es tut mir so leid, wie unangenehm für dich!»

«Ich bitte dich, sprich nicht darüber!» sagte Tiffany, vor Zorn bebend. «Ich tue nichts lieber als Sonnenschirme und Pakete für andere Leute aufzuheben. Und ich habe nichts lieber, als von fremden Leuten herumgestoßen zu werden. Ich flehe dich an, nimm keine Rücksicht auf mich, und verlange nur von mir, meinen Wagen für diesen schlimmen, jämmerlichen Jungen zu benützen!»

«Die kann keifen!» sagte Mr. Baldock und stieß einen Pfiff aus.

Mit einem befremdeten Blick sah Lindeth auf Tiffany und wandte sich ab. Dann sagte er ruhig: «Bitte, Sir, helfen Sie Miss Chartley in Ihren Tilbury. Ich reiche ihr das Kind, und wir können losfahren.»

«Ja, aber das wird verteufelt eng sein», sagte Mr. Baldock zweifelnd.

«Nein, es wird gehen, ich sitze hinten auf.» Er wartete, bis Patience den Wagen bestiegen hatte, legte den winselnden Jungen in ihren Schoß und sagte sanft: «Seien Sie nicht traurig, es ist kein Grund dafür vorhanden, glauben Sie mir!»

Sie war am Ende ihrer Kraft und flüsterte: «Ich hätte nie geglaubt – ich wußte nie – Lord Lindeth, bleiben Sie bei ihr. Ich werde schon allein fertig. Vielleicht könnten Sie einen Wagen für mich mieten? Ja, natürlich, das sollte ich tun! Würden Sie, bitte, den Kutscher anweisen, zum Krankenhaus zu fahren?»

«Machen Sie sich keine Sorgen!» bat er lächelnd. «Wir werden sofort besprechen, was zu geschehen hat. In der Zwischenzeit wird Miss Trent nach Miss Wield sehen. Ich komme mit Ihnen!» Er wandte sich um, weil Miss Trent kam, um Patience ihre Börse zu reichen, und erklärte ihr kurz, was seiner Meinung nach nun zu geschehen habe. Leise fügte er hinzu: «Werden Sie in das Krankenhaus kommen können? Ich glaube, Sie sollten, nicht wahr?»

«Natürlich werde ich kommen», antwortete sie, «sobald ich Miss Wield in das King's Arms gebracht habe.»

Er atmete erleichtert auf. «Ja, bitte! Jetzt suche ich Waldo, er ist der Mann für diese Situation!»

Das dachte sie selbst und stimmte von Herzen zu – wenngleich es sie wunderte, daß er das sagte. Doch war Seine Lordschaft nun selbst ein wenig unsicher, denn eigentlich hatte er mehr zu sich als zu ihr gesprochen, da Waldo es nicht liebte, daß man seine Philantropie ausposaunte, und er bedauerte bereits, das gesagt zu haben.

Tiffany stolzierte, außer sich vor Wut über die fortgesetzte Vernachlässigung, auf sie zu und verlangte mit einer vor Leidenschaft bebenden Stimme zu wissen, wie lange man sie noch warten lassen werde.

«Keine Minute mehr!» antwortete heiter ihre Lehrerin, nahm ihr Patiences Sonnenschirm und die verschiedenen Pakete ab, mit denen sie noch immer belastet war. Über die Schulter lächelte sie Patience aufmunternd zu: «Wir treffen uns bald im Krankenhaus, Miss Chartley! Also komm, Tiffany!»

«Sie werden sie nicht im Krankenhaus treffen!» sagte Tiffany. «Ich möchte nach Hause fahren, und es ist Ihre Pflicht, bei mir zu bleiben! Und wenn Sie nicht tun, was ich will, werde ich es meiner Tante sagen, und Sie werden entlassen!»

«Ohne Zeugnis!» nickte Miss Trent, schob eine Hand in Tiffanys Arm und steuerte sie mit festem Griff über das Pflaster. «Und wenn ich dich nach Hause brächte und Miss Chartley im Stich ließe, würde ihre Mama auch meine sofortige Entlassung verlangen – also bin ich in jedem Fall vollständig ruiniert. Ich bin ganz krank angesichts dieser Aussichten. Aber an deiner Stelle würde ich auf mein Benehmen achten.»

«Auf mein Benehmen?» Tiffany schnappte nach Luft. «Wenn die abscheuliche Patience Chartley in ihrer heuchlerischen Art sich wie ein Wildfang benimmt, damit jeder sie für eine Heldin hält ...»

«Benimm dich, Tiffany!» unterbrach sie Miss Trent. «Ich werde nicht in der Öffentlichkeit mit dir streiten, darum ist es besser, du hältst den Mund!»

