Kapitel 14
Wir brachen erst drei Tage später auf, und das in großem Stil. Unsere Pferde waren rund und ausgeruht, und ich trug nicht nur ein Körbchen mit einem kleinen Sonnenschutz aus Leinen darüber hinter mir auf den Sattel gebunden, sondern ritt auf dem hübschesten kleinen Zelter, den man je gesehen hatte. Ganz sahnefarben und mit einem Gang so sanft wie Seide, daß er mir unterwegs den Kleinen nicht aufweckte. Wir waren neu eingekleidet, Gregory und ich, aber dafür hatten wir bezahlt. Ein Waffenrock läßt sich schwerlich wieder zusammenflicken, wenn man ihn einem Menschen von Kopf bis Fuß vom Leib geschnitten hat, und auch mein Kleid war unwiderruflich dahin. Vielleicht hätte man es neu zuschneiden und die Flecke herausschneiden können, aber diese Arbeit wollte ich mir nicht aufbürden.
Hugo führte den Trupp an, Robert zur Seite, und beide in voller Rüstung, denn wer wußte, was uns unterwegs alles zustoßen konnte? Er strahlte diese gewisse Selbstzufriedenheit aus, die ihn immer umgab, wenn seine Rüstung frisch geputzt war und sein Wimpel von der Lanzenspitze flatterte. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß Dummheit auch ihre Vorzüge hat. Nichtigkeiten konnten Hugo glücklich machen: Wie beispielsweise seine Füße im Steigbügel wirkten, wo über dem Kettenhemd des Pferdes hell strahlende Beinschienen prangten. Ich sah, wie er sie ausstreckte und sie beim Aufsteigen bewunderte, und sah ihn damit ein wenig wackeln, nur damit er sich so richtig an dem Klirren von teurem Metall auf Metall erfreuen konnte. Dann sein dümmliches Lächeln, wenn er sich ein Sträußchen unter die Nase hielt, es sich dann keß hinters Ohr steckte und sich verzog, um einer gleichermaßen dümmlichen Frau den Hof zu machen. Und die Art, wie zuweilen das Licht durch ein Buntglasfenster beim Gebet genau in dem Augenblick auf sein nach oben gerichtetes Gesicht fiel, wenn er seinem Schöpfer dankte, daß er ihn zum Abbild eines preux chevalier gemacht hatte. Für ihn war alles gut, und nie stellte er etwas in Frage.
Gregory, der hinter ihm ritt und den runden Schild und die Sturmhaube an den Sattelknopf gehängt hatte, sah bleich und mißmutig aus. Er hatte sich drei Tage lang vollaufen lassen, und jetzt schienen sogar die Vögel, die am Straßenrand zwitscherten, zu merken, daß er furchtbare Kopfschmerzen hatte, denn wenn er vorbeiritt, verdoppelten sie ihre Anstrengungen, und er verzog dabei das Gesicht.
»Was erwartest du eigentlich, wo ich seitenweise Lobhudeleien über diesen verfluchten, wohlriechenden Psalmendudler zu Papier bringen mußte?« fauchte er mich an jenem Morgen an, als er seine Rüstung hinter sich auf den Sattel band. »Mit Sicherheit hätte ich das nüchtern nicht geschafft.«
»Du hast alles schon geschrieben?« fragte ich.
»Natürlich«, erwiderte er und ruckte so gemein am Sattelgurt, daß sein Pferd erschrak und die Luft ausstieß, mit der es sich aufgeblasen hatte. »Das gehörte doch zu der Abmachung. Ich mußte auf eine ganze Tonne von Reliquien schwören, und er wollte vor meinem Aufbruch die Rohfassung sehen. Die hat er dann auch noch am Rande verbessert, o ja. Hat noch eine ganze Menge hinzugefügt, wie er trotz seiner äußerlichen Pracht ein bescheidener und demütiger Mensch geblieben ist. Pa! Herrgott noch mal, mein Kopf – er fühlt sich an, als hätten ihn Teufel angenagt.«
»Ich helfe dir nicht.«
»Habe ich dich etwa darum gebeten?« fuhr er mich an und machte auf dem Hacken kehrt.
Und so ritt ich natürlich neben Bruder Malachi und Mutter Hilde, wo ich mit besser Gelaunten plaudern konnte.
»So geht es Menschen mit einem hellen Kopf«, sagte ich. »Die haben Probleme, von denen dumme Leute nicht einmal träumen. Könnt ihr euch vorstellen, daß sich Hugo um »historische Genauigkeit« Sorgen macht? Ei, der hat es ja noch nicht einmal bis zu »künstlerischer Integrität« gebracht!« Ich rollte Gregorys geschwollene Worte genauso, wie er sie aussprechen würde.
»Ich habe schon immer geahnt, daß Gilbert seinen Meister gefunden hat, als er sich mit dir einließ, Margaret«, verkündete Malachi fröhlich.
»Etwas will mir nicht in den Kopf, Malachi. Warum hat der Abt diesen hübschen Zelter gegen die kleine Stute mit dem unebenen Gang eingetauscht? Ich glaube kein Wort von dem ganzen aufgeblasenen Gerede, das er von sich gegeben hat.«
»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Bruder Malachi und blickte in die Ferne. Mutter Hilde, die hinter ihm ritt und die Arme um seine Mitte geschlungen hatte, unterdrückte ein Lächeln. Aber zu spät, ich hatte es gesehen.
»Mutter Hilde, du weißt etwas«, bezichtigte ich sie.
»Das muß dir Malachi und kein anderer sagen«, gab sie zurück und wirkte dabei sehr zufrieden.
»Na, schon gut.« Seine mürrische Zurückhaltung war nur gespielt. Mir war klar, daß er nur so darauf brannte, alles auszuplaudern. »Margaret, liebes Mädchen«, brummelte er heiter, »allem Anschein nach war ein gewisser, heiliger Beichtvater, deiner übrigens, so überwältigt von den guten Werken des Abtes und seiner offenkundigen Frömmigkeit, daß er zu der Überzeugung gelangte, nur das Kloster St. Michel Archange sei der angemessene Aufbewahrungsort für einen seltenen Schatz, den man ihm unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit anvertraut hatte.«
»Und welcher Schatz genau war das?« Die Saat des Argwohns war bereits aufgegangen.
»Fünf große, vollendet zusammenpassende Smaragde aus der Krone der Königin von Saba höchstpersönlich, die ein gewisser Abraham, der Jude, mir auf dem Totenbett anvertraute – natürlich als Dank dafür, daß ich ihn im christlichen Glauben unterwiesen hatte –, in welchem Glauben er auch dahinschied. Mögen Engelscharen ihn zur Ruhe singen. Halleluja! Soviel ich weiß, wollen sie einen sehr prächtigen Schrein bauen.«
Soviel Frechheit, selbst bei Bruder Malachi, entsetzte mich denn doch. Ich machte große Augen und legte die Hand auf den Mund. Er sah äußerst selbstzufrieden aus. Dann dachte ich ein wenig nach.
»Aber, Bruder Malachi, was machen die Mönche wohl, wenn sie verblassen?«
»Ei, die suchen sich einen anderen Alchimisten, der sie wieder ins Tauchbad legt – wenn sie vernünftig sind. Doch bis dann dürften sie den Preis für die Stute durch vermehrte Opfergaben längst wieder hereingeholt haben. Und vergiß nicht, sie war ein gutes Geschäft. O ja – ich betrüge nie. Außerdem war es für einen guten Zweck.«
»Ich höre euch dahinten lachen. Ihr redet über mich. Schluß damit, ja? Ich habe die Nase gestrichen voll.« Gregory hatte sich im Sattel umgedreht und schimpfte mit uns. Natürlich galt das nicht Hugo vor ihm. Der sang so fröhlich wie eine Lerche eine seiner eigenen Schöpfungen. Ich habe es wohl noch nicht erwähnt, aber Hugo singt auch noch falsch.
»Gilbert, schon der weise Cato hat gesagt, ein argwöhnischer Mensch denkt immer, man redet über ihn«, gab Bruder Malachi zurück.
