5

Lord Lindeth, der die Nachricht, daß er zu einer Dinner-Party verschleppt werde, mit Unmut aufgenommen hatte, kehrte nach seiner Begegnung mit Miss Wield in anderer Stimmung nach Broom Hall zurück. Vor allem sah er alle Visitenkarten durch, die bei seinem Cousin abgegeben worden waren. Dann stürzte er in die Bibliothek, wo Sir Waldo über Zinsbüchern seines verstorbenen Cousins grübelte, und fragte: «Waldo, kennst du jemanden, der Wield heißt?»

«Nein, ich glaube nicht», sagte Sir Waldo geistesabwesend.

«Bitte, paß auf!» bettelte Julian. «Von Staples – ist das nicht das Haus mit dem schmiedeeisernen Gitter, hinter dem Dorf? Sie müssen ihre Karte abgegeben haben, aber ich kann sie nicht finden.»

«Dann haben sie eben ihre Karte nicht abgegeben.»

«Ja, aber – natürlich muß der Name nicht unbedingt Wield sein; sie sprach von ihrer Tante – aber trotzdem kann ich keine Karte von dort finden.»

Sir Waldo blickte auf, ein Schmunzeln auf den Lippen.

«Oh, sie?»

«Oh, Waldo, ich habe ein himmlisches Mädchen getroffen», eröffnete ihm Seine Lordschaft. «Bitte, denke nach: wer wohnt in Staples?»

«Miss Wield, nehme ich an.»

«Ja, aber – bitte sei nicht ironisch! Sicher weißt du, wem das Haus gehört?»

«Ich sehe keinen Grund, warum ich das wissen muß – und ich weiß es auch nicht.»

«Hoffentlich hast du die Karte nicht verloren! Du nimmst doch auch an, daß ihr Onkel hier war?»

«Nun, so weit habe ich der Sache keine Bedeutung geschenkt», sagte Sir Waldo entschuldigend. «Vielleicht mag er mich nicht!»

Julian starrte ihn an: «Unsinn! Warum sollte er das?»

«Ich kann es mir auch nicht vorstellen!»

«Nein, niemand kann das! Aber hör auf, Stroh zu dreschen, und sei ernst!»

«Ich bin ernst», widersprach Sir Waldo, «und wirklich ganz betrübt! Ich bin bereits jemandem vorgestellt worden, der – wenn ich mich nicht täusche – mich durchaus ablehnte.»

«Wem?» fragte Julian.

«Einer Dame, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann. Noch dazu einer außergewöhnlich», fügte er nachdenklich hinzu, «und gar nicht im gewöhnlichen Sinne hübschen Dame.»

«Das muß eine komische Person sein», sagte Julian. «Ich glaube, daß du das nur vorgibst. Warum sollte sie dich ablehnen?»

«Ich fürchte, wegen meiner verhängnisvollen Hingabe an den Sport.»

«Dumme Gans! Aber, Waldo, bitte, denke nach, bist du sicher, daß niemand von Staples hier war?»

«Nicht, daß ich wüßte. Jetzt sind wir wieder dort, wo wir waren, nicht wahr?»

«Allerdings! Aber vielleicht kommt sie auf die Party. Sie hat es nicht bestimmt zugesagt, aber – Herrgott! wie gut, daß wir uns unterwegs bei den Arkendales aufgehalten haben, sonst hätte ich meinen Abendanzug nicht mitgebracht!»

Diese scharfsinnige Bemerkung entlockte Sir Waldo ein Lächeln. Denn Julian hatte die Nachricht, daß sie ihre Reise nach Broom Hall mit einem Besuch bei einem der größten Pedanten im Lande unterbrechen würden, unerträglich gefunden; nun bezeichnete er dies als einen Glücksfall. Ebensowenig erwartete er sich eine Unterhaltung, als er erfuhr, daß er in die Einladung Mrs. Micklebys an Sir Waldo einbezogen war. Er sagte, er würde seinen Cousin nicht begleitet haben, hätte er geahnt, daß sie aus dem Londoner Trubel geflohen waren, um in eine Reihe ländlicher Dinner-Partys gestürzt zu werden.

Aber alle diese ungeselligen Ansichten waren nun vorbei. Nun war es nicht mehr Julian, sondern Sir Waldo, der bedauerte, wegen einer Dinner-Party an einem regnerischen Abend ausgehen zu müssen. Julian zweifelte nicht mehr, daß es ein reizender Abend werden würde. Und über das uralte Vehikel, das man aus dem Wagenschuppen für sie herausschleuste, sagte er zu seinem Cousin, der es mißtrauisch betrachtete, er werde es sicher sehr bequem finden.

Miss Wield wäre erfreut – wenn auch nicht überrascht – gewesen, hätte sie gewußt, wie begierig Seine Lordschaft einer Wiederbegegnung mit ihr im Gutshaus entgegensah, und wie enttäuscht er war, sie dort nicht zu treffen. Doch hätte sie – wäre sie ein unsichtbarer Gast gewesen – seine Enttäuschung nicht erkannt, denn sein Gehaben verriet nichts. Er war zu höflich, sich zu verraten, und zu fröhlich und freundlich veranlagt, um den geringsten Mangel an Herzlichkeit zu zeigen. Es tat ihm leid, daß dieses zauberhafte Mädchen abwesend war, aber er hatte den Namen der Tante in Erfahrung gebracht und verschiedene Pläne entworfen, Miss Wields Wege zu kreuzen.

Ein Blick in den Salon genügte, um Sir Waldo zu sagen, daß Miss Wield nicht anwesend war. Miss Chartley und Miss Colebatch waren die am besten aussehenden jungen Damen; die eine engelhaft blond, die andere eine hübsche Rothaarige, aber keine stimmte mit Julians lyrischer Beschreibung von Miss Wields unvergleichlicher Schönheit überein. Sein Blick streifte Julian; und er stellte amüsiert fest, daß sein Cousin von den jüngeren Teilnehmerinnen der Gesellschaft sehr gut unterhalten wurde. Er war nicht überrascht, denn er hatte Julians Entzücken keine große Bedeutung beigemessen. Julians Interesse für das schöne Geschlecht war eben erst geweckt worden, befand sich aber noch im Stadium der Experimente. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte er mindestens ein Dutzend Göttinnen entdeckt, die seiner begeisterten Bewunderung würdig waren. Der ältere Cousin hatte keinen Grund zu Befürchtungen. Julian freute sich an manchem Flirt, was seiner Jugend entsprach, aber er war noch weit davon entfernt, eine dauerhafte Leidenschaft zu entwickeln.