Das zu tun war die aufgeregte Schöne zu böse, und sie erging sich den Weg bis zum King's Arms in Tiraden, die ebenso weitschweifig wie absurd waren. Miss Trent antwortete nicht, aber sie hatte größte Lust, ihren Schützling zu schlagen. Sie machte Tiffany darauf aufmerksam, daß sie die unerwünschte Beachtung jener Passanten auf sich ziehe, die den Vorzug hatten, Bruchteile ihrer Verleumdungen zu hören. Daraufhin schimpfte Tiffany leise weiter.

Man hätte annehmen können, daß die Heftigkeit ihrer Erregung zur Zeit der Ankunft im King's Arms erschöpft sein werde, aber sie war aus elastischem Material, und die Aufzählung des Unrechts, das man ihr antat, und die Beschuldigungen gegen alle, mit denen sie zu tun hatte, waren nur das Vorspiel zu einem Sturm, der – wie Miss Trent aus Erfahrung wußte – auch sie einbeziehen würde. Dann aber würde er jeden, der ihn hörte, in Schrecken versetzen und seinen Höhepunkt in einem Anfall nervenzerrüttender Hysterie erreichen. Sie wußte, daß es zwecklos war, mit Tiffany vernünftig zu reden. Sie drängte sie also in den Salon, den Lindeth für den Tag gemietet hatte. Dort ließ sie sie allein und schützte vor, Hirschhornsalz besorgen zu wollen. Tiffany hatte bereits in einer unheilverkündenden stürmischen Art zu weinen begonnen, aber Miss Trent glaubte nicht, daß ein Anfall von Hysterie bevorstehe, da niemand da war, der erschrecken oder sich Sorgen machen konnte. Natürlich war sie durchaus fähig, etwas Fürchterliches anzustellen, wenn sie sich in einen ihrer Anfälle verrannt hatte.

Nach raschem überdenken der Umstände kam Miss Trent zu dem Schluß, daß Tiffany als letzten Ausweg dem Kutscher ihrer Tante befehlen könnte, die Pferde anzuspannen und sie sofort nach Staples zu fahren. Wenn aber John sich weigerte, ihrem Befehl zu gehorchen – was er sicherlich tun würde –, blieb Tiffany nichts anderes übrig, als die Porzellannippes, die auf dem Kamin standen, zu zertrümmern.

Da Miss Trent die Dinge in so drastischem Licht sah, war sie viel besorgter, als sie Tiffany vermuten ließ. Einerseits hatte sie dieser unversöhnlichen jungen Dame gegenüber Verpflichtungen, die bei aller Phantasie Besuche in den elenden Slums der Stadt nicht einschlossen, andererseits hatte Mrs. Chartley ihrer Tochter die Einkaufstour erlaubt, in der Gewißheit, daß sie behütet werden würde. Weder sie noch Miss Trent konnten natürlich den Unfall voraussehen, der diese doppelte Behütung so schwierig gestaltete. Aber daß Mrs. Chartley es äußerst tadelnswert von Miss Trent fände, Patience der alleinigen Begleitung und dem alleinigen Schutz von Lord Lindeth zu überlassen, das stand (nach Miss Trents Meinung) außer Zweifel. Irgendwie mußte sie die beiden in Konflikt geratenen Pflichten versöhnen. Aber was immer sie in Erwägung zog, sie konnte zu keiner besseren Lösung gelangen, als Sir Waldos Hilfe anzurufen – wie Lindeth vorgeschlagen hatte. Wenn er dazu gebracht werden könnte, Tiffany Gesellschaft zu leisten, bis Patiences Protégé bei seinen Eltern abgeliefert war, konnte die unselige Episode noch glücklich enden.

Miss Trent wollte also nicht Hirschhornsalz besorgen, sondern den Weg zum Krankenhaus einschlagen, wo Lindeth in aller Eile seinen Cousin ausfindig machen sollte.

Es begab sich aber, daß Sir Waldo das King's Arms betrat, gerade als sie das Haus verlassen wollte. Nie war ihre Dankbarkeit oder Erleichterung größer gewesen.

«Wie glücklich bin ich, Sie zu sehen!» rief sie aus. «Sir Waldo, Sie sind der einzige Mensch, der mir aus dieser Klemme helfen kann, und ich bitte Sie sehr darum, mir zu helfen.»

«Sie können sich auf mich verlassen», sagte er erstaunt, aber ruhig. «In welche Klemme sind Sie geraten, und was kann ich tun, um Sie zu befreien?»

Sie lachte ungezwungen. «O du meine Güte! Ich muß Ihnen recht fassungslos erscheinen. Nicht ich bin es, die in der Klemme sitzt, sondern ...»

«Einen Augenblick», unterbrach er sie. «Wissen Sie, daß Blut auf Ihrem Kleid ist?»

Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihr Kleid. «Wirklich – ja, aber das ist nicht wichtig.»

«Nun, da Sie keine Verletzung haben, glaube ich Ihnen. Wessen Blut ist es?»

«Ich weiß nicht – das heißt, ich weiß nicht, wie er heißt – ein kleiner Junge – ich muß Ihnen erzählen, was alles geschehen ist!»