»Ich glaube nicht, daß ich die Stelle kenne. Ihr lacht mich aus.« Er legte die Hand auf den Kopf, um dem Hämmern Einhalt zu gebieten, das sein Geschimpfe ausgelöst hatte.
»Wenn wir die Pferde wieder tränken, mußt du wirklich etwas gegen Gilberts Kopfschmerzen tun, Margaret. Das verlange ich, ja, ich flehe dich an. Er ist einfach unausstehlich«, sagte Malachi laut und übertrieben vertraulich.
»Da haben wir's. Ihr redet also doch über mich«, kam es gequält von vorn.
»Freilich rede ich über dich, Gilbert. Ich habe gesagt, daß du der dickköpfigste junge Mann aus meiner ganzen Bekanntschaft bist – sogar noch dickköpfiger als unsere Margaret hier.« Gregory wandte ein wenig den Kopf, damit er ja alles mitbekam, aber er weigerte sich, uns eines Blickes zu würdigen. »Wer sonst«, fuhr Bruder Malachi fort, »würde wohl, nachdem er uns alle auf Kosten seiner intellektuellen Integrität gerettet hat, vor uns in einer wahren Wolke störrischer Überheblichkeit und Selbstmitleides einherziehen, anstatt mitten unter uns zu reiten und sich in unserer Bewunderung und Dankbarkeit zu sonnen.« Gregorys Pferd verlangsamte das Tempo. Als wir ihn einholten, sagte Malachi fest: »Gilbert, du gestattest Margaret jetzt, daß sie etwas für deinen Kopf tut, und wirst wieder Mitglied der menschlichen Rasse.«
Vor uns brach Hugo in Jubelgeschrei aus. Endlich war es ihm gelungen, hirondelle auf immortelle zu reimen.
Nach Brabant zu gelangen, war durchaus nicht so einfach, wie es die Weiße Dame hingestellt hatte, doch viel schwieriger auch nicht. Und Dame Bertrandes Schwester empfing uns tatsächlich mit großer Herzlichkeit. Als sie hörte, wer am Tor Einlaß begehrte, rannte sie höchstpersönlich den ganzen Weg zum Torhaus, damit sie uns mit offenen Armen aufnehmen und begrüßen konnte. Erst ließ sie unsere Pferde in den Stall führen, dann legte sie eine Pause ein, warf vor Staunen und Freude die Hände hoch und musterte uns allesamt.
»Ei! Dieser prächtige Ritter ist der kleine Hugo, den ich erst einmal im Leben gesehen habe! Wie groß du geworden bist! Das genaue Abbild eines preux chevalier!« Hugo reckte das Kinn, er wollte wohl noch markiger aussehen. »Und dieser schöne, junge Mann ist Euer Knappe? Habt acht, junger Herr, ich habe viele bezaubernde pucelles, denen dürft Ihr nicht das Herz brechen!« Robert errötete kleidsam. Sie war gar nicht zu verkennen, da sie ihrer Schwester recht ähnlich sah, nur nicht so groß, dafür aber rundlicher. Und natürlich älter, denn Madame Belle-mere war schon viele Jahre tot. Als dann die Reihe an Gregory kam, brach sie in Tränen aus.
»Ihre Nase! Ja! Genau ihre Nase. Wer hätte gedacht, daß ich die noch einmal sehen würde.« Gregory blickte entgeistert und faßte unwillkürlich nach dem Stein des Anstoßes.. »Nicht zu fassen, der Sohn, den ich nie gesehen habe, und da ist sie, ihre Nase, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Meine arme, liebe, tote Schwester!« Und dann nahm sie den lang herunterhängenden Ärmel ihres Unterkleides, betupfte sich zierlich die Augen und schniefte: »Ihr Haar hast du auch. Das wollte nie glatt anliegen. Sie konnte es nicht ausstehen.« Gregorys Hand fuhr von der Nase zu den ungebärdigen Locken, dann beugte er sich zu mir, während sie in eine andere Richtung blickte, und sagte leise und verdutzt: »Margaret, ich dachte, an meinem Haar wäre nichts auszusetzen?«
»Es steht dir ausnehmend gut, Gregory. Mit anderen Haaren wärst du nicht halb so schön«, flüsterte ich zurück.
»Und das ist deine Frau und euer wonniger Kleiner! Herein, herein mit Euch und begrüßt Sieur Bernard de Martensburg, meinen Mann.«
Und als sie uns in den Palas vorauseilte, warnte sie uns: »Verdenkt es ihm nicht, wenn er zu eurer Begrüßung nicht aufsteht, seine Gliedmaßen sind verkrüppelt, er ist an den Stuhl gefesselt. Wenn ihr euch jedoch mit ihm unterhaltet, merkt ihr schon, daß er ein Mann von scharfem Verstand ist. O ja. Äußerst bewundernswert. Und deswegen preise ich mich in jeder Hinsicht glücklich.« Und damit wirbelte sie inmitten eines Schwarms von pucelles, Pagen, Gästen, Knechten, Hunden und einem halben Dutzend nackte Bauernbälger mit schmutzigem Gesicht, die sie auf ihrem Weg durch den Innenhof irgendwie aufgelesen hatte, geschäftig durch ihre Haustür. So erging es ihr immer, denn sie war die Quelle aller guten Gaben, und ob man nun Nadel und Faden, Milchbrötchen, einen Ochsenkarren, ein Fest für fünfhundert Gäste oder eine Beisetzung mit sechzig gemieteten Klageweibern brauchte, immer hieß es ›Geh zu Madame‹. Daher war sie ewig von erwartungsvollen Geschöpfen aller Arten umdrängt und kannte keine Ruhe und keine Rast.
Der Palas war groß und schön und aus hellfarbigem Stein und hatte hohe, gewölbte, von Säulen getragene Fenster. Man führte uns zu einem Kastentisch, der ganz mit einem schönen, prächtigen Tuch bedeckt war, daß wir den Herrn von Martensburg begrüßten, der sich mit Papieren beschäftigte, die er aufgerollt und deren Ecken er mit Büchern beschwert hatte. Auf einer Seite lagen ein Astrolabium und andere Instrumente, Federn und ein Tintenfaß standen auf der anderen. Auf ein Wort hin nahm oder holte einer der beiden Diener, die ständig um ihn waren, was immer er haben wollte. Sein verhutzelter Leib hockte in einem großen, mit Kissen ausgelegten Stuhl, die verschrumpelten Beine hingen nutzlos herunter. Sein Rücken hatte einen Buckel, seine Brust war hohl, und sein Atem pfiff. Im Vergleich zu seinem geschrumpften Leib war sein Kopf, als er ihn von der Arbeit hob, mit der breiten und hohen Stirn und dem langen Kinn ausgesprochen groß. Die Augen, die uns entgegenblickten, waren dunkel und strahlten eine fast beängstigende Intelligenz aus.
»Wohledler Herr und Gemahl, das hier sind die Söhne meiner Schwester mit ihrer Familie, die uns besuchen wollen.« Einen Augenblick ließ sie von ihrer Betriebsamkeit ab, und ihre wirbelnden Kleider kamen sozusagen zur Ruhe, derweil sie einen tiefen Knicks vor ihm machte und uns beim Hochkommen vorstellte. Als die Knechte, die das Körbchen trugen, ihm den Kleinen hinhielten, damit er ihn betrachten konnte, blickte er ihm lange ins schlafende Gesichtchen. Peregrin machte beim Schlafen Schmatzlaute und schnarchte lustvoll.
»Hat das Kind gerade Gliedmaßen?« fragte er.
»Ja, Mon Seigneur«, antwortete ich.
