11
Als Julian seinen Cousin Laurence am nächsten Morgen traf, erinnerte er Sir Waldo an einen steifbeinigen Terrier, der zwar nicht aggressiv ist, dessen gesträubtes Fell aber zeigt, daß er bereit ist, jeden Angriff abzuschlagen. Diese wachsame Feindseligkeit verschwand zwar bald. Laurence begrüßte Julian sehr freundlich, die stürmische Auseinandersetzung war seinem Gedächtnis scheinbar entschlüpft, so daß Julian – von Natur aus ein sonniges Gemüt – ihm herzlich begegnete. Laurence zeigte sich lebhaft und voll Witz und gab einen humorvollen Bericht vom Entsetzen seines Dieners über die intimen, aber lebensnotwendigen Einrichtungen in Broom Hall und einige sonderbare Dinge, die ihm selbst widerfahren waren.
«Nicht, daß ich mich beklagen will, Cousin», versicherte er Waldo. «Schließlich, jetzt weiß ich schon, wo das morsche Brett im Fußboden liegt, und wenn ein Stückchen Plafond herunterkommt, liege ich nicht unvorbereitet im Bett. Wegen ein paar Brocken Verputz, die sich loslösen, mache ich noch lange keinen Wirbel. Wenn ich daran denke, wie böse ich war, daß der alte Joseph dir das Haus vermacht hat! Ich gönne es dir, Waldo!»
Das alles war sichtlich harmlos gemeint, und Julian versäumte nicht, ihm seine Erlebnisse in der ersten Nacht zu erzählen, als er mit dem Fuß durch das Laken stieß. In fröhlicher, wenn auch nur vorübergehender Einigkeit neckten sie Sir Waldo.
«Schluß damit!» rief dieser. «Wenn ihr so weitermacht, werfe ich euch beide hinaus! Laurie, wenn du reiten willst, kann ich dir ein Pferd beistellen, aber wenn du fahren willst, ist die Sache komplizierter. Es gibt da meinen Phaeton und ein Gig sowie eine alte kastenartige Kutsche, die Joseph von seinem Großvater geerbt haben muß. In der rumpeln wir auf Bälle und zu großen Gesellschaften. Julian findet sie sehr geeignet – du wirst anderer Meinung sein. Ich bin es auch. Wenn ich ihn nicht selbst brauche, kannst du den Phaeton haben.»
«Bei Gott, nein», unterbrach ihn Laurence. «Ich denke nicht daran, deine Pferde auszuführen. Das Gig genügt mir vollauf, wenn ich irgendwohin will.»
«Hör, Waldo, ich sag dir etwas», schaltete sich Julian ein. «Der alte Knabe in der <Krone> hat einen Einspänner, den er vermietet. Das wäre das Richtige für Laurie. Er wird das Gig keines Blickes würdigen!»
«Was heißt das? Hast du Angst, daß er es beanspruchen wird, wenn du es gerade brauchst? Geh mit ihm ins Dorf und miete den Einspänner.»
«Ja, das werde ich tun. Ich habe ohnedies die Absicht, in der Rektorei Besuch zu machen und zu sehen, wie es Miss Chartley nach dem gestrigen Abenteuer geht. Brauchst du den Phaeton heute vormittag?» fragte Julian hoffnungsvoll.
«Nein, du kannst ihn haben.»
«Vielen Dank? Bist du schon einmal mit Waldos Braunen gefahren, Laurie?»
«Nein, das überlasse ich dir. Ich bin ja nicht der Schüler des großen Unvergleichlichen», sagte Laurence grinsend.
«Ich kann nur sagen, du bist der bessere Lenker von uns zweien», erwiderte Julian mit betonter Höflichkeit.
«Waldo ist anderer Meinung.»
«Unsinn! Wie denkst du darüber, Waldo?»
Waldo, der Briefe las, sagte ohne aufzublicken: «Denken – worüber?»
«Wie wir die Zügel führen. Wer von uns ist der Bessere? Du sollst entscheiden!»
«Unmöglich! Zwei Halbpennystücke in meiner Börse!»