«Tun Sie das!» forderte er sie auf.

Sie berichtete das Ereignis so kurz es ging, machte aber kein Hehl daraus, daß es nicht der Unfall war, der ihr zu schaffen machte, sondern Tiffanys widerspenstiges Benehmen. «Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, daß sie in einem solchen Augenblick einen Wutanfall bekommt – aber Sie kennen sie!»

«Natürlich kenne ich sie. Genau das habe ich von ihr erwartet. Wie könnte es anders sein, wenn ihr die Rolle der Heldin in diesem aufregenden Drama weggeschnappt wurde und sie nur Zuschauerin ist! Wo befindet sie sich jetzt?»

«Oben im Salon, wo wir den Lunch hatten. Ja, natürlich war das der Grund, und ich weiß nicht, was sie mehr empörte: daß Ihr Cousin sie nicht beachtete oder daß der sonderbare Mr. Baldock sagte, er verstehe nicht, warum sie ohnmächtig werden sollte. Ja, Sie haben leicht lachen! Ich gestehe, ich würde es auch sehr komisch finden, wenn es mich nichts anginge. Sehen Sie jetzt die Klemme, in der ich zapple? Weder kann ich Tiffany hier – weiß Gott wie lange – allein lassen, noch kann ich Miss Chartley im Stich lassen. Ich war nie verwirrter! Aber Ihr Cousin sagt, Sie seien der richtige Mann, uns in dieser Situation zu helfen und – obwohl ich ein wenig überrascht war, daß er das sagte – ich sah sofort ein, daß er recht hatte. Sir Waldo, möchten Sie so besonders liebenswürdig sein, bei Tiffany zu bleiben? Bitte, lenken Sie sie ab – Sie können das –, indessen gehe ich mit Patience hin, wo immer der Junge wohnt.»

«Ich glaube nicht, daß Lindeth das so gemeint hat, aber natürlich übernehme ich Tiffany. Werde ich sie in einem hysterischen Anfall vorfinden?»

«Nein. Denn ich verschwand, ehe sie Zeit hatte, einen Anfall zu bekommen. Wissen Sie, ein Anfall hat wenig Sinn, wenn kein Zuschauer zugegen ist.»

Er lächelte, sagte aber: «Ich hoffe, daß sie nicht einen zu meiner Erbauung bekommt, denn ich wüßte mir nicht zu helfen.»

«Sie wird keinen bekommen», sagte Miss Trent zuversichtlich. «Schmeicheln Sie ihr nur so, wie Sie es so gut verstehen!»

«Ich glaube, der beste Dienst, den ich leisten kann, ist, sie nach Staples zurückzubringen; dann brauchen Sie sich ihretwegen keine Sorge zu machen.»

Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich, und sie sagte dankbar: «Nein, jetzt mache ich mir wirklich keine Sorgen mehr. Es ist nichts einzuwenden: in einem offenen Wagen mit dem Groom auf dem Rücksitz ...»

«Ganz richtig! Diese Umstände werden mich zur Beherrschung zwingen, wenn ich das Verlangen bekomme, sie stürmisch zu lieben», sagte er humorvoll.

«Ja, wenn es das wäre! Aber das habe ich nicht gemeint. Ich weiß, daß Sie kein solches Verlangen verspüren.»

«Davon können Sie überzeugt sein! Aber ich muß noch etwas sagen, ehe wir uns trennen, Ma'am. Soviel Sie mir sagten, kommt der Knirps aus den Slums, entweder vom Osten der Stadt, wo die Färbereien und die meisten Fabriken sind, oder vom Südufer des Flusses.»

«Ich fürchte, Sie wollen damit sagen, daß ich Miss Chartley nicht erlauben sollte, in diese Gegenden zu gehen. Ich weiß – aber ich glaube, ich werde sie nicht daran hindern können.»

«Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber Sie müssen mir versprechen, den Wagen nicht zu verlassen. Soweit mir bekannt ist, gibt es dort zwar momentan keine Infektionskrankheiten, aber wenige der Wohnungen sind besser als Schuppen, und voll von Unrat, und es wäre sehr unklug von Ihnen oder Miss Chartley, dort einzutreten.»

Sie sah ihn verwundert an. «Ich war noch nie in einem Armenviertel. Kennen Sie es denn?»

«Ja, und Sie können mir glauben, ich weiß, wovon ich spreche. Habe ich Ihr Wört?»

«Natürlich! Um nichts in der Welt würde ich Miss Chartley der geringsten Gefahr aussetzen.»

«Brav so!» sagte er und lächelte sie herzlich an. «Bitte, sagen Sie Julian, daß ich Sie unter seinen Schutz stelle – und daß ich die ärgste Ihrer Verlegenheiten aus dem Weg geräumt habe.»

Er reichte ihr die Hand, und als sie die ihrige hineinlegte, hob er sie zu seinen Lippen und küßte zart ihre Finger.