Sir Waldo selbst fand sich damit ab, einen langweiligen Abend über sich ergehen zu lassen; selbst das Vergnügen der näheren Bekanntschaft mit der Dame, die ihn nicht mochte, war ihm versagt. Er suchte sie vergebens und war sich seiner Enttäuschung bewußt. Zwar konnte er sich ihres Namens nicht erinnern, aber er erinnerte sich, von der Atmosphäre kühler Würde und dem Lächeln, das so plötzlich in ihre Augen sprang, angezogen gewesen zu sein. Auch war sie intelligent und hatte Sinn für Humor – eine seltene Gabe bei Frauen, dachte er. Er hätte sie gerne näher kennengelernt und sich gefreut, sie wiederzusehen.

Aber sie befand sich nicht unter den Anwesenden, und statt ihrer war er mit einer Anzahl von Personen mittleren Alters versorgt, die ebenso langweilig wie würdevoll waren. Auch einige Jungen und Mädchen waren da. Von den letzteren gefiel ihm Miss Chartley am besten, und er wechselte einige Worte mit ihr. Die Süße ihres Gesichtsausdruckes – trotz einer ihr recht gut passenden Schüchternheit – gefiel ihm; sie war imstande, seine Begrüßung ohne Erröten, ohne nervöses Kichern und ohne ihn durch Blasiertheit beeindrucken zu wollen, zu erwidern. Was die jungen Männer betraf, mußte er im Moment, da er den Salon betrat, erkennen, daß die meisten von ihnen nur Augen für jedes Detail seines Abendanzuges hatten. Zwar waren sie zu schüchtern, um sich vorzudrängen, aber jedem von ihnen stand die Hoffnung im Gesicht geschrieben, sich, ehe der Abend noch zu Ende war, eines Gesprächs mit dem Unvergleichlichen rühmen zu können. Er war es gewöhnt, der Gegenstand der Heldenverehrung jedes jungen Sportmannes zu sein, eine Schmeichelei, die er weder suchte noch schätzte. Mr. Underhill, Mr. Mickleby, Mr. Jack Banningham und Mr. Gregory Ash, die sich tief verneigten und ihn mit «Sir» und «Euer Gnaden» ansprachen, hätten mit Erstaunen vernommen, daß der einzige von ihnen, der Sir Waldos launige Aufmerksamkeit erregte, Humphrey Colebatch war, ein (wie seine Schwester) rothaariger Junge, der schrecklich stotterte. Sein liebevoller Vater stellte ihn etwas ängstlich mit den Worten vor: «Mein dummer Dicker!», und auf seine Reitkünste anspielend: «Leider nicht von Ihrer Art». Der Junge sagte in der stoßweisen Art der Sprachbehinderten, daß er nicht an Sport interessiert sei.

«Er interessiert sich nur für Bücher», sagte Sir Ralph, zerrissen zwischen dem Stolz auf seinen geliebten Sohn und der schrecklichen Angst, Vater einer Mißgeburt zu sein. «Als Reiter an letzter Stelle im Land – aber über Geschmack läßt sich nicht streiten, nicht wahr? Sehen Sie sich meine Tochter an! Hat in ihrem Leben noch kein Buch aufgeschlagen, führt aber die Zügel mit leichter Hand, Reiten ist für sie die selbstverständlichste Sache.»

«Wirklich?» sagte Sir Waldo höflich und mit einem ermunternden Blick auf Humphrey: «Oxford?»

«Cam-Cam-Cambridge», und er fügte nach kurzem Widerstreben hinzu: «Magdalene College i-im dri-dritten Jahr.»

«Magdalene! War ich auch, allerdings Magdalen in Oxford. Was werden Sie dann tun?»

«I-ich w-werde d-das vier-te J-Jahr machen», erwiderte Humphrey und blickte mit verbissener Energie fragend auf seinen Vater.

«Wollen Sie sich der Wissenschaft widmen?»

«Ja, Sir, hoffentlich!»

Nun unterbrach ihn Sir Ralph mahnend, mit seinen Angelegenheiten nicht lästig zu fallen, worauf Humphrey sich linkisch vor Sir Waldo verneigte und ging.

Aber Sir Ralph führte weiter aus, daß ein Studium ja schön und gut sei, daß er aber, hätte er gewußt, wie verrückt sein Erbe danach wäre, ihm nie erlaubt hätte, nach Cambridge zu gehen. Er neigte zur Vertraulichkeit und ging so weit, Sir Waldo zu fragen, was er in einem solchen Falle tun würde. Da aber Sir Waldo sich nicht berufen fühlte, bedrängte Eltern zu beraten, und das Thema ihn auch wirklich nicht so sehr interessierte, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, beendete er schnell das Tête-à-tête. Das Geschick, mit dem er das tat, ohne Sir Ralph zu beleidigen, sprach Bände für seinen gesellschaftlichen Schliff.

Humphreys Altersgenossen, die das längere Gespräch beobachtet hatten, wollten wissen, was Sir Waldo mit ihm gesprochen habe.

«M-möch-möchtet ihr wi-wissen?» erwiderte Humphrey mit verächtlicher Herablassung. «N-nichts üb-über Sport. W-wir sp-sprachen über C-Cam-Cambridge.»

Seine Zuhörer waren erstaunt. Mr. Banningham gewann als erster die Sprache wieder und brachte die Gefühle seiner Freunde am besten zum Ausdruck: «Er muß dich für einen schwerfälligen Kerl gehalten haben!»

«D-durch-durchaus nicht!» erwiderte Humphrey und kräuselte verächtlich die Lippen. «Im G-Gegen-Gegenteil, er ist k-kein sol-solcher Narr, wie ihr m-mich gl-glauben ma-machen w-wolltet!»

Zu anderer Zeit hätte eine so unerträgliche Sprechweise seine Kameraden zu mancher Strafaktion verleitet. Doch jetzt hielt sie ein Sinn für Schicklichkeit davon ab, und so konnte sich Humphrey nicht nur unbelästigt davonmachen, er hatte sogar das Gefühl, ihnen in ein paar himmlischen Augenblicken die Schulden seines Lebens zurückgezahlt zu haben.