»Dann war es doch mein Blut«, sagte er als Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Und mir fiel wieder ein, was Madame Belle-mere gesagt hatte: die Kinder hätten schlechte Knochen. »Seid ihr neugierig?« fragte er uns alle. »Habt ihr dergleichen noch nie gesehen? Es ist ein von Gott gesandtes Gebrechen, das mit der Zeit immer schlimmer wird. Als ich mich vermählte, da trugen mich meine Beine noch, und meine liebe Frau sagte, ein aufrechtes Herz sei ihr mehr wert als ein gerader Rücken.«
Darauf machte Malachi eine Bemerkung über seine Sternenkarten, um ihn von diesem unangenehmen Thema abzulenken. Wenn ich mich recht entsinne, so ging es um die Sonne, welche in das Zeichen der Jungfrau eintrat, aber mit Sternen kenne ich mich nicht aus, das ist mir zu kompliziert. Sieur Bernards Laune hob sich sichtlich, und schon bald gingen die beiden seine Berechnungen durch. Malachi weiß eine Menge über Sterne, das braucht er für seine Arbeit mit Metallen. Wie er mir einmal erklärt hat, gibt es sieben Wandelsterne, die den sieben Metallen zugeordnet sind: beispielsweise Merkur für Quecksilber und Mars für Eisen. Der Rest sind Fixsterne, und die rühren sich nie vom Fleck. Auch Gregorys Interesse erwachte, als Sieur Bernard anfing, seine Karten zu erläutern, doch kaum jemand kennt sich mit Sternen so gut aus wie Bruder Malachi, und das hatte Sieur Bernard auf der Stelle gemerkt.
Aus dem, was ich hörte, schälten sich zwei große Probleme heraus! Erstens bemühte er sich, nach den Sternen die genaue Zeit der Wiederkunft Christi zu errechnen. Das hätte er schon längst geschafft gehabt, wenn wegen der schlechten Qualität der früheren Sternenkarten nicht Probleme mit dem Kalender aufgetaucht wären. Mit dem stimmte etwas nicht – nämlich die Berechnung der Phasen und der Jahre. Seine Seiten voller römischer Ziffern stellten einen Versuch dar, den Schaden zu beheben, was jedoch ein ungeheures Unterfangen war.
»Leider übersteigt es meine Kräfte in diesem Leben«, seufzte er. »Aber ein neuer Kalender muß her.« Bruder Malachi und Gregory nickten. Hugo blickte so glasig geistesabwesend wie bei Predigten und bei Unterhaltungen über die Preisschwankungen von Salzheringen zur Fastenzeit. Ich kannte mich mit Sternen zwar auch nicht aus, aber ich wollte wissen, was es mit dem Kalender auf sich hatte.
»Einfach ausgedrückt, so daß es auch eine Frau versteht, die Sterne und der Kalender sind nicht phasengleich, und wenn das so weitergeht, dann haben wir demnächst im Januar Sommer und im Juli Winter.«
»Oh!« entsetzte ich mich. »Wie bald geschieht das?«
»Erst in vielen hundert Jahren.« Er lächelte ironisch über meinen Schreck.
»Aber wozu dann die ganze Aufregung? Das ist doch noch lange hin – soweit kann ich gar nicht denken.«
»Ich rege mich auf«, gab er zurück, »weil es meine Berechnungen der Wiederkunft Christi durcheinanderbringt.« Er wandte Bruder Malachi den großen Kopf zu. »Er wird viel Mühe kosten, die größte aller Zeiten, dieser neue Kalender. Nur der Papst selbst kann das in die Wege leiten und anordnen. Und dennoch sehen diese Päpste in Avignon keine Notwendigkeit, von Ketzerjagd und Palastbauten abzulassen und sich dem größten Problem der Christenheit zu widmen. Zuweilen verzweifle ich schier: Vielleicht hat ja Gott soviel Verwirrung auf Erden gestiftet, weil er uns nicht wissen lassen möchte, wann wir Christi Wiederkunft auf Erden erwarten können.« Wieder nickten Bruder Malachi und Gregory ernst.
Wir blieben einige Zeit. Seine Gliedmaßen konnte ich zwar nicht wieder gerade richten, aber ich konnte ihm die Schmerzen nehmen und ihm Luft verschaffen, so daß man den Sieur de Martensburg schmerzlos die lange Wendeltreppe hoch auf den Turm tragen konnte. So manchen Abend kletterten wir bei Fackelschein hinter ihm zu der Plattform hoch, die er sich als Observatorium auf dem Turm hatte bauen lassen. Dort wurden die Fackeln gelöscht, denn so konnte man die Sterne am dunklen Himmelsdom besser sehen. Er und Malachi unterhielten sich dann über Dinge, die ich nicht verstand, wie beispielsweise die Anzahl der himmlischen Sphären, und Malachi brachte Dutzende von Argumenten für deren acht vor, was den sieben Wandelsternen und der Sphäre der Fixsterne entsprach, doch Sieur Bernard hatte noch ein Dutzend mehr für eine neunte, jenseits der Sphäre des Saturn. Sie kamen zwar nie zu einer Einigung, aber sie waren wirkten alle beide sehr zufrieden mit ihrem komplizierten Disput. Und dann machten sie sich an Messungen mit dem Astrolabium und betrachteten und diskutierten den Lauf der himmlischen Häuser.
Gregory konnte auch nicht immer ganz folgen, aber ich sah, wie sein aufgeweckter Geist alles aufsog, während er hinter einer abgeschirmten Kerze Notizen für den gebrechlichen Sieur Bernard machte. Ich half ihm dabei, bückte mich über das winzige Licht, spitzte Federn und löschte die fertigen Blätter, damit Gregory beim Aufschreiben der Beobachtungen seines Onkels Schritt halten konnte. Und der Kleine, den ein Diener hochgetragen hatte, lag neben mir in seinem Körbchen, denn man kann einem Kind die Sterne gar nicht früh genug zeigen.
Doch selbst der allerschönste Besuch geht einmal zu Ende. Sieur Bernard war hocherfreut, als sich herausstellte, daß Gregory eine Chronik schreiben sollte, und bat ihn, seine Sorge um den Kalender darin aufzunehmen. »All das und mehr noch«, gestand ihm Gregory freundlich zu. Und so schieden wir mit einem Brief an den berühmten Jehan le Bel, Domherr zu Lüttich und ein großer Kirchenmann und zugleich einer der erfolgreichsten Chronisten unserer Zeit.
»Nur damit du eine Ahnung davon bekommst, welchen Ruhm man mit diesem weltlichen Unterfangen – im Gegensatz zum Beobachten von Sternen – erwerben kann«, sagte Gregorys Onkel mit einem ironischen Lächeln. Selbstverständlich fing Gregorys Tante allein schon bei dem Gedanken daran, wie traurig sie nach unserem Aufbruch sein würde, einen ganzen Tag im voraus an zu weinen.
»Weh mir, weh, es ist, als würde ich meine liebe Schwester noch einmal verlieren«, schniefte sie, als wir in ihrer Kemenate spannen. Ihre jüngste Tochter, jetzt dreizehn Lenze und fürs Kloster bestimmt, saß neben uns, zart und verkrüppelt, doch mit flinken Fingern, die mit eleganten und säuberlichen Stichen ein Altartuch stickten. Als ich ihre Handarbeit bewunderte, da dünkte mich, ich könnte über dem Stickrahmen eine neblige Gestalt schweben sehen, die das prächtige Muster betrachtete.
»Oh, was ist das?« rief die Mutter aus und bekreuzigte sich, und das Mädchen blickte hoch und musterte interessiert die Gestalt, die sich jetzt materialisierte.
»Sagt ihr, daß ich hierbleibe«, sagte Madame Belle-mere. »Meine Kraft reicht nicht aus, das Wasser noch einmal zu überqueren. Was«, so setzte sie hochfahrend hinzu, »meines Wissens ohnedies noch kein Geist geschafft hat. Sagt ihr das.«
»Madame, Eure Schwester weilt als Geist unter uns«, sagte ich.
»Das sehe ich. Und sie sieht so frisch und jung aus.« Madame seufzte. Das Gespenst lächelte erfreut und rückte wieder einmal den Schleier zurecht, damit die dunklen Locken auf ihrer Stirn vorteilhafter zur Geltung kamen.
»Oh, Ihr könnt sie hören? Wenn ich das doch auch könnte! Liebe Bertrande, gib ein Zeichen, wenn du mich hörst.« Das Gespenst hob einen dunstigen Finger.