«Wie häßlich, so etwas zu sagen!» Julian tat beleidigt. «Wenn du so von uns denkst, wundert es mich, daß du mir deine Braunen anvertraust!»
«Auch ich wundere mich!» sagte Sir Waldo und verließ den Frühstückstisch. «Würde es dir Spaß machen, an einem Ball teilzunehmen?»
«Guter Gott, Cousin, habt ihr Bälle in diesem ländlichen Bezirk? Was wird getanzt? Menuett?»
«Kontertänze und Reels – aber der kommende wird ein Walzerball, nicht wahr, Julian?»
Julian lachte: «Eine Art Walzer auf jeden Fall. Laurie, du wärest überrascht, wenn du wüßtest, wie lustig es hergeht!»
«Ich glaube, du solltest ihn zu Lady Colebatch mitnehmen», sagte Sir Waldo.
«Ihn in der Nachbarschaft weiterreichen? Also gut!»
Laurence war keineswegs sicher, daß er die neuen Freunde seines Cousins kennenlernen wolle. Er war an Hautevolee-Bälle gewöhnt, mit hochelegant gekleideten Besuchern. Ländliche Unterhaltungen stellte er sich entsetzlich langweilig vor. Allerdings, als er erfuhr, daß seine Cousins fast alle Abende der nächsten Zeit vergeben waren, sah er ein, daß er, wollte er sich nicht der Einsamkeit ausliefern, die ländlichen Unterhaltungen mitmachen müsse. Er ging also nach oben, um den verschnürten Morgenrock, in dem er gefrühstückt hatte, mit einem Kleidungsstück, das für ländliche Morgenbesuche geeigneter war, zu vertauschen.
Julian freute sich ein wenig boshaft auf den Eindruck, den sein dandyhafter Cousin in seiner gewohnten Kleidung auf die Nachbarschaft machen werde. Nun war er enttäuscht, als er Laurence in den Stallhof schlendern sah, ohne den Stadtanzug des Bond-Street-Kavaliers. Er hatte seine Beinkleider in zarten Farben und seine spiegelglatten Stiefel zugunsten blaßblauer Breeches und weißgeränderter Reitstiefel vertauscht, und seinen Rock mit den übertrieben langen Schwalbenschwänzen mit einem Redingote. Dennoch verliehen ihm die steif-wattierten Schultern und die enormen Revers eine nicht alltägliche Note; und sowohl die exakte Halsbinde wie die Höhe der Hemdkragenspitzen ließen nichts zu wünschen übrig. Und vor allem der Kutschiermantel, den er lässig in den Phaeton warf, hatte fast ein Dutzend Capes.
Julian gab ihm allen Ernstes den Rat, den Mantel anzuziehen, da die Straßen sehr staubig seien. «Du wirst im Staub ersticken», prophezeite er. «Das wäre schade, denn du siehst sehr fein aus!»
«Leider kann ich das Kompliment nicht zurückgeben, Cousin», sagte Laurie und musterte ihn durch sein Monokel. «Wenn du es mir nicht übelnimmst, muß ich sagen, dein Anzug sieht mehr dem einer Vogelscheuche ähnlich als dem des Unvergleichlichen.»
«Oh, ich habe es längst aufgegeben, Waldos Art nachzuahmen, wenn ich sein Auftreten ja doch nicht nachahmen kann», gab Julian mit freundlichem Lächeln zurück.
Es trug zur Harmonie des Tages bei, daß Laurence sich sagte, ein Zank mit Julian würde seiner Sache bei Waldo nicht nützen. Er unterdrückte deshalb eine ziemlich ätzende Antwort und sagte lachend: «Wie klug!» Das Angebot, die Zügel zu übernehmen, wies er träge zurück und kletterte in den Phaeton. Die ersten Minuten verliefen schweigend. Aber nachdem er eine Zeitlang Julians Führung der feurigen Pferde kritisch beobachtet hatte, sagte er: «Du wächst dich zu einem richtigen Könner aus! Sie sind ziemlich lebhaft, nicht wahr? Was hält Waldo hier so lange fest?»