Die Sitzordnung am ausgezogenen Tisch placierte den Unvergleichlichen zwischen Mrs. Mickleby und Mrs. Colebatch, so daß er erst viel später an diesem Abend die Bekanntschaft von Mrs. Underhill machte. Im Wirrwarr der Vorstellung fiel sie ihm unter den vielen Matronen nicht besonders auf, aber Lord Lindeth war nicht so unachtsam. Er ließ sich von einer Robe aus rotbraunem Satin, reichlich mit Spitzen und Brillanten geziert, und von einer Frisur, die von einer Plumage aus gekräuselten Federn und einer übergroßen, glitzernden Brosche geschmückt wurde, nicht abhalten, sich Mrs. Underhill bei der ersten Gelegenheit nach dem Dinner zu nahen und ihr Sir Waldo vorzustellen. Dieser befolgte den Wink seines Cousins und kam quer durch den Salon.

«Oh, hier ist mein Cousin», sagte Seine Lordschaft ungezwungen. «Waldo, ich glaube, daß du Mrs. Underhill schon vorgestellt wurdest?»

«Ja, gewiß!» Er gab sich die nötige Würde.

«Ja, wir wurden bekannt gemacht», bestätigte Mrs. Underhill. «Aber es würde mich nicht wundern, wenn Sie meinen Namen nicht behalten hätten. Es gibt wirklich nichts Verwirrenderes, als einer Anzahl von Fremden vorgestellt zu werden. Wie oft bin ich in der Klemme, den richtigen Namen zu den richtigen Gesichtern zu finden!»

«Aber in unserem Falle, Ma'am, habe ich etwas, das meinem Gedächtnis hilft», sagte Sir Waldo mit bewundernswerter Sicherheit. «Hatte ich nicht, vor ganz kurzer Zeit, das Vergnügen, Ihre Tochter kennenzulernen? Miss – Miss Charlotte Underhill? Sie half einer anderen Dame – einer großen Dame, älter als sie selbst –, die Kirche mit Blumen zu schmücken.»

«Das stimmt», sagte Mrs. Underhill mit Wohlgefallen. «Und Charlotte ist seither mächtig aufgeblasen, weil Sie so freundlich mit ihr gesprochen haben! Die große Dame könnte Miss Trent gewesen sein, ihre Gouvernante. Nun, genauer gesagt, sie ist die Gesellschafterin meiner Nichte und eine außergewöhnliche Dame. Ihr Onkel ist General Sir Mordaunt Trent!»

«Tatsächlich!» murmelte Sir Waldo.

«Waldo!» unterbrach Julian. «Mrs. Underhill war so freundlich, uns für Mittwoch zu ihrer Party einzuladen. Ich glaube nicht, daß wir schon vergeben sind?»

«Nicht daß ich wüßte. Wie reizend! Wir sind Ihnen sehr verbunden, Ma'am», sagte Sir Waldo mit seiner bekannten Höflichkeit.

Aber nachher, als sie in Mr. Calvers schlecht gefederter Kutsche zurück nach Broom Hall fuhren, drückte er säuerlich die Hoffnung aus, daß sein Cousin ihm auch genügend dankbar sei, die Einladung angenommen zu haben.

«Ja, sehr dankbar!» erwiderte Julian fröhlich. «Ich habe es auch nicht anders erwartet!»

«Obwohl du mich in eine unmögliche Lage gebracht hast!»

Julian kicherte. «Ich weiß, aber sie ist die Tante dieses herrlichen Geschöpfes!»

«Verstehe! Bleibt dir nur noch zu entdecken, daß dein herrliches Geschöpf mit einem dieser Provinzler verlobt ist – und du fällst durch!»

«O nein, ich bin ganz sicher, daß sie nicht verlobt ist», sagte Julian zuversichtlich. «Das hätte ihr Cousin doch erwähnt – übrigens ...»

«Du meinst ihre Cousine Charlotte? War sie heute abend anwesend?»

«Charlotte? Nein, ich sagte Cousin, Courtenay Underhill!»

«Oh, sie hat auch einen Cousin? Wie ist er?»

«Oh, sehr nett», sagte Julian, zögerte und fuhr fort: «Ich weiß, was du dir denkst, und ich finde, er neigt dazu, ein Hanswurst zu sein. Aber er ist noch jung, fast ein Schuljunge!»

«Sagt der bärtige Greis!» warf Sir Waldo ein.

«Ach, Waldo! Ich wollte nur sagen – er könnte kaum zwanzig sein! Und ich bin immerhin dreiundzwanzig!»

«Ist das möglich? Na, ich muß zugeben, du bist gut erhalten!» Fröhlich kichernd sagte Julian: «Auf jeden Fall bin ich zu alt, um deine Mode nachzuäffen!»

«Tut das Mr. Underhill?»

«Die Korinthier-Mode jedenfalls. Er hat dich genau von allen Seiten betrachtet; ich wette mit dir um jeden Betrag, daß er in einer Woche in Anzügen, wie du sie trägst, erscheinen wird. Er hat mich auch genau über dich ausgefragt!»

«Julian!» rief Sir Waldo mit böser Vorahnung. «Sag mir sofort, was du dem armen Kerl aufgebunden hast!»

«Nichts! Ich sagte, ich wisse nicht, in welche Affären du verwickelt bist – obwohl ich heute schon mehr weiß, als ich gestern wußte! Waldo, ist es wahr, daß du einmal auf einem Jahrmarkt fünf Guineas gewonnen hast, weil du einen Boxer in der zweiten Runde k. o. geboxt hast?»

«Herrgott! Wie zum Teufel ist diese Geschichte nach Yorkshire gelangt? Ja, es stimmt! Aber wenn das die Dummheiten sind, die dein neuer Freund, der Hanswurst, so bewundert, dann hoffe ich, daß du ihm wenigstens gesagt hast, daß das nur erfunden war!»

«Wie kann ich das sagen? Ich riet ihm, dich zu fragen, ob es wahr ist. Er wollte dich heute abend nicht ansprechen, aber er wird es sicher tun, wenn wir in Staples sind.»

«Ich werde dich noch vorher – lang vorher – heimschicken, du Teufelsbalg!»

«Das wirst du nicht tun! Ich quartiere mich in der <Krone> ein, wenn du mich hinauswirfst. Warte nur, bis du Miss Wield zu Gesicht bekommst! Dann wirst du verstehen!»