»Na gut, wenn ich reden kann und sie Zeichen gibt, so kommen wir schon zurecht. Du hast den Klatsch von Jahren aufzuholen. Und von dir mußt du auch erzählen. Was ist nur aus dem kleinen Mädchen geworden, von dem du mir in einem Brief geschrieben hast?…« Und so verließen wir Madame äußerst zufrieden, denn wie sie sagte, galt ihr ein voll ausgebildetes Gespenst genauso viel wie eine Nase.
Eine steife Brise schwellte die Segel der kleinen Kaufmannskogge, daß ihre Stander nur so flatterten. Sie zerrte an Gregorys Umhang, als er sich über die Reling beugte und nach den ersten Anzeichen der vertrauten, weißen Klippen Ausschau hielt. Selbst die unter Deck eingesperrten Pferde hoben den Kopf und wieherten. Margaret wickelte sich und den Kleinen fester in ihren Umhang; sie stand in sicherer Entfernung einige Schritte hinter Gregory. Ihrer Theorie zufolge konnten Leute, die sich über die Schiffsreling beugten, jederzeit ins Wasser fallen, und deshalb konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Nur die unmittelbare Gefahr, in der ihr Mann schwebte, hatte sie bewogen, sich so weit vom Mast zu entfernen.
»Da, ich glaube, ich kann sie sehen, Margaret«, rief er. »Und hörst du die Pferde? Selbst die wissen, daß wir fast daheim sind.«
»Bei Christus und allen Heiligen, beuge dich nicht so weit vor«, rief sie in den salzigen Wind.
»Margaret? Was ist dir? An Land bist du doch so tapfer wie ein Tiger.«
»Das Meer ist etwas ganz anderes. Es ist voller Wasser«, rief sie als Antwort zurück. Gregory verließ die Reling und stellte sich wieder neben sie.
»Schon gut, schon gut. Da bin ich ja, und ich bin auch nicht hineingefallen. Dergleichen geschieht nämlich nicht.« Er legte den Arm um sie und hob den Umhang, um einen Blick auf das Gesicht des schlafenden Kleinen zu werfen. Er konnte es immer noch nicht ganz fassen, daß er etwas besaß, was viele Männer am höchsten begehrten, einen Sohn, und mußte sich deshalb häufig überzeugen, daß das kleine Wesen noch immer da war.
»Aber ja doch, jederzeit.« Margarets Stimme klang erregt. Er spürte, wie sie bei ihren Worten erschauerte. »Und dann macht es nur noch platsch! und schon wird man von den Fischen gefressen. Und was würde dann aus mir?«
»Und aus mir? Ich wäre derjenige, den die Fische fressen würden«, sagte er mit spöttisch gewölbter Braue.
»Deine eigene Schuld«, sagte sie fest. »Aber ich würde zurückbleiben und deshalb mehr leiden.« Er blickte träumend über das Meer hin. »Da wir gerade von Fischen reden, was hast du von dem gehalten, den der Domherr zu Lüttich beim Festmahl auftragen ließ?«
»Der riesige, vergoldete, der noch Augen hatte? Pfui.«
»Einen so großen habe ich meiner Lebtage nicht gesehen. Und die Pfauen, und der Schwan. Ei, wenn der nicht gut lebt.«
»Mir hat es bei deinem Onkel besser gefallen.«
»Er ist Geistlicher, aber er kleidet sich wie ein Ritter und hat eine Hausherrin und zwei hübsche, erwachsene Söhne, für die er Kirchenpfründe kaufen will.«
»Im Hause deines Onkels verkehren gelehrte Männer. An seiner Tafel widmet man sich dem klugen Disput.«
»Beim Domherrn auch. Obendrein noch den schönen Künsten und der Musik. Es gibt gar keinen Grund, warum ein Historiker kümmerlich leben sollte, oder? Ich meine, Gott zürnt dem Domherrn nicht, weil dieser das Leben eines Weltkindes führt, nicht wahr?« Gregory hüllte sich fester in den Umhang und blickte den dahineilenden Wolken nach.
»Allem Anschein nach nicht, oder? Vielleicht sind Ihm Historiker besonders wohlgefällig, was meinst du? Hast du gehört, daß der Domherr nur mit vierzig bewaffneten Reisigen auf Reisen geht?« Margaret sah Gregory prüfend an, und so entging ihr der nachdenkliche Blick seiner dunklen Augen auch nicht.
»Wenn das nicht ein elegantes Gefolge ist?« sinnierte Gregory laut. »Er reist, wohin auch immer es ihn zieht, immer auf der Suche nach Fakten für seine Chronik, und Könige und Fürsten heißen ihn willkommen und fragen ihn um Rat.« Bei diesem Gedanken entspannten sich seine Züge, und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.
»Für seine Schriften überhäufen sie ihn mit Gold und Gaben«, kam ihm Margaret zu Hilfe.
»Was alles beweist, daß man nicht, wie Sir Thomas, der Fischhändlergilde beitreten muß, wenn man in London eine anständige Tafel bestellen will.« Er blickte sie an.
»Weißt du«, sagte sie und legte den Kopf schief, als wollte sie nachdenken, »wenn wir erst das Haus in Ordnung gebracht haben und unseren Verpflichtungen unseren Nachbarn gegenüber nachgekommen sind, sollten wir deine Freunde zu einem Festessen einladen. Die Gelehrten aus dem Eberkopf, meine ich. Ich mag sie. Sie müssen nur versprechen, daß sie im Rausch nicht mit den Möbeln durch die Gegend werfen.«
»Sie werfen nicht mit Möbeln, Margaret. Das sind kultivierte Leute. Sie werfen mit Menschen. Vater wirft mit Möbeln.«
»Oh, du liebe Zeit. Dein Vater. Wir müssen ihm Nachricht schicken, wenn wir gelandet sind. Wieviele Tage Frieden dürfen wir wohl genießen, ehe er sich wieder etwas ausgedacht hat, womit er uns das Leben sauer machen kann.«
Als wir schließlich landeten, wartete Sir Hugo nicht die Nacht ab, sondern machte sich unverzüglich mit guter Nachricht von uns nach Haus auf. Ihm war zu Ohren gekommen, daß von Dover demnächst Verstärkungen an das Heer des Herzogs in der Normandie abgehen sollten, und er lechzte nach neuen Heldentaten, so weit fort von seiner Frau wie nur möglich.
»Ich schaue bei Vater vorbei, schwängere dieses Weib und dann – nichts wie auf nach Frankreich und in Fortunas Arme. Warum sollte das Glück immer nur den Gefolgsleuten des Prinzen lachen? Die kommen aus Bordeaux zurück und sind reicher als der Teufel höchstpersönlich. Eines kann ich euch versichern, beim nächsten Mal bin ich an der Reihe!« Und schon waren sie auf und davon, daß man nur noch Hufegeklapper hörte.
Wir ritten von Southwark her in London ein. Noch ehe wir die Brücke erreicht hatten, blieben die Menschen stehen und gafften und wiesen mit den Fingern auf uns, denn wir boten einen gar seltsamen Anblick. Da wir nur drei Pferde hatten, saß Sim hinter Gregory; der mochte im allgemeinen zwar keine Straßenjungen, doch diesen hier hatte er entsetzt und fasziniert zugleich ins Herz geschlossen. Schwer zu sagen, wie Gregory in diesem Augenblick mit seiner leichten Bewaffnung und von oben bis unten voller Reisedreck wirkte, den Bart ungestutzt und die Kapuze um den Kopf geschlungen wie ein Heide seinen Turban. Wahrscheinlich wie ein Söldner, der von einem mißglückten Feldzug heimkehrt. Mutter Hilde jedoch war nicht zu verkennen. Mit ihrem breitkrempigen, jetzt arg eingebeulten Strohhut, den sie fest über Schleier und Riese gebunden hatte, und mit den Pilgerabzeichen überall auf ihrem staubigen Umhang zog sie im Triumph hinter Bruder Malachi ein.
»Seht nur, seht! Pilger von jenseits des Meeres!« rief ein Mädchen, und Mutter Hilde strahlte.