«Weißt du es denn nicht? Er verwandelt Broom Hall in ein Waisenhaus.»
«Ja, ich weiß! Genauso wie das Gut, das er in Surrey kaufte, aber dort hat er nicht länger als eine Nacht zugebracht.»
«Das war dort etwas anderes. Hier muß er auch an die Landwirtschaft denken, und ich kann dir sagen, alles ist in einem entsetzlichen Zustand. Kein Verwalter! Waldo ist entschlossen, alles in tadellose Ordnung zu bringen, ehe er wieder heimfährt, was eine Teufelsarbeit bedeutet.»
«Herrgott! Er muß eben ein Dutzend Leute einsetzen!» rief Laurence ungeduldig.
«Nun, das will er nicht. Hallo! Hier kommt der Gutsherr! Ein Mann von bester Art! Eine gediegene Frau, ein Sohn und zwei Töchter», erklärte Julian dem Cousin, während er die Pferde anhielt. «Guten Morgen, Sir! Nicht sehr heiß heute. Darf ich Ihnen meinen Cousin vorstellen: Mr. Calver – Mr. Mickleby.»
Der Gutsherr erwiderte Laurences galante Verbeugung mit einem kurzen Nicken, blickte ihn prüfend an und rief aus: «Ha, Calver! Sie sehen dem alten Joseph recht ähnlich.»
Obwohl Laurence Mr. Calver nie gesehen hatte, nahm er diese Bemerkung übel, und als der Gutsherr auf seinem kleinen, plumpen Pferd weitertrottete, sagte er zu Julian, daß diese Manieren ein Beispiel seien, was man in diesem häßlichen Nest erwarten könne, und daß er lieber nicht mehr vorgestellt werden wolle. Aber als die Miete des Einspänners abgeschlossen war, fand er sich trotzdem bereit, Julian ins Pfarrhaus zu begleiten. Den Phaeton ließen sie im Hof der «Krone» und gingen die Dorfstraße hinunter. Sie erreichten das Pfarrhaus gerade in dem Augenblick, als Mrs. Underhill in die Barutsche stieg, die vor dem Haus auf sie wartete.
Mrs. Underhill war von Staples gekommen, um sich nach Patience zu erkundigen und um Mrs. Chartley zu versichern, wie unangenehm es ihr sei, daß sich eine solche Sache zugetragen habe, während Patience in der Obhut Miss Trents war. Sie war so aufgeregt, als ihr ruhiges Temperament es nur zuließ. Ihre starrköpfige Nichte hatte es rundweg abgelehnt, sie auf diesem Besuch zu begleiten. Möglich, daß sie nicht viel von modernen Manieren wisse, sagte Mrs. Underhill, aber eines wisse sie genau: Tiffany habe sich sehr schlecht gegen Miss Chartley benommen und sei ihr eine Abbitte schuldig. Darauf erklärte Tiffany mit einem Schwall böser Worte, daß Patience ihr eine Abbitte schulde, da sie sie in eine Situation ärgster Verlegenheit gebracht hatte. Damit schlug sie die Tür hinter sich zu und sperrte sich in ihr Schlafzimmer ein. Darüber regte sich nun Mrs. Underhill sehr auf, denn sie mußte sie bei Mrs. Chartley entschuldigen. Sie sagte, Tiffany läge mit Kopfschmerzen im Bett. Als aber Patience erklärte, daß es ihr so leid tue, denn es müsse ja ganz entsetzlich für die arme Tiffany gewesen sein, von der Menge angestarrt und herumgestoßen zu werden, gab Mrs. Underhill alle Ausreden auf und erklärte geradeheraus: «Es macht Ihnen alle Ehre, das zu sagen. Aber soviel ich höre, hat sie sich sehr häßlich benommen, und ich bin wirklich ganz außer mir. Und wenn sie sich bei Ihnen nicht entschuldigt – was sie nicht tun wird, denn man kann ihr nicht beibringen, einen Fehler einzugestehen, selbst wenn man bis zum Jüngsten Gericht in sie hineinredet –, will ich es, und tue es hiermit.»