Sir Waldo warf eine oberflächliche Antwort hin, aber er begann sich ein wenig unbehaglich zu fühlen. Der verzückte Ton in Julians Stimme war ihm neu. Noch nie hatte er seinen Cousin mit solcher Bestimmtheit von einem hübschen Wesen sprechen hören, wobei er sich über die offensichtlichen Hindernisse wie eine vulgäre Tante und einen Cousin, den er als Hanswurst bezeichnete, hinwegsetzte. Wohl legte er nicht allzu großes Gewicht auf seine Herkunft, und Waldo hatte nie bemerkt, daß Julian die Vorteile der höheren Klasse ausnützte, oder daß er die Gesellschaft derer suchte, die er selbst als unwürdig bezeichnet hätte. Es schien Waldo sehr unwahrscheinlich, daß sein Cousin sich für ein Mädchen – und wäre es noch so schön – ernstlich interessieren würde, das aus der Klasse der Neureichen kam, die er instinktiv mied. Andererseits sähe es ihm nicht ähnlich, nur eine Tändelei zu suchen. Hinter seinem Übermut lagen Ernst und strenge Grundsätze. Er könnte – obwohl Waldo auch das bezweifelte – Amüsement in der Halbwelt suchen; aber es wäre ganz gegen seine Natur, in einem anständigen Mädchen Erwartungen zu wecken, die er nicht zu erfüllen bereit wäre.

Er selbst hatte ein- oder zweimal geglaubt, verliebt zu sein, und der auserwählten Schönen hofiert. Aber diese Affären waren dahingegangen, eines natürlichen Todes gestorben. Auch war er nie einem heiratsfähigen Mädchen in der Art der Schürzenjäger nachgelaufen; seine jugendlichen Liebesabenteuer mochten flüchtig gewesen sein, aber als er sich auf sie einließ, war es in lauterer Absicht gewesen.

«Mir gefällt der Gutsherr», sagte Julian lässig.

«Besser als seine Gattin!»

«Bei Gott! Große Angeberin, nicht wahr? Ihre Töchter sind natürlich und lustig, aber kein besonderer Anblick. Ich glaube, die auffallendste war – au fait de beauté, wie Mama sagen würde – der rothaarige Irrwisch mit dem rätselhaften Bruder. Aber mir persönlich gefällt Miss Chartley am besten – und ihre Eltern. Keine Prätentionen, sondern – wie soll ich es nennen?»

«Ein Hauch von Vornehmheit!» ergänzte Waldo.

«Das ist es!» pflichtete Julian bei. Er gähnte und verfiel in schläfriges Schweigen.

Er sprach nicht mehr von Miss Wield, weder an diesem noch an den darauffolgenden Tagen. Nichts ließ Anzeichen eines Liebestaumels erkennen. Mit Hilfe von Mr. Gregory Ash prüfte er mögliche Jagdgründe, schloß Freundschaft mit Jack Banninghams älterem Bruder und schoß mit ihm Wildenten. Er schleppte seinen Cousin zwanzig Meilen durch das Land, um ihm eine interessante Mühle zu zeigen, und schien im großen und ganzen mehr an Sport als an bezaubernden Mädchen interessiert.

Aber Sir Waldo konnte den unangenehmen Verdacht nicht loswerden, daß Julian schwerer getroffen war, als seine Mutter es gern gesehen hätte. Doch drängte er diesen Gedanken zurück und hoffte, sich geirrt zu haben.

Als er aber am Mittwoch in Staples Miss Wield kennenlernte, wußte er, daß er sich nicht geirrt hatte.

Aus der großen, hohen Halle von Staples schwang sich die Treppe in einem anmutigen Bogen empor. Als die beiden Cousins ihre Mäntel und Hüte in die Obhut eines Lakaien mit gepuderter Perücke gegeben hatten und sich anschickten, unter der Führung des Butlers die Halle zu durchqueren, kam Miss Wield leichten Schrittes die Treppe herab. Mit einem kurzen Blick prüfte sie ihre Gäste und rief: «O mein Gott! Ich wußte nicht, daß schon jemand angekommen ist! Ich habe mich verspätet, und Tante wird mich schelten. Wie geht's, Lord Lindeth?»

Für eine junge Dame, die absichts- und zweckvoll als Tochter des Hauses galt, ließ der verspätete Auftritt viel zu wünschen übrig – als Entree war er herrlich. Sir Waldo war nicht überrascht, als Lord Lindeth tief Atem holte, er selbst glaubte nie eine reizendere Erscheinung gesehen zu haben; dabei war er weder sehr beeindruckbar noch dreiundzwanzig. Die Bänder, die ein Ballkleid aus himmelblauem Crêpe und silberglänzendem Tüll zierten, waren von intensivem Blau, doch nicht leuchtender als Tiffanys Augen, zu denen sie abgestimmt schienen. Auf der Treppe stehend, eine behandschuhte Hand auf dem Geländer, die roten Lippen halb zu einem Lächeln geöffnet, das die schönen Zähne zeigte, stellte sie ein Bild dar, das die Herzen der meisten Männer erfreuen konnte.

O Gott! dachte Sir Waldo. Jetzt sitzen wir in der Tinte.

Während Julian verzaubert dastand, setzte sie ihren Weg über die Treppe fort.

«M-Miss Wield! Endlich sehen wir uns wieder!»

Entzückende Grübchen erschienen auf ihren Wangen, als sie ihm die Hand reichte.

«Endlich? Es ist doch kaum eine Woche her, als ich Sie beim Angeln störte, und Sie waren böse – schrecklich böse!»

«Niemals!» erklärte er lachend. «Vielleicht als ich Sie vorige Woche vergeblich im Gutshaus suchte – aber böse war ich auch da nicht. Das Wort trifft nicht ganz zu.» Er wagte einen Händedruck.

Sir Waldo, der (ganz richtig) vermutete, daß Tiffany auf dem oberen Treppenabsatz gewartet hatte, verbeugte sich und begrüßte sie in einer Art, die die richtige Mischung von Höflichkeit und Gleichgültigkeit war. Tiffany, gewöhnt, mit lauter Bewunderung begrüßt zu werden, war gekränkt. Wenn sie auch nicht lange unter dem Dach ihres Onkels Burford am Portland Place geweilt hatte, ihre Zeit hatte sie dort nicht verschwendet; sie wußte genau, daß Lord Lindeth, abgesehen von seinem Rang, verglichen mit seinem herrlichen Cousin, ein Niemand war. Ihn auch nur vorübergehend zu fesseln, wäre eine Auszeichnung für jede Dame, seine Leidenschaft für längere Zeit zu erregen aber ein nachhaltiger Triumph. Zwar sprach man von seinen vielen Flirts, es schien sich aber dabei immer um verheiratete Frauen zu handeln, und auch wo er entschiedenes Interesse zeigte, führte es doch nie zu einem Skandal, noch konnte man annehmen, daß er sich ernstlich engagierte.