»Segnet uns, gute Mutter!« rief eine Frau in geflicktem grauen Überkleid und lief hinter Mutter Hilde her, daß sie ihren Umhang berührte, so als ob die Wohltaten der heiligen Stätten abfärbten. Als sich eine kleine Menge zusammenrottete und ihr den ganzen Weg vorbei an den Hurenhäusern zur Brücke nachlief, war sie schier außer sich vor Freude. Ich bekam auch mein Teil ab, denn ich hörte die Leute sagen:
»Seht nur! Ein im Ausland geborenes Kind! Seht nur das schöne, weiße Pferd! Das muß eine Dame sein!« .
An diesem Tag staken an der Brücke keine neuen Köpfe, und das war eine Wohltat, denn mir reichte es mit Köpfen für eine Weile. Nur ein einziger Schädel, den die Raben säuberlich abgepickt und den keine Verwandten abgeholt hatten, klapperte in der frischen Brise auf seiner Stange und hieß uns willkommen. Da es ein schöner Tag war, wimmelte die Brücke von Reisenden. Die Läden waren geöffnet, und die Händler riefen ihre Waren aus. Als wir uns durch die Menschenmassen und die beladenen Esel einen Weg vorbei an der St. Thomas´ Kapelle bahnten, hörte ich jemanden rufen: »Dame Margaret!« Es war Philipp, Master Kendalls Lehrjunge, der nach dessen Tod von Master Wengrave übernommen worden war. Er war gewachsen und im Stimmbruch, aber ich erkannte ihn dennoch. Ich rief ihn an, und er drängelte sich durch die lärmende Menge so nahe an mich heran, daß er mich hören konnte, als ich mich aus dem Sattel beugte. »Lauf so schnell du kannst zu Master Wengrave, lieber Philipp, und bestelle ihm, daß ich mit meinem Herrn Gemahl, der in Frankreich war, wohlbehalten zurückgekommen bin. Und bitte Mistress Wengrave, unserem Hausverwalter auszurichten, er möge das Haus in Ordnung bringen, denn wir wollen noch heute nacht dort schlafen.« Mit einem Jubelschrei verschwand der Knabe in der Menge.
Doch kaum waren die Worte heraus, ließen sie sich nicht mehr zurücknehmen. Und schon war das Gerücht im Umlauf, daß ich meinen Mann verlassen und einen Franzosen geheiratet hätte, und als wir in die Thames Street einbogen, rief eine Frau aus dem Fenster: »Da ist er! Da ist der Franzose! Schämt Euch! Schämt Euch!«
»Da hast du London, Gregory. Jeder weiß alles, und alles falsch. London ist nicht so groß wie Paris, auch nicht so großartig wie Rom, aber es ist immer noch der beste Ort, weil man dort –«
»Bitte, o mein Gott, du wirst doch nicht etwa Ort auf dort reimen wollen?« unterbrach er mich.
»Ei, nein, ich wollte mit zu Hause ist fortfahren – du liebe Zeit –« ich verschloß mir den Mund mit der Hand. »Nein, Ehrenwort, Gregory, ich bin nicht von der Reimkrankheit befallen, jedenfalls bis jetzt nicht.«
»Wenn du auch nur ein Fünkchen Liebe für mich empfindest, dann laß dich nie davon anstecken. Ich fürchte, mit Hugo steht mir ein lebenslanger Leidensweg bevor.«
»Versprochen«, sagte ich lächelnd. »Ich empfinde mehr als nur ein Fünkchen Liebe für dich.«
Aber nun waren wir wirklich zu Hause, das bewiesen Lions freudiges Gebell und das Geschrei und Gelächter, als wir in die Gasse einritten, die unseren Hof von dem der Wengraves trennt. Zu beiden Seiten der Straße stand ein jeglicher Fensterladen offen, und alle Nachbarn lehnten sich hinaus und jubelten und schwenkten Tücher und Schals, und dann kamen sie nach draußen gelaufen, umdrängten uns und wollten die ganze Geschichte hören.
Meine Augen jedoch suchten Cecily und Alison, noch ehe ich abgestiegen war. Sie kamen als erste aus der Küchentür der Wengraves gelaufen und schrien: »Mama! Mama! Mama ist wieder da; ich habe doch gesagt, daß sie wiederkommt!« Oh, wie ich mich freute.
»Meine süßen Kleinen!« rief ich. Doch als sie das Körbchen erblickten, blieben sie wie angewurzelt stehen.
»Was«, sagte Cecily und zeigte mit dem Finger darauf, »ist das da?«
»Kein Geschenk«, sagte Alison.
»Ihr Süßen, das ist euer kleines Brüderchen, das jenseits des Meeres geboren wurde. Möchtet ihr es sehen?«
»Wir wollen kein Brüderchen haben«, verkündete Cecily mit fester Stimme.
»Nein. Jungs sind abscheulich«, setzte Alison hinzu.
Gregory war abgestiegen und stand neben mir, um mir vom Pferd zu helfen.
»Der ist ja auch wieder da«, sagte Cecily.
»Mußtest du den mitbringen?« fragte Alison.
Gregory stand mit dem Rücken zu ihnen und hatte die Flanke des Pferdes vor Augen. Als er ihre Worte hörte, drehte er sich sehr langsam um und blickte sie an. Dann zogen sich seine wilden, dunklen Brauen zu einem mißbilligenden Blick zusammen. Noch nie hatte er so sehr einem écorcheur geglichen, der gerade ganz verdreckt und sonnengebräunt vom Schlachtfeld kommt.
»Ich bin nicht ›der‹. Ihr werdet mich von Stund an mit ›Vater‹ anreden«, verkündete er sehr langsam und deutlich. Ein normales Kind wäre vor Angst gestorben.
Nicht so der magere, kleine Wuschelkopf, der das Streitroß, den Menschentöter, geritten hatte. Sie blickte ihm in die Augen und sagte: »Du bist nicht mein Papa.«
»Nein«, sagte er ernst und ruhig. »Aber dein Papa ist jetzt im Himmel, und du brauchst hier auf Erden einen Vater aus Fleisch und Blut, wenn du das Erwachsenenalter erreichen willst. Ich bin alles, was du hast, solange es Gott gefällt. Vergiß das nicht und nenne mich Vater.« Cecily schien ihn eine Ewigkeit anzustarren, während sie die Sache überdachte. Alison steckte den Daumen in den Mund und wartete ab, was Cecily tun würde.
»Ja, Vater«, sagte die, zögerte ein wenig und knickste dann, wie sie es bei Mistress Wengrave gelernt hatte. Die Verräterin! Ein angewiderter Ausdruck huschte über Alisons rundes Kindergesicht, und sie machte auf ihrem fetten kleinen Hacken kehrt.
»Und du«, sagte Gregory. Das überhörte Alison. »Du Kleine. Alison. Dreh dich um.« Sie machte kehrt, nuckelte auf ihrem Daumen und dachte nach. Dann zog sie ihn aus dem Mund. Das kannte ich. Sie wußte immer, woher der Wind wehte.
»Ja, Vater«, sagte sie. Und dann nahm sie ihren Rock in die Hände und wippte ein wenig, was einen Knicks bedeuten sollte.
»Gut«, sagte er. »Jetzt helfe ich eurer Mutter vom Pferd, damit ihr sie umarmen könnt.« Und während er mir Hilfestellung gab, rief er nach einem Knecht, daß er ihm beim Herunterholen des Körbchens half, und stand Wache, während die Nachbarinnen es umdrängten und »Niedlich! Süß! Wie hübsch! Wie groß!« riefen und die Pferde fortgeführt wurden.