Mrs. Chartley, die Mrs. Underhills Aufregung sah, machte Patience ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen, und unterzog sich der Mühe, Mrs. Underhills erregtes Gemüt zu beruhigen. Das gelang ihr so gut, daß es nicht lange dauerte, bis Mrs. Underhill ihr von den Schwierigkeiten und den Aufregungen erzählte, die die Betreuung einer so verwöhnten Schönheit, die offensichtlich nicht einen Funken Herzensgüte besitze, mit sich bringe. Mrs. Chartley hörte mitfühlend zu und stimmte mit Mrs. Underhill überein, daß Tiffany sich anders entwickelt hätte, wäre sie nicht von ihrem Onkel in die Schule geschickt worden. Sie bestärkte Mrs. Underhill in ihrer Hoffnung, daß die Zornesausbrüche nur kindisch seien und sich mit zunehmender Reife bessern würden.
Nachdem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, fühlte sich Mrs. Underhill viel besser. Ein Glas Mandellikör und ein herzliches Gespräch mit ihrer Gastgeberin stellte sie wieder vollkommen her, und als die beiden Chartley-Damen sie zu ihrer Barutsche begleiteten, war sie wieder die alte und fähig, Lord Lindeth ohne Spuren der Aufregung zu begrüßen. Er stellte ihr Laurence vor, und während dieser höfliche Worte mit Mrs. Chartley wechselte, erkundigte Lindeth sich freundlich nach Tiffany und bedauerte die Ereignisse des Vortags, die ihren Nerven zuviel zugemutet hatten.
«Nerven?» sagte Mrs. Underhill, den taktvollen Ausdruck zurückweisend. «Mein Gott! Sie hat keine. Alles, was sie hat, ist ein böses, häßliches Temperament, mit dem sie uns alle noch ins Grab bringen wird! Nicht, daß sie nicht süß wie Honig sein kann, wenn sie will. Aber wenn nicht alles nach ihrem Kopf geht, läßt sie sich gehen.» Sie senkte die Stimme und sagte mit einem vielsagenden Blick auf Laurence: «Sagten Sie, der Herr sei Ihr Cousin?»
«Ja, Ma'am, mein Cousin Calver.»
«Nun», flüsterte sie, «wir dachten immer, es könnte niemand so modisch sein wie Sir Waldo, so elegant und schmuck. Aber gegen Mr. Calver kommt er nicht auf, nicht wahr? Nein, das ist der Gipfel der Eleganz! Ich bin überzeugt, er ist einer der Tonangebenden in London!»
«Ja, tatsächlich», sagte Julian und seine Augen funkelten. «Der Gipfel der Eleganz!»
«Das sehe ich.» Sie nickte sehr beeindruckt. «Ich hoffe, Sie bringen ihn zu meinem Dinner am Freitag mit – wenn er es nicht für langweilig hält.»
«Er wird Ihnen sehr verbunden sein, Ma'am», sagte Julian und wandte sich seinem Cousin zu: «Laurie, Mrs. Underhill war so freundlich, dich für nächsten Freitag zum Dinner einzuladen.»
Laurence führte eine seiner eleganten Verbeugungen aus und dankte. Er war stolz auf seine gesellschaftlichen Erfolge, aber selbst Mrs. Underhills unverhohlene Bewunderung söhnte ihn nicht mit der Aussicht aus, in ihrem Haus dinieren zu müssen. Er bezeichnete sie als eine vulgäre Neureiche und wunderte sich, daß seine Cousins sie nicht in gehörigem Abstand gehalten hatten.
«Wir sind nicht so etepetete wie du, und natürlich auch nicht von solcher Bedeutung!»
Laurence errötete und sagte mürrisch: «Du brauchst mich nicht zurechtzuweisen, weil ich mir nichts aus solcher Gesellschaft mache. Wer ist diese Kreatur?»