Tiffany machte einen gesitteten Knicks, hob ihre Augen und zeichnete ihn mit einem tiefen, unschuldsvollen Blick aus. Bisher hatte sie ihn nur von weitem gesehen; jetzt aber erkannte sie, daß er nicht nur sehr gut aussah, sondern viel eleganter war, als sie vermutet hatte. Aber daß er, statt ihr Bewunderung zu zollen, sie nur belustigt ansah, mißfiel ihr.

Mit einem Lächeln für Lord Lindeth sagte sie: «Ich führe Sie zu meiner Tante, ja? Dann wird sie mich vielleicht nicht schelten.»

Mrs. Underhill zeigte keine Absicht zu schelten, obwohl sie darüber schockiert war, daß zwei so erlesene Gäste ihren Salon betreten hatten, ohne angekündigt worden zu sein. Als sie später von ihrem beleidigten Butler hörte, daß Miss Tiffany ihn wie einen Strohhalm abgeschüttelt hatte, war sie entsetzt und rief: «Was müssen sich die beiden gedacht haben?!»

Totton schauderte. Aber als Tiffany wegen ihres gesellschaftlichen Fauxpas zur Rede gestellt wurde, lachte sie nur und erklärte mit der Autorität jemandes, der drei Monate am Rande der vornehmen Gesellschaft gelebt hatte, daß ein Mangel an Zeremonie gerade das wäre, was Lord Lindeth und der Unvergleichliche bevorzugten.

Als Tiffany Lord Lindeth impulsiv an der Hand nahm, um ihn zur Gastgeberin zu führen, war er zu sehr benommen, um über die Schicklichkeit dieser Handlung nachzudenken, hätte aber ihre Behauptung unterschrieben. Sir Waldo, der ihnen folgte, hätte Tiffanys Ungeniertheit amüsant gefunden, wäre es ein anderer junger Mann gewesen und nicht Julian, den sie begeisterte. Natürlich war er nicht verantwortlich für Julian, aber er hatte den Jungen gern und wußte nur zu gut, daß seine Tante Lindeth blindlings darauf vertraute, daß er ihrem Liebling Unheil fernhalte. Wohl hatte diese Verpflichtung seinem Scharfsinn noch nicht viele Aufgaben gestellt, aber Tiffany wäre geschmeichelt gewesen, hätte sie erfahren, daß ein einziger kurzer Blick Sir Waldos auf sie genügte, um in ihr die erste ernste Gefahr für Julian zu erkennen.

Ein kurzer Rundblick im Salon machte Sir Waldo klar, daß die Gesellschaft aus den selben Personen bestand wie bei des Gutsherrn DinnerParty, und er machte sich auf einen langweiligen Abend gefaßt. Die Gastgeberin hatte es vorausgesagt: «Man kann nicht Leute aus dem Boden stampfen, die es nicht gibt! Nicht mit dem besten Willen der Welt kann man das», hatte sie zu Miss Trent gesagt. «Mrs. Mickleby gab sich die größte Mühe, alle vornehmen Familien, die sie nur erreichen konnte, einzuladen, das Biest! Ich sage Ihnen, sie glaubt, wir werden unsere Runde um die Shilbottles und die Thums und die Wrangles vergrößern – aber da irrt sie sich!»

Miss Trent machte schüchtern geltend, daß die Shilbottles sehr angenehme Leute seien.

«Sie mögen angenehme Leute sein, aber sie sind nicht vornehm. Mr. Shilbottle fährt jeden Tag nach Leeds in seine Fabrik – ich weiß mir etwas Besseres, als ihn mit einem Lord zusammen einzuladen! Warum? Nächstens werden Sie mir erzählen, ich müsse den Badgers meine Karte schicken! O nein! Seine Lordschaft und Sir Waldo sollen lieber gelangweilt sein als angeekelt!» Und sie fügte die hoffnungsvolle Bemerkung hinzu: «Auf eines können Sie sich verlassen: sie werden nichts an dem Dinner auszusetzen haben!»

Das Mahl, das sie ihren Gästen vorsetzte, war wirklich ungeheuer. Es bestand aus zwei Gängen, und jeder Gang aus vier Gerichten und einer Unzahl von Nebengerichten. Es gab einen Lendenbraten  la Mantua, Körbchen aus Wachs mit Krevetten und Krebsen, Orangensoufflé, Spargel und viele Leckerbissen, für die ihre Köchin berühmt war.

Miss Trent war bei der Tafel nicht anwesend, aber sie brachte Charlotte nach dem Dinner herunter in den Salon. Als Sir Waldo mit den anderen Herren den Salon betrat, bemerkte er sie sofort. Sie trug ein Kleid aus Crpe mit lila Bändern und langen Ärmeln. Das Mieder war eher hochgeschlossen, wie es sich für eine Gouvernante schickt. Er aber sah in ihr die vornehmste der anwesenden Damen und näherte sich ihr bald.

Das Zimmer war für den Tanz geräumt, und die Musiker, die aus Harrogate gekommen waren, stimmten ihre Instrumente. Mrs. Underhill erklärte, sie nehme an, die jungen Leute wollten tanzen. Sie bat Sir Waldo, er möge sich nicht verpflichtet fühlen, am Tanz teilzunehmen, wenn ihm nichts daran liege. So konnte er sich leicht unter die älteren Anwesenden mischen. Trotz seiner bekannten Höflichkeit hatte er nicht die Absicht, einem Dutzend Mädchen aus der Provinz für ihre ländlichen Tänze zur Verfügung zu stehen. Aber als sich Paare zu bilden begannen, ging er auf Miss Trent zu und bat um die Ehre, sie führen zu dürfen. Obwohl sie erfreut war, lehnte sie ab.

«Das ist ein Korb!» sagte Sir Waldo. «Sie werden mir doch nicht einreden wollen, daß Sie nicht tanzen?»

Das unerwartete Wiedersehen hatte sie in begreifliche Verwirrung versetzt, und sie sagte weniger ruhig, als es sonst ihre Art war: «Nein, danke! Schon – nämlich – ja, natürlich tanze ich, aber nicht – ich meine ...»

«Also, kommen Sie!» sagte er aufmunternd, als sie sich nicht rührte, ärgerlich über sich selbst, so taktlos zu sein. «Bestimmt tanzen Sie, aber nicht mit Herren, die dem Sport hingegeben sind. Stimmt das?»

Sie blickte ihn an. «Habe ich das gesagt?»