Spät in der Nacht setzte sich Gregory im Bett auf. Es war so still, daß nicht einmal mehr die Grillen im Garten zirpten. Die gerade aufgehängten Bettvorhänge waren zwar zurückgezogen, doch im Dunkel, hinter geschlossenen Fensterläden, konnte man nichts mehr sehen. Die Kammer war noch ganz kahl, bar aller Truhen und Wandbehänge, auch der Teppich lag noch nicht wieder an seinem Platz, doch das war nicht der Grund, daß ihm so beklommen zumute war. Er hatte hier noch nie geschlafen. Und er hatte auch noch nie am Kopfende seines eigenen Tisches gesessen, Anweisungen erteilt und sich die Schüsseln von den Dienern zur Begutachtung bringen lassen. Und nie, in seinen wildesten Träumen nicht, hatte er geahnt, daß er nach dem Abendessen am Feuer sitzen, zwei kleine Mädchen auf dem Schoß halten und ihnen die Liebesgeschichte Ywain, der Löwenritter vorlesen würde, die im Schein der Kerze auf dem Lesepult vor ihm stand. Der gesamte Haushalt hatte stumm zugeschaut, als Alison ihn an die Hand genommen und ihm gezeigt hatte, wo er anfangen mußte – bei einem wunderschön gemalten Lesezeichen, welches Master Kendall dort nur zwei Tage vor seinem Tod hineingelegt hatte. Sie hatten hingerissen gelauscht, als er mit seiner klaren, ernsten Stimme zu lesen begann, denn die Geschichte, die dort in der Sprache des Volkes nach der Erzählung irgendeines Franzosen geschrieben stand, war sehr schön, und alle hatten sich schon eine geraume Weile gefragt, was wohl aus dem Löwen geworden sein mochte, nachdem er vor der Giftschlange gerettet worden war. Alles war anders gekommen. Gänzlich anders.
Margaret hörte ihn sofort, denn eine Mutter schreckt des Nachts bei jedem Rascheln hoch.
»Bist du wach?« flüsterte sie und hüllte sich fester in die Decke.
»Natürlich. Was denkst denn du?« gab er im Dunkeln flüsternd zurück.
»Du bist doch nicht krank?«
»Nein, ich denke nach.«
»Worüber?«
»Daß mein Leben anders verlaufen ist, als ich gedacht habe.«
»Wem geht das nicht so?«
»Ich werde Gott wohl niemals zu Gesicht bekommen. Damals schien ich fast am Ziel, eine Weile jedenfalls, doch dann ging alles daneben.«
»Sorg dich nicht, Gott sieht dich.«
»Gott sieht jeden. Ich wollte etwas Besonderes sein. Vermutlich habe ich es mir schön vorgestellt, wenn alle Welt sagen würde: ›Da geht Bruder Gregory; er ist zwar nur ein zweiter Sohn, aber ein wahrer Erleuchteter.‹ Doch das hat sich als Stolz, als reiner Stolz, herausgestellt.« Er seufzte. »Man findet Gott wohl nicht, wenn man nach ihm sucht.«
»Ich glaube – ich glaube, wenn man ihn darum bittet. Und – wenn man zuhört…« Sie wickelte sich in die Bettdecke und machte die Augen wieder zu. Gregory zog die Knie hoch und stützte die Ellenbogen auf. Und während sein Kinn auf den verschlungenen Händen ruhte, spähte er in die undurchdringliche Dunkelheit. Er lauschte. Zuerst hörte er in der Stille seinen eigenen, regelmäßigen Atem und Margarets sanften Rhythmus, derweil sie wieder einschlief. Dann hörte er die kleinen, unregelmäßigen Schnaufer des Kleinen in der Wiege und durch die Wand die der Kinder und der alten Mutter Sarah, die der Köchin und sogar der Nachbarn. Die nichtigen Gedanken, die sein Hirn verstopft hatten wie geschäftige Schiffe den Hafen, wurden beim Lauschen hinweggeschwemmt, und er spürte sich selbst nicht mehr, je länger er lauschte. Er drehte keine alten Sünden mehr um wie moosbedeckte Steine, um nachzusehen, was sich darunter befand; er betete nicht mehr zur Jungfrau Maria oder versenkte sich in Christi Leidensweg; er zählte nicht die sieben Tugenden auf oder pries Gott wegen all seiner herrlichen Werke. Kein Gedanke an das Abendessen des letzten Abends oder an das Frühstück von morgen schoß ihm durch den Kopf. Und immer noch lauschte er, bis er den tiefen und alterslosen Laut hörte, mit dem die Erde atmet. Und dahinter, nichts. Als er in das Nichts eintrat, flammte eine eigenartige Wärme in seiner Brust auf, irgendwo in der Nähe seines Herzens. Und er sagte nicht, aha! so steht es im Incendium Amoris beschrieben, nicht jedoch in der Scala Claustralium, sondern ließ es statt dessen geschehen. Die Wärme loderte auf und schoß höher, bis er ganz in Flammen stand. Sie stieg hoch auf, nach außen und nach innen zum Nichts. Reine, flammende Liebe. Für den Bruchteil eines Augenblicks schwang sie sich auf bis zu Gott wie ein Funke, der in der Dunkelheit aufsprüht. Und als sie sich legte, spürte er, daß alles auf Erden in ihrem sanften Schein glühte.
»Erstaunlich«, sagte Gregory bei sich, als das Licht verblaßte und er in die Welt zurückkehrte. »Das muß ich irgendwann noch einmal versuchen«, murmelte er, drehte sich um und schlief wieder ein.
»Also – gewiß möchtest du auch Robert de Clerc einladen –« Margaret war eifrig dabei, eventuelle Gäste an den Fingern abzuzählen, schließlich wollte sie auf dem laufenden bleiben, wieviele Plätze aufgedeckt werden mußten.
»Woher kennst du denn den alten Saufbruder? Das ist kein ehrbarer Mensch, mit dem darfst du dich nicht anfreunden, Margaret.« Gregorys Stimme klang denn doch etwas bestürzt. Es kommt der Offenlegung einer nicht gebeichteten Sünde gleich, wenn man feststellen muß, daß die eigene Frau die Bekanntschaft alter Freunde aus der Junggesellenzeit gemacht hat.
»Ich kenne ihn aus der Zeit, als du fort warst.«
»Noch schlimmer. Hat er es bei dir mit einem seiner geilen Tricks versucht?«
»Er? O nein«, lachte Margaret. »Er wollte sich für ein schmutziges Lied entschuldigen, das dich zum Thema hat.«
»Was – es gibt ein schmutziges Lied über mich, das die Runde durch die City macht?« Und dabei hatte Gregory seine neue Ehrbarkeit so genossen, sich richtig darin gesuhlt, da mußte ihn der Gedanke an ein schmutziges Lied noch mehr erbosen als gewöhnlich.
»Es macht die Runde im ganzen Königreich, Gregory. Stör dich einfach nicht daran.« Aber er faßte sich mit der Hand an den Kopf und stöhnte.
Er saß in einem Zimmer, das von der Diele im Erdgeschoß abging und einst Roger Kendall als Kontor gedient hatte. Der breite Eichentisch und die schmale Bank standen an ihrem gewohnten Platz. Die Fenster hatten wieder ihre Glasscheiben. Ohne die Ballen und Rollen, die hier immer gelagert hatten, wirkte der Raum größer, obwohl nun ein neues Möbelstück darin stand – eine schlichte, eisenbeschlagene Holztruhe mit Auszügen aus Jehan le Bels neuer Chronik, wie auch einer hübsch gebundenen Ausgabe seiner Minnelieder, seinem Abschiedsgeschenk. Dazu kam noch als Nachschlagewerk die geborgte Kopie der Chroniken des Matthew Paris und die unordentlichen Papierstöße und Rollen mit den im Ausland angefertigten Notizen.
Über dem Tisch, auf dem Feder, Messer, Sand und Tinte fein säuberlich aufgereiht neben dem halb beschriebenen Blatt unter seiner Hand standen, hing auf der Mitte zwischen Boden und Decke ein weiteres neues Stück an der Wand. Ein Kruzifix, streng und dunkel, mit einem aus hellem Holz geschnitzten Christus. Während das Kreuz selbst aus Ebenholz und mit Einlegearbeit kunstvoll gefertigt war, trug die kleine Figur keinerlei Bemalung. Gregory hatte eines Morgens in den Straßen herumgestöbert und es so im Laden eines Holzschnitzers entdeckt. Er machte Halt und sah dem Mann bei der Arbeit zu, welcher im Fenster saß und gerade letzte Hand anlegte, ehe er es mit einer grellen Vergoldung, Hellblau und einem Rot wie geronnenes Blut bemalen wollte. Diese Farben waren Merkmal all seiner erleseneren Kunstwerke. Etwas an dem Gesicht der kleinen Figur – vielleicht lag es auch nur am Lichteinfall – kam Gregory merkwürdig bekannt vor, und so begann er auf der Stelle zu feilschen, denn er fürchtete, die Farbe könnte die Illusion zerstören.
Jetzt merkte er, daß es ihm zu Zeiten wohltat, wenn er zu ihm aufblicken und es anschauen konnte; dann saß er wohl einen Augenblick still da, ehe er sich wieder an die Arbeit machte. Wenn es mit der Chronik nicht vorangehen wollte, oder wenn er beispielsweise einen Brief von Vater aufgemacht und gelesen hatte, schien es ihn zu besänftigen. Man denke nur an den Tag, als eine erschreckte Katze in Kinderkleidern mit einem Satz durch die offene Tür und auf seinen Schreibtisch gesprungen war und Tinte über eine ganze Seite vergossen hatte. Er stellte die heranpolternden kleinen Verfolger ohne ein Donnerwetter, und das war, wenn man es recht bedachte, wirklich erstaunlich.
»Ist das dein Ernst?« fragte er Margaret, blickte erneut zu seinem Kruzifix hoch, seufzte und hob den Kopf von den Händen.
»O ja. Ich habe das Lied vergangenen Herbst auf der Straße nach Wymondley gehört. Du kannst nur hoffen, daß es durch ein noch schlimmeres über jemand anders ersetzt wird. Also, was ist mit diesem netten Kerl, der Bücher verkauft?«
»Nicholas? Den kennst du auch?«
»Ein wenig. Vergiß nicht, ihnen zu sagen, daß der Abend den Musen geweiht ist, jeder soll also etwas von seinen Werken mitbringen. Die Köchin überschlägt sich schier, und der Wein ist auch schon bestellt.«
»Aber Ale gibt es doch wohl auch?«
»Ganze Fässer voll. Weißt du, was ich gerade gedacht habe? Wir haben unsere Hochzeit nicht gefeiert, und dabei sind wir schon über ein Jahr verheiratet. Das könnte doch als eine Art verspätetes Hochzeitsfest gelten, oder? Und was hältst du von Master Will?«
»Der Priester, der an den Straßenecken über das Ende der Welt geifert? Im Ernst, Margaret?«
»Er schreibt gerade ein langes Gedicht über die Sünden der Reichen, Gregory. Master Kendall hat seine Bemühungen jahrelang unterstützt, und ich glaube, er hat ihn dir vermacht. Erst gestern hat er vorbeigeschaut, er brauchte wieder einmal Papier.«
»Ach, na schön, wenn du unbedingt willst.«
Die Frau des Weinhändlers kam als erste darauf, daß bei Margaret ein Musenfest gefeiert werden sollte. Sie hörte durch einen Gesellen ihres Mannes von der Weinbestellung, und daraufhin ließ sie durch ihre Köchin bei Margarets Köchin nachforschen, um was für eine Zusammenkunft genau es sich handelte. Darauf beriet sie sich mit Mistress Wengrave, und die pflichtete ihr darin bei, daß es ganz und gar unbillig war, alte Freunde nicht zu einem Abend einzuladen, der durch so ungewöhnliche und faszinierend verwegene Gäste interessant zu werden versprach – denn die erregten gerade deshalb Neugier, weil man sie auf der Straße nicht grüßen durfte. Und Margaret mußte man auch nicht lange bitten, daß sie so tat, als hätten alle längstens eingeladen werden sollen, und dann bestellte sie noch mehr Wein. Heikler war es, die Ehemänner von den Hauptbüchern wegzubekommen und sie zu überzeugen, daß ein Musenabend genau so schön sein könnte, wie einer, welcher der Pflege von Geschäftsbeziehungen höheren Ortes diente.
»Musen? Soll das heißen, Gedichte und Gesang?« brummte Master Shadworth, der Tuchhändler, der zwei Straßen entfernt vom hohen Haus in der Thames Street ein ausnehmend prächtiges Geschäft besaß. »Eure Menschenfreundlichkeit gilt der Falschen, Mistress. Ihr erwartet doch wohl nicht, daß ich eine Frau grüße, die mit einem Schreiber ihres Mannes durchgebrannt ist, ehe sein Leichnam noch kalt war, nicht war?« Er hielt inne und wägte Zahl und Bedeutungsschwere der Worte seiner Frau ab wie Silber auf der Waage. In Wahrheit hörte er nie zu, wenn sie etwas sagte, sondern maß lediglich den Aufwand. Ein Mann sollte sich nie die Gründe seiner Frau zu eigen machen, da Frauen so gut wie keine Logik besaßen und man durch ihr törichtes Geplapper leicht auf Irrwege geraten konnte.
Er nickte beiläufig, eher sachlich, wie es diese Art von Situation erforderte. »Selbstverständlich haben wir früher Besuche gemacht«, unterbrach er ihren Redeschwall mit dem behutsamen Ton, in dem man mit geistig Behinderten redet. »Aber das war zu Lebzeiten von Master Kendall. Begreifst du denn nicht, jetzt hat sich alles geändert. Ich gebe nichts auf die Bekanntschaft mit Schreibern, die französische Verse deklamieren: Sie wollen nur Geld borgen.« Aber am Ende obsiegte sie, wie es auch Master Barton, dem Gewürzhändler, und sogar Sir Thomas de Pultney, dem Fischhändler, geschah, den man besser einen Fischmakler nannte, denn der einzige Fisch, mit dem er sich persönlich befaßte, waren die auf Papier aufgelisteten Fässer mit Salzheringen.
Und schon mußte Margaret eine neue Bestellung beim Schlachter und beim Geflügelhändler und beim Gemüsehändler aufgeben und dafür sorgen, daß bei Mistress Wengrave ein zusätzlicher Schragentisch ausgeliehen wurde.
»Margaret«, sagte ein entgeisterter Gregory, »das läuft uns völlig aus der Hand. Ich sehe ein Ende mit Schrecken voraus und wäre am liebsten wieder im Kloster. Robert wird sich betrinken und die Damen kneifen; Master Will wird die Reichen anprangern; der fischmakelnde Ritter wird allen seine Ansichten über die niederen Ränge im Handel mitteilen. Fehlt nur noch mein Vater, der sich über die Händler der City als wucherische Parasiten ausläßt, die nichts im Sinn haben, als Englands Ehre in ihren Geldkästen zu vereinnahmen. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen?«
»Aber, Gregory, sieh es einmal von einer anderen Seite. Du bist den Nachbarn nie richtig vorgestellt worden. Du kannst dich nicht einfach in die Stadt zurückschleichen und so tun, als wäre überhaupt nichts geschehen. Ich habe die Weinbestellung verdoppelt; wenn alle genug trinken, läuft es reibungslos – du wirst schon sehen.«
Gregory seufzte. »Ja, sicher werde ich etwas zu sehen bekommen. Je mehr sie trinken, desto mehr werden sie sich streiten. Und ich kann nur noch meinen Namen ändern, auf den Kontinent zurückkehren und mich für den Rest meines Lebens verkriechen. Vermutlich werde ich eine Freikompanie zusammenstellen und in den Sielen sterben. Und so schaffst du mit einem einzigen unseligen Abend, was mein Vater in Jahren nicht geschafft hat.« Er schob die Daumen in den Gürtel und machte sich zu einem trübseligen Spaziergang durch die Straßen auf, anscheinend wollte er seiner geliebten Stadt Lebewohl sagen.
Margaret ging jedoch zur Köchin und beriet sich mit ihr über die entremets, denn sie wußte, in solch einer Lage gibt es kein Zurück, da gibt es nur eines: Augen zu und durch. Und Emsigkeit lenkt gut von Sorgen ab.
»Also, was kann jetzt noch passieren?« sagte Margaret am Morgen des Festes bei sich, als sie sich hinsetzte, um den Kleinen zu stillen, denn nur so kam sie einmal von den Füßen. Gerade schaffte man die Schragen in die Diele, packte die Pokale und das lange nicht gebrauchte Linnen aus, schüttelte und lüftete es. Seit Tagen drangen aus der Küche liebliche Düfte, und die Köchin hatte in die Bouillon geweint, weil sie alles an die alten Zeiten erinnerte, als der gute Master Kendall noch lebte. Und die ganze Zeit über hatten sich Besucher die Türklinke in die Hand gegeben, vordergründig, um den Kleinen zu bewundern, doch auch um einen Blick auf das Wundertier zu erhaschen, Margarets neuen Ehemann nämlich, der ein – der Himmel weiß was sein sollte. Möglicherweise ein Franzose, möglicherweise einst Mönch. Vielleicht ein fremdländischer Edelmann oder ein englischer Ritter? Wie auch immer, er hatte ein ›Sir‹ vor dem Namen, ob nun echt oder nicht. Und er kannte den König, oder vielleicht war es auch der Herzog von Lancaster oder der Prinz von Wales oder der Erzbischof oder irgend jemand sehr Interessantes höchstpersönlich. Er war ein Emporkömmling oder ein Absteiger, doch in jedem Fall verlohnte er eine Musterung. Nach seiner ernsten, höflichen Begrüßung zu schließen, war schwer auszumachen, was er nun war. Und sein fremdländisches Wams, das hatte nun wirklich einen interessanten Schnitt. Und der chaperon. Ziemlich ungewöhnlich, würde auch den eigenen Mann recht gut kleiden, wenn man ihn nur dazu bewegen könnte, sich modisch fremdländisch zu tragen.
Margaret seufzte, doch als die Milch einschoß, verspürte sie eine Welle der Erleichterung. Sie hatte die Füße auf einen kleinen Schemel vor sich gestellt und die Augen halb geschlossen, um den dröhnenden Lärm der Welt auszuschließen, ehe sie das selige Gesichtchen anstaunte, das ihre Brust bearbeitete. Wieder einmal nur wir beiden, dachte sie. Sie spürte ein vertrautes, kaltes Gefühl im Nacken.
»Master Kendall? Seid Ihr es? Ihr habt mir gefehlt; es war so schwer.«
»Oh, Margaret, du siehst so zufrieden aus. Er dürfte es also endlich gesagt haben.«
»Hat er, aber leicht ist es ihm nicht gefallen.«
»Dann brauchst du mich also nicht mehr.«
»Aber ja doch, ich werde Euch immer lieben.«
»Margaret, du hast ein großes Herz.«
»Groß genug auch für Euch.«
»Aber ich habe gute Kunde. Man hat mich unter die Seligen aufgenommen. Und eine sehr hübsche Unterkunft habe ich auch. Sie sagen, ich verdiene die Ehre nicht, aber sie sind es leid, daß du ihnen in den Ohren liegst. Danke, kleine Margaret.«
»Ach, noch nicht so bald. Bleibt wenigstens bis zum Fest. Wir haben Musik, Gedichte und Lesungen. Das wird Euch gefallen.«
»Ich habe bereits die Erlaubnis, solange zu bleiben. Du weißt, wie sehr ich einen Abend mit guter Unterhaltung immer genossen habe.« Master Kendalls Geist hatte sich jetzt ganz materialisiert, durchscheinend und in seinem langen Kaufmannsgewand.
»Gut seht Ihr aus«, sagte Margaret. »Nicht so flüchtig wie Madame Belle-mere, nachdem sie das Wasser überquert hatte.«
»Hat sie das tatsächlich geschafft? Dergleichen ist mir noch nie zu Ohren gekommen.« Kendall hatte den Kopf schief gelegt, und seine durchsichtigen Augen glänzten interessiert. Wenn das nicht eine gute Geschichte war.
»Bleibt, bleibt, Master Kendall, und hört Euch an, was sich alles zugetragen hat. Keine Menschenseele will meine Seite der Geschichte hören. Alle sind augenblicklich schwer damit beschäftigt, sich ihre eigene Version auszudenken.«
»Wenn ich mich recht entsinne, war das dein Dauerproblem. Wie auch immer, einer guten Geschichte kann ich einfach nicht widerstehen. Ich höre dir bis zum Ende zu.«
»Und Ihr werdet mir erzählen, wie es den Mädchen ergangen ist – ich habe mir nämlich schrecklich Sorgen um sie gemacht.«
»Natürlich. Aber Margaret, du weißt doch, daß du mich nicht auf ewig hierbehalten kannst. Ich muß emporsteigen, nun da mir der Himmel offensteht.«
»Ich weiß. Ihr könntet doch bitten, daß man Euch zurückkommen läßt? Zu besonderen Anlässen? Vielleicht wenn Cecily und Alison heiraten?«
»Die Bitte habe ich schon eingereicht.«
Margaret war so eingehüllt in die stille Tröstlichkeit dieses Augenblicks und ihr Geist so damit beschäftigt, sich mit der geliebten Stimme zu unterhalten, daß sie den Aufruhr an der Haustür nicht hörte, nicht die lauten Stimmen und das Sporengeklirr, das in die Diele eindrang.
»Und, wo ist ER?« dröhnte es durch die Wohnstubentür. Und ehe sie die Füße vom Schemel oder den Kleinen von der Brust nehmen konnte, bot sich ihr aus nächster Nähe ein unerwarteter Anblick. Der Schal hing ihm ganz schief; das weiße Bart- und Haupthaar umwehte ihn wie auf einer Darstellung von Jupiter inmitten von Gewitterwolken. Die buschigen Augenbrauen dräuten wie eh und je. Er trug seinen besten rotsamtenen Überrock, der nur für Hochzeiten, Taufen und für Besuche hoher Würdenträger hervorgeholt wurde. Mein Gott, er ist wieder gesund, dachte Margaret.
»Herr Schwiegervater«, sagte sie und stand auf, um ihn zu begrüßen. An der Tür drängelten sich verschiedene Gestalten. Hugo. Ihr Mann. Sir William Beaufoy aus dem Gefolge des Herzogs. Sir John, ihr Nachbar auf dem Lande. Genau wie Gregory es vorausgeahnt hatte. Die endgültige Katastrophe.
»Ist ER das?«
»Ja, Herr Schwiegervater. Das ist Euer Großsohn.« Der Kleine, den man in einem wonnevollen Augenblick gestört hatte, blickte auf und musterte etwas gereizt die Quelle des Aufruhrs. Milch rann ihm übers Kinn.
Der alte Sir Hubert sah auf einen Blick den eigentümlichen, schwanengleichen Flaum, der sich bereits kringelte, die wachsamen, alles erfassenden Äuglein und das weiße Rinnsal im Winkel des entschlossenen, kleines Mundes.
»Sieht fast genauso aus wie sein Vater in dem Alter«, sagte er. Dann strich er um sie herum, so als wollte er sich Mutter und Kind aus allen Richtungen ansehen. »Sind seine Gliedmaßen gerade? Mit Verlaub, Madame, wickelt ihn aus.« Schweigend entfernte Margaret die Windeln und hielt dem alten Mann den Kleinen zur Musterung hin. Seine Augen wurden schmal, er betrachtete den kleinen Leib von Kopf bis Fuß wie ein zum Verkauf angebotenes Pferd. Etwas an dem wirren, weißen Bart oder dem stechend blauen Blick störte den Kleinen. Er zuckte zusammen, seine winzigen Gliedmaßen streckten sich und zitterten, und seine Winzelfinger spreizten sich weit. Fast gleichzeitig lief er überall rot an und fing an zu brüllen. Irgendwie wirkte der Mund bei ihm in diesem Augenblick wie der größte Teil – größer als sein Kopf, falls das möglich war.
»Hört sich fast an wie sein Vater in dem Alter«, meinte der alte Mann.
»Komm, komm«, beruhigte ihn Margaret, während sie ihn wieder windelte und zu beruhigen versuchte. Als das Gebrüll nachließ und zum Schluckauf wurde, sagte der alte Mann:
»Sieht mir nach einem starken Esser aus. Ist er ein starker Esser, Madame