«Sie ist eine reiche Witwe mit einem Sohn und einer Tochter und einer sehr schönen Nichte. Sie besitzt das größte Haus in der Nachbarschaft und wird uns ein kapitales Dinner vorsetzen. Sie ist gewöhnlich, aber ausgesprochen gutmütig, und war so nett, uns eine offene Einladung zu geben, wann immer wir in Staples dinieren wollen – oder wann immer die Maurer Broom Hall unerträglich machen sollten. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, sie häufig zu besuchen; wenn du dir also von Waldo keinen Rüffel holen willst, rate ich dir, von Mrs. Underhill nicht als einer vulgären Neureichen zu sprechen.»
«Eine von Waldos Schrullen, nehme ich an. Oder hat er einen Flirt mit der schönen Nichte? Hält ihn das in Yorkshire fest?»
«Ich habe dir schon gesagt, was ihn hier hält. Was Miss Wield betrifft, ist sie nicht älter als siebzehn, und wenn du glaubst, Waldo würde ...»
«Oho», unterbrach Laurence mit erwachender Neugier, «bist du selbst interessiert?»
Julian errötete und antwortete steif: «Nein, ich bewundere sie, wie jeder hier, aber ich bin keiner ihrer Verehrer.» Und in leichterem Ton fuhr er fort: «Sie ist ein Brillant von reinstem Wasser, das kann ich dir sagen. Aber es gibt hier noch andere, sehr hübsche Mädchen – Miss Colebatch ist eine von ihnen. Ich hoffe, sie ist zu Hause, wenn wir nach Colby Place kommen.»
«Hoffe es nicht für mich, ich bin nicht nach Unterröcken aus!»
Das stimmte insofern, als er viel zu überheblich war, um jemals auch nur die geringste Leidenschaft für eine Dame zu empfinden; vorausgesetzt aber, daß er nicht zu Botengängen oder Tanzveranstaltungen verhalten oder sonst irgendwie verpflichtet wurde, hatte er die Gesellschaft von Damen gerne. Er war auch sehr empfänglich für Schmeichelei, und die wurde ihm in Colby Place in vollem Maße zuteil. Nicht nur Miss Colebatch, sondern auch ihre beiden jüngeren Schwestern und dir Mama waren zu Hause, als die Besucher angemeldet wurden, und vom Augenblick seines Auftrittes waren alle Augen auf den eleganten Mr. Calver gerichtet. Bewunderung stand in den Jungmädchenaugen. Wenn er aber so freundlich war, ein Wort an die eine oder andere zu richten, zeigten ihr Erröten, ihr Kichern und ihre verwirrten Antworten, wie sehr sie seine Herablassung würdigten. Miss Colebatch war, obwohl sie es nicht zeigte, von seiner weltmännischen Art sehr beeindruckt, und ihre Mama bat ihn nicht nur um die Ehre seines Erscheinens bei ihrem Ball, sondern stellte an ihn auch verschiedene Fragen, die sich auf den Ball bezogen; sie müsse annehmen, daß er doch in allen Finessen der herrschenden Mode Bescheid wisse.
Und bald wurden ihm noch größere Ehrungen zuteil. Die Neuigkeit, daß der Unvergleichliche einen zweiten Cousin im Hause habe, verbreitete sich schnell und fand ihren Widerhall in einem Berg von Briefen an Sir Waldo. Sie enthielten die Beteuerungen der verschiedenen Gastgeberinnen, denen Sir Waldo und Julian zugesagt hatten, daß sie nur zu glücklich wären, Mr. Calver zu ihren Gästen zählen zu dürfen.