«Ja, und noch dazu in einem Ton höchster Abweisung. Damals haben Sie mir natürlich nicht gesagt, daß Sie mit mir nicht tanzen werden, dazu war keine Gelegenheit.»

«Ich habe Ihnen das auch jetzt nicht gesagt, Sir», rief sie schlagfertig. «Ich sagte – ich hoffe, höflich –, daß ich überhaupt nicht tanze.»

«Und nachher», erinnerte er sie, «daß sie tanzen, aber nicht mit – Da übermannte Sie die Höflichkeit, sie fesselte Ihre Zunge, wirklich! Deshalb komme ich Ihnen zur Rettung und möchte wissen, was ich eigentlich getan habe, um Ihr Mißfallen zu erregen?»

«Sie irren sich, Sir! Sie wissen, daß Sie nichts getan haben, ich versichere Ihnen, daß mir nichts mißfällt!»

«Also nur meine Einbildung, Miss Trent? Ich glaube es nicht, aber ich lasse mich gerne überzeugen. Wollen wir diesen Tanz ...»

«Sir Waldo, Sie sind in einem Irrtum befangen. Es wäre einfach ungehörig, wenn ich mit Ihnen oder mit einem anderen Herrn antrete. Ich bin hier kein Gast, ich bin die Gouvernante!»

«Ja, aber eine überragende Person!» murmelte er.

Sie blickte ihn erstaunt an. «Sie haben es gewußt? Und Sie forderten mich trotzdem auf? Ich danke Ihnen dafür – aber Sie zeigen einen Mangel an Anstand, wenn Sie die Gouvernante auffordern statt Miss Wield!»

«Das hat mein Cousin vor mir getan. Bitte, zählen Sie mir jetzt nicht eine Liste von Mädchen auf, die ich zum Tanz auffordern sollte! Ich gestehe, sie sind sehr liebenswert, ich sehe auch die eine oder die andere, die hübsch ist, aber ich weiß, daß ich sie alle sterbenslangweilig finden werde. Ich freue mich, daß Sie nicht tanzen, ich möchte viel lieber mit Ihnen plaudern.»

«Das kann nicht sein!» sagte sie resolut. «Ich bin wirklich unter Ihrem Stand!»

«Nein, nein! Das geht zu weit!» sagte er. «Ich habe es doch aus bester Quelle, daß Ihr Onkel ein General ist!»

Einen Moment lang glaubte sie, er wolle sich über sie lustig machen; doch ein Blick in seine Augen sagte ihr, daß er glaubte, sie werde den Witz verstehen. Sie sagte mit zuckenden Lippen: «Hat – hat Mrs. Underhill Ihnen das gesagt? O Gott! Sie glauben doch hoffentlich nicht, ich hätte ihr von meinem Onkel erzählt. Ich versichere Ihnen, sie hat es nicht von mir!»

«Wieder so ein Mißverständnis von mir! Natürlich habe ich geglaubt, daß Sie ihn in jedem Gespräch erwähnen, und habe mich gewundert, daß Sie ihn zu erwähnen vergaßen, als wir miteinander sprachen.»

Sie unterdrückte ein Lachen. «Hören Sie doch bitte auf, mich zum Lachen zu bringen, Sir Waldo, ich flehe Sie an! Gehen Sie und sprechen Sie mit Mrs. Mickleby oder Lady Colebatch oder sonst einer Dame. Und wenn ich zwanzig Generäle in der Familie hätte, ich bin trotzdem die Gouvernante, und Sie sollten wissen, daß Gouvernanten diskret im Hintergrund bleiben.»

«Das klingt sehr schwülstig!»

«Ist es aber nicht! Das ist eine gesellschaftliche Gepflogenheit. Man würde es mir sehr ankreiden, wenn ich mich vordrängte. Ich sehe bereits, wie Mrs. Banningham sich den Kopf darüber zerbricht, was Sie bewogen haben kann, hier zu stehen und mit mir zu sprechen. So etwas regt die Leute auf. Sie stehen über der Meinung der Leute – glauben Sie mir, ich nicht!»

«Oh, ich bin bei weitem nicht so hochmütig, wie Sie glauben!» versicherte er ihr. «Menschen aufzuregen wäre das letzte, was ich beabsichtige. Aber ich kann es einfach nicht glauben, daß die hochnäsige Matrone es unverständlich fände, wenn ich mich in ein Gespräch mit der Nichte eines meiner Bekannten einlasse. Ich kann mir eher vorstellen, daß sie es schrecklich unhöflich fände, wenn ich es nicht täte.»

«Sie sind mit meinem Onkel bekannt?» fragte sie.

«Natürlich! Wir sind Mitglieder desselben Klubs. Ich will damit nicht prahlen. Er ist ein älterer und viel angesehener Mann, als ich es bin, aber ich kann jedenfalls behaupten, daß ich ihn kenne!»

Sie lachte und blickte ihn prüfend an. «Sind Sie auch mit seinem Sohn bekannt, Sir? Mein Cousin, Mr. Bernard Trent.»

«Nicht, daß ich wüßte. Sollte ich ihn kennen?»

«O nein, er ist noch sehr jung. Aber er hat eine Anzahl von Freunden unter den Korinthiern. Ich dachte, Sie wären ihm einmal begegnet.»

Er schüttelte den Kopf. Da Sir Ralph Colebatch sich in diesem Augenblick näherte, entschuldigte sie sich und begab sich auf die Suche nach Charlotte. Sie fand sie bald im Tanz mit Arthur Mickleby, und dachte mit ein wenig Reue und einigem Vergnügen, daß während ihres Gesprächs mit dem Unvergleichlichen ihre unternehmende Schülerin Arthur dazu gebracht hatte, mit ihr zu tanzen. Manche Mütter – mußte sie denken – hätten sie ziemlich strenge zurechtgewiesen, daß sie die Obhut über ein Schulmädchen, das ja nur auf eine Stunde in den Salon gehen durfte, um den Tänzern zuzusehen, ehe sie zu Bett mußte, so vernachlässigte. Aber sie entdeckte, daß Mrs. Underhill dem Treiben ihrer Tochter wohlgefällig zusah, ja sie erfuhr, daß sie selbst Charlotte die Erlaubnis gegeben hatte zu tanzen.

«Nun, ich gestehe, ich hätte nein sagen müssen», gab sie zu, «aber ich sehe es gerne, wenn junge Menschen sich unterhalten, was sie sichtlich tut, das liebe Kind! Ich bin sicher, es ist nichts Schlimmes daran, wenn sie ihren Platz in ein oder zwei ländlichen Tänzen einnimmt, denn es handelt sich ja nicht um einen Walzer – darauf können Sie sich verlassen! Es ist ja auch kein formeller Ball – das wäre natürlich etwas anderes!» Sie wandte ihren Blick von Charlotte ab und sagte freundlich: «Und wenn ein Herr Sie, meine Liebe, auffordern sollte, werden Sie hoffentlich annehmen. Niemanden wird es wundern, seit wir gesehen haben, wie Sir Waldo direkt auf Sie zuging und lange mit Ihnen sprach, als ob Sie alte Bekannte wären!»

«Er sprach von meinem Onkel, Ma'am.» Miss Trent benützte, wenn auch ein wenig errötend, die Ausrede, die ihr der Unvergleichliche in den Mund gelegt hatte. «Sie müssen wissen, sie sind miteinander bekannt.»

«Nun, das ist es, was ich gerade zu Mrs. Banningham gesagt habe», nickte Mrs. Underhill. «Oh, sagte ich, Sie können sich darauf verlassen, Sir Waldo ist ein Bekannter vom General, und sie haben viel über ihn zu sprechen und über ihre Freunde in London. Mir scheint nichts natürlicher, sagte ich zu ihr, denn Miss Trent hat sehr gute Verbindungen, sagte ich. Sie wurde ganz gelb im Gesicht, sage ich Ihnen. Nun, ich bin bestimmt keine, die beleidigt ist, wo keine Beleidigung beabsichtigt war, aber ich habe ein Hühnchen mit Mrs. Banningham zu rupfen, seit sie sich auf der Party des Lord-Lieutenants so schnippisch gegen mich benommen hat.» Eine Wolke senkte sich auf ihre Stirn, als sie sagte: «Es gibt eben immer etwas, das einem das Vergnügen verdirbt, und ich muß Ihnen anvertrauen, Miss Trent, daß die Art, wie Seine Lordschaft Tiffany ansieht, mich sehr beunruhigt. Merken Sie sich, was ich sage: sie hat ihn im Netz! Jeder kann sehen, wie entzückt er von ihr ist.»

Das war nicht zu leugnen. Miss Trent dachte, es wäre besser, wenn er Tiffany nicht mit so viel Bewunderung angesehen hätte, denn Tiffany, jeder Schmeichelei zugänglich, strahlte: ein zartrosa Hauch lag auf ihren Wangen, ihre Augen leuchteten wie Saphire, und ein reizendes, ermunterndes Lachen spielte auf ihren Lippen. Ein halbes Dutzend junger Herren hatte um die Ehre des ersten Tanzes gebeten. Sie verteilte Versprechungen unter sie, reichte aber ihre Hand Lord Lindeth, und das Paar nahm seinen Platz ein, während drei weniger glückliche Mädchen noch keine Partner hatten – ein Umstand, den sie nicht beachtete.

«Miss Trent, ich werde nicht erlauben, daß er sie öfter als zweimal bittet», sagte Mrs. Underhill plötzlich. «Sie müssen ihr sagen, daß sie das nicht darf! Auf mich wird sie doch nicht hören – und schließlich hat ihr Onkel ja Sie dazu bestellt!»

Ancilla lächelte, sagte aber: «Sie würde Ihnen nicht vor den Leuten widersprechen, Ma'am. Natürlich werde ich mich um sie kümmern, aber ich glaube nicht, daß Lord Lindeth sie um den dritten Tanz bitten wird.»

«Mein Gott, am liebsten würde er alle Tänze mit ihr absolvieren!»

«Ja, aber er weiß, daß er das nicht darf, dazu hat er zu gute Manieren. Ich glaube, er wird keinen weiteren Versuch machen. Und, um die Wahrheit zu sagen, Ma'am, ich glaube, Tiffany würde ihm auf keinen Fall mehr als zwei Tänze gewähren.»

«Tiffany?» rief Mrs. Underhill zweifelnd aus. «Nur, sie hat nicht mehr Gefühl für Schicklichkeit als eine Hauskatze!»

«Nein, aber sie ist eine sehr raffinierte Kokette!» Sie konnte das Lachen nicht verbeißen, als sie Mrs. Underhills Entsetzen sah. «Verzeihen Sie, natürlich sollte sie's nicht sein – erschreckend frühreif noch dazu –, aber Sie müssen zugeben, daß ein harmloser Flirt mit Lindeth nicht das Schlimmste ist.»

«Ja, aber er ist ein Lord!» widersprach Mrs. Underhill. «Sie erinnern sich, daß sie sagte, sie hätte die Absicht, einen zu heiraten!»

«Wir müssen ihr begreiflich machen, daß es sich wegwerfen hieße, wenn sie unter einem Viscount heiratete», sagte Ancilla leichthin.

Der Tanz war zu Ende, und sie hatte zu ihrer Genugtuung richtig prophezeit. Tiffany trat den nächsten Tanz mit Arthur Mickleby an und den boulanger mit Jack Banningham. Lord Lindeth erfüllte nun seine Pflicht gegen Miss Colebatch und Miss Chartley. Miss Trent lotste Charlotte aus einer Gruppe lärmender junger Leute und brachte sie unerbittlich zu Bett. Charlotte fühlte sich jämmerlich schlecht behandelt, als sie gezwungen wurde, sich noch vor dem Dinner zurückzuziehen – sie hatte sich so sehr auf ihr allererstes Glas Champagner gefreut. Miss Trent, die ein Schaudern kaum unterdrücken konnte, übergab Charlotte ihrer alten Amme und kehrte in den Salon zurück.

Die Musik schwieg, die Musiker erfreuten sich einer Pause. Da sie Mrs. Underhill nicht sah, nahm sie an, daß diese sich in das anstoßende Spielzimmer begeben hatte, wo einige der älteren Gäste Whist spielten. Sie konnte aber auch Tiffany nicht sehen, ein Umstand, der sie mit böser Vorahnung erfüllte. Als sie aber nun auch Lindeth vermißte und nachsann, wo und wen sie zuerst suchen sollte, sagte eine Stimme neben ihr: «Suchen Sie Ihren anderen Zögling?»

Sie blickte sich um und sah Sir Waldo, der sie amüsiert betrachtete. Er klappte seine Schnupftabaksdose auf und nahm mit flinken Fingern eine Prise.

«Auf der Terrasse», sagte er.

«Nein!» rief sie unwillkürlich.