Laurence spielte Interesselosigkeit, aber insgeheim war er ebenso erfreut wie überrascht, einen so unerwarteten Aufstieg zu Bedeutsamkeit zu erleben. In London, unter Männern mit mehr natürlichen Gaben und dickeren Brieftaschen als er, war es ihm unmöglich, Aufsehen zu erregen, vor allem (wie er oft traurig dachte), wenn man das Unglück hatte, von einem so strahlenden Cousin wie dem Unvergleichlichen überschattet zu werden. Nicht nur, daß dieser als maßgebend in allen Dingen anerkannt wurde, spendete man ihm neben Bewunderung auch Zuneigung. Viel zu oft wurde Laurence als «Sir Waldo Hawkridges Cousin» vorgestellt; und obwohl er keine Bedenken hatte, sich dieser Verwandtschaft zu rühmen, wenn er in exklusive Kreise Eingang finden wollte, wurmte es ihn, daß er nur wegen des Respekts, den man Sir Waldo zollte, akzeptiert wurde. Die Vorstellung, daß er in einem ländlichen Bezirk, fern von jedem modischen Mittelpunkt, Eroberungen machen würde, hätte er mit Verachtung abgetan; aber durch den bloßen Umstand, daß er seinen Cousin besuchen wollte, zum Stern auf einem Nebenhimmel avanciert zu sein, fand er gar nicht unangenehm. Mochten ihn ältere rustikale Herren auch mit Mißtrauen betrachten, mochten ihre Söhne auch Waldo zu ihrem Vorbild machen; von kindischenGreisen verachtet und von Schuljungen bewundert zu werden, war ihm gleichgültig, solange er von den Damen verwöhnt wurde. Er genoß die herrliche Genugtuung, daß seine Haartracht, seine Halstücher und alle seine Manierismen von vielen Jüngern des Dandytums kopiert wurden. Diese Erfolge halfen ihm, seines Cousins schweigende Ablehnung, als er das Thema, das ihn nach Yorkshire geführt hatte, wieder aufnahm, mit Gleichmut zu ertragen. Er hatte nur einmal den Versuch gemacht; als dieser vereitelt wurde, dachte er, daß er vielleicht ein wenig vorschnell gewesen war und seinem Cousin mehr Zeit zur Überlegung lassen sollte. Nach einer schicklichen Pause würde er die Sache nochmals versuchen. Bis dahin war ihm jede gebotene Unterhaltung recht, um ihm die Zeit zu vertreiben.
Sein Erscheinen auf dem Colebatch-Ball überstieg alle Erwartungen und stellte alle einheimischen Beaus in den Schatten. Die sorgsam gelegten, pomadisierten Locken, die Höhe seiner Hemdkragenspitzen, sein kunstvoll geschlungenes Halstuch, die gestärkten Rüschen, die zwischen den Aufschlägen seines enganliegenden Rockes hervorguckten, die kurze Taille zu den verschwenderisch langen Schwalbenschwänzen, der Uhranhänger und die Siegel, die aus seiner Westentasche hingen, und selbst die Rosetten an seinen Tanzschuhen ließen auf den ersten Blick den Dandy erkennen. Viel beachtet wurde seine Verneigung. Wenn er auch nicht als hübsch galt, sah er doch gut aus, und als er Tiffany Wield zum ersten Walzer auf das Parkett holte, mußten die strengsten Kritiker ihn für einen vollendeten Tänzer halten.
Die auf ihn gerichteten bewundernden Augen wären noch länger auf ihm haften geblieben, wäre die Aufmerksamkeit nicht von einem zwar nicht so angenehmen, aber viel aufsehenerregenderen Bild abgelenkt worden.
«Sehen Sie doch!» rief Mrs. Banningham mit zitternder Stimme Mrs. Mickleby zu.
Die drei Gentlemen von Broom Hall waren eingetroffen, als die ländlichen Tänze zu Ende gingen. Nachdem Sir Waldo die Gastgeberin begrüßt hatte, trat er zu verschiedenen Bekannten, um ein paar Worte zu wechseln, während sein suchender Blick ohne Eile von Gruppe zu Gruppe schweifte. Seine Größe erlaubte ihm, über viele Köpfe hinwegzusehen, und so entdeckte er bald Miss Trent, die mit Mrs. Underhill an einer Wand des Raumes saß. Sie trug ein Ballkleid aus blaß orangefarbenem italienischem Crêpe, mit Spitzen besetzt und tief ausgeschnitten. Anstelle der schlichten Zöpfe, die sie für eine Gesellschafterin als passend erachtete, ließ sie heute ihre natürlichen Löckchen sehr vorteilhaft von einem Scheitelknoten herabfallen. Sie sah viel jünger aus und in Sir Waldos Augen wunderschön.