«O doch! Vielleicht hatten sie Lust, durch den Garten zu schlendern, jedenfalls war die Terrasse das geplante Ziel.»

«Ich nehme an, daß Lord Lindeth sie auf die Terrasse führte.»

«Glauben Sie? Mein Eindruck war, daß Miss Wield Lord Lindeth auf die Terrasse führte.»

Sie biß sich auf die Lippe. «Sie ist noch sehr jung – kaum aus der Schule!»

«Eine Erwägung, die ihren Verwandten Kummer bereiten müßte», sagte er im Ton leutseliger Übereinstimmung.

Sie war so sehr einer Meinung mit ihm, daß sie nichts vorbringen konnte, was Tiffanys Betragen hätte mildern können. «Sie neigt zur Starrköpfigkeit und weiß nicht, was – und da es Ihr Cousin war, der sie höchst unschicklich begleitete, hätten Sie ihn abhalten sollen!»

«Meine liebe Miss Trent, ich bin nicht Lindeth' Hüter, noch bin ich der von Miss Wield – Gott sei Dank!»

«Sie hätten es trotzdem tun sollen!» sagte sie mit betonter Strenge.

Doch als sie die Heiterkeit in seinen Zügen sah, fügte sie hinzu: «Sie, Sir, haben leicht lachen, aber ich bin Miss Wields Hüterin – auf jeden Fall bin ich für sie verantwortlich –, und das ist nichts zum Lachen. Ich muß etwas tun!»

Während sie, eine Falte zwischen den Brauen, sprach, blickte sie sich im Salon um. Es war ein warmer Juniabend, der Raum mit heißer, schlechter Luft erfüllt. Mehr als eine der Damen, der die Hitze das Blut ins Gesicht trieb – was sie nicht hübscher machte –, fächelte sich Kühlung zu, und manche Hemdkragenspitze verlor die Fasson. Miss Trents Gesicht hellte sich auf. Sie ging auf eine kleine Gruppe zu, der Miss Chartley, die reizende Miss Colebatch und die jüngere der Töchter des Gutsherrn mit ihren Gesellschaftern angehörten, und sagte mit ihrem liebenswürdigen Lächeln: «Schrecklich heiß, nicht wahr? Ich wage nicht das Fenster zu öffnen. Ihr wißt, welchen Protest das gäbe. Hättet ihr Lust, auf kurze Zeit hinauszugehen? Es ist eine herrliche Mondnacht, kein Lüftchen regt sich; ich habe mir erlaubt, den Dienern zu sagen, se sollen Limonade auf die Terrasse bringen. Aber vergeßt nicht, eure Umhänge mitzunehmen!»

Der Vorschlag wurde von den Herren freudig begrüßt, aber auch von des Gutsherrn fröhlicher Tochter, die in die Hände klatschte und ausrief: «Ein herrlicher Spaß! Gehen wir doch!» Miss Chartley dachte daran, was ihre Mama wohl sagen würde, und war unentschlossen; doch dann überlegte sie: Wenn Miss Trent dies anregt, wird es wohl nichts Außergewöhnliches sein.

In wenigen Minuten hatte Miss Trent geschickt vier oder fünf Paare gesammelt, ein dringendes Wort in des erstaunten Totton Ohr geflüstert und einige der Mütter mit verbindlichem Lächeln informiert, daß sie den Überredungskünsten ihrer Kinder nachgegeben habe. Sie würden nun (natürlich unter ihrer Aufsicht) ein Weilchen auf der Terrasse zubringen, ehe sie wieder das Tanzbein schwingen dürften. Sie werde sehr vorsichtig sein, daß keine der jungen Damen sich erkälte, jetzt müsse sie sofort hinaus und sehen, ob alle ihre Tücher um die Schultern gelegt hatten.

Sir Waldo war ein dankbarer Zuhörer dieser gelungenen Vorstellung. Als sie ihre Schäfchen auf die Terrasse gelenkt hatte und ihnen folgen wollte, stand er wieder vor ihr, mit einem Lächeln, das sie irritierte. «Gut gemacht!» rief er und hielt den Vorhang von der Fenstertür zur Seite, um den Weg auf die Terrasse freizumachen.

«Danke! Hoffentlich hilft's, aber ich fürchte, man wird das von einer respektablen Gouvernante recht sonderbar finden», sagte sie, als sie in das Mondlicht hinaustraten.

«Durchaus nicht! Sie haben das bewunderungswürdig gemacht!» Er hob sein Monokel und musterte die Szene. «Es ist natürlich klar, daß, sollten die Ausreißer sich zu weit ins Gelände gewagt haben, wir sie suchen müßten und – doch nein, sie waren nicht so unverschämt – welches Glück – nun sind wir beide erleichtert!»

«Tatsächlich», sagte sie mit großer Herzlichkeit. «Es hat mich gerührt, Sie in solcher Angst zu sehen!»

Er lachte. Doch ehe er antworten konnte, war sie auf Tiffany zugegangen, um einen Schal über ihre Schultern zu legen.

Courtenay, der auf eine günstige Gelegenheit gewartet hatte, nahm die Gelegenheit wahr, den Unvergleichlichen zum erstenmal an diesem Abend allein zu sehen, und fragte respektvoll, ob er ihm ein Glas Champagner bringen dürfe. Für den Fall, daß der erlesene Gast seine Annäherung grob ablehnen sollte, fügte er hinzu: «Ich bin Underhill, Sir.»

Sir Waldo lehnte zwar den Champagner ab, war aber in sehr freundlicher Laune. Das strafte Jack Banningham Lügen, der vorausgesagt hatte, daß jeder Versuch Courtenays, den Unvergleichlichen in eine Konversation zu verwickeln, scheitern werde.

«Wir trafen uns im Gutshaus, nicht wahr? Mir scheint, ich sah Sie auch neulich auf der Straße nach Harrogate, Sie lenkten einen gepflegten Braunen.»

Nun bedurfte es keiner weiteren Ermutigung mehr. In wenigen Minuten unterwarf ihn Courtenay einem spannenden Verhör über seine wirklichen und angedichteten Heldentaten. Sir Waldo ertrug es ruhig, unterbrach ihn aber schließlich, um zu sagen: «Müssen Sie mir alle meine Jugendsünden an den Kopf werfen? Ich glaubte, sie lägen hinter mir.»

Courtenay erschrak. Aber Miss Trent, die sich in Hörweite aufgehalten hatte, wußte, daß der erste günstige Eindruck, den sie vom Unvergleichlichen erhalten hatte, kein gänzlicher Irrtum war.