Er lenkte die Schritte in ihre Richtung und erreichte sie, als die Musikanten den Walzer anstimmten. Ein Lächeln, eine kurze Begrüßung Mrs. Underhills, und er verbeugte sich vor Miss Trent. «Darf ich um die Ehre bitten, Miss Trent?
Er hatte ihr zwar gesagt, daß er sie um den ersten Walzer bitten werde, aber sie hatte dies doch erst für den vorgeschrittenen Abend erwartet. Sie zögerte. Sie hatte das Gefühl, daß sie nicht die erste Dame sein sollte, die mit ihm antrat. «Danke – aber – wollen Sie nicht – Miss Cole ...»
«Nein, ganz gewiß nicht! Das ist Julians Vorrecht.»
«Oh, natürlich. Aber es sind doch so viele andere Damen – die ein Anrecht ...»
«Nein!» unterbrach er sie. Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. «Mit Ihnen oder mit keiner! Kommen Sie!»
«So ist es recht, Sir Waldo», sagte Mrs. Underhill und strahlte ihn an. «Halten Sie eine Absage nicht für eine Antwort. Und das gilt auch für Sie, meine Liebe. Sagen Sie nur <Danke schön, Sir>, und weiter keinen Unsinn!»
Ancilla konnte nicht widerstehen. Sie erhob sich und reichte Sir Waldo die Hand. Ihre Augen strahlten in die seinen. «Danke schön, Sir», sagte sie folgsam.
Seine Rechte berührte leicht ihre Taille. Als er sie rund um den Raum führte, sagte er: «Diese Frau ist immer wieder eine Erfrischung für mich!»
«Wirklich?» fragte sie, ihn neckend. «Wie rasch Sie Ihre Meinung ändern! Ich erinnere mich, als wir kürzlich von ihr sprachen, war es in einem anderen Sinn.»
«Ich habe ihr unrecht getan. Jetzt weiß ich, daß sie eine Frau mit gesundem Menschenverstand ist. Wie gut Sie tanzen!»
Das stimmte. Aber sehr wenigen der Anwesenden machte das Schauspiel Vergnügen. Matronen, die mit ihren Töchtern zu dem Ball ausgerückt waren, fühlten ihre Brust vor Zorn schwellen, als sie Tiffany Wields Gesellschafterin (oder wie immer sie sich nannte) am Arm des Unvergleichlichen über das Parkett gleiten sahen. Sie hatte nicht notwendig, auf ihre Schritte zu achten, sondern tanzte den Walzer graziös und leicht und erfreute sich nebenbei einer angeregten Konversation mit ihrem Partner.
Einer, der es mit Befriedigung sah, war der Rektor. Er sagte zu seiner Gattin: «Nun, meine Liebe, wir sehen, wie selbstverständlich dieser Tanz ist. Reizend, wirklich reizend!»
«Nun, er kann mir nicht wirklich gefallen, aber ich gebe zu, daß er sehr hübsch ist, wenn er richtig getanzt wird. Wie ich höre, ist Mr. Calver hier der beste Tänzer, aber ich ziehe Sir Waldos zurückhaltenden Stil vor. Auch Miss Trent tanzt, wie es sich für eine Dame gehört; aber du kannst dich darauf verlassen, daß Miss Wield und Miss Colebatch und die Mickleby-Töchter, sobald sie die Schritte können, ein wildes Gehüpfe daraus machen werden. Es täte mir sehr leid, wenn meine Tochter sich zu einem so unpassenden Betragen verleiten ließe.»
Der Rektor lachte gütig. «Das würde einen Schatten auf ihre Erziehung werfen, nicht wahr! Ich glaube, wir müssen uns darum nicht sorgen, sie tanzt sehr hübsch. Ich bin natürlich nicht unparteiisch, aber nach meiner Meinung tanzt sie – mit Ausnahme von Miss Trent – den Walzer besser als alle anderen Damen.»
«Ja», stimmte seine Gattin bei. «Aber Arthur Mickleby ist ein zu unbeholfener Partner für sie.»
Da sie Mrs. Underhill ganz allein sah, ging sie zu ihr, setzte sich an ihre Seite und sagte: «Wie gefällt Ihnen der Walzer, Mrs. Underhill? Mein Gatte ist in Verzückung und hält mich für sehr altmodisch, daß er mir nicht so gut gefällt wie ihm.»
«Nun, ich sähe mich ihn nicht gerne selber tanzen», sagte Mrs. Underhill. «Aber ich finde den Anblick reizend, wie sich Sir Waldo und Miss Trent so elegant durch den Raum drehen. Ich kann einfach nicht verstehen, wieso sie weiß, wann er in eine andere Richtung tanzen will, und wann rundherum, denn man hat nicht den Eindruck, daß er sie schiebt oder zieht. Das müßte er doch sicher, wenn er zum Beispiel mich im Arm hielte.»
Mrs. Chartley lächelte. «Sie tanzen wirklich sehr gut miteinander.»
«Nicht wahr?» nickte Mrs. Underhill beifällig und mit Vergnügen. «Sie passen so gut zusammen. Miss Trent ist groß, und beide sind so hübsch! Als sie heute abend herunterkam, das Haar so gelegt, wie Sie es sehen, und das Kleid, das – wie sie sagt – seit ihrem Aufenthalt im Hause des Generals in Lavendel gelegen ist (was man ihm nicht ansieht), da sagte ich zu ihr: <Also, ich habe Sie meiner Seel' noch nie so schön gesehen!> Und das ist wahr!» Und leiser fügte sie hinzu: «Außerdem, Mrs. Chartley, ich war nicht die einzige, die platt war – o nein! <Mit Ihnen oder mit keiner!> hat er gesagt, als sie ihn bat, mit einer anderen Dame zu tanzen.»
«Sir Waldo?» fragte Mrs. Chartley erstaunt.
«Sir Waldo!» gab Mrs. Underhill mit sichtlicher Befriedigung zurück. «Aber wissen Sie, für mich war es keine Überraschung. Ich mag eine Gans sein – wie Mr. Underhill mir manchmal, natürlich im Scherz, sagte –, aber ich habe Augen im Kopf, und Brillen brauche ich auch nicht! Und ich bin auch keine solche Gans zu glauben, daß er meinetwegen so oft nach Staples kommt. Zuerst habe ich geglaubt, daß es Tiffany sei, der er nachläuft, aber sie ist es nicht! Natürlich flirtet er ein wenig mit ihr – das kann ich nicht leugnen –, aber das ist nur Spielerei. Es ist Miss Trent, die ihn nach Staples zieht.»
Mrs. Chartley war über so viel Vertrauen beunruhigt und sagte: «Daß er Miss Trent vorzieht, ist mehr als verständlich. In gewissem Sinn gehören sie derselben Welt an, der Londoner Welt, und zweifellos haben sie gemeinsame Bekannte. Auch ist sie kein junges Mädchen mehr, sondern eine Frau von fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, sehr gebildet und an gesellschaftlichen Verkehr gewöhnt, der mit den reiferen Jahren kommt. Sie hat genug Verstand – aber wenn ein Mann von Sir Waldos Namen und Erfahrung einer Dame den Hof macht ...»
«Lieber Gott! Ma'am, wo denken Sie hin?» fiel Mrs. Underhill ein. «Es ist keine Ehe zur linken Hand, die er im Sinne hat! Nicht mit ihr, wo doch ihr Onkel ein General ist!»
«Nein, gewiß, Sie mißverstehen mich! Ich wollte nur sagen, daß es unklug wäre, Miss Trent zu falschen Hoffnungen zu ermuntern. Verzeihen Sie mir, Ma'am, aber ich fürchte, Sie legen zuviel in einen bloßen Flirt hinein!»
Mrs. Underhill lächelte nachsichtig. «Ei nun, wer länger lebt, sieht mehr!» prophezeite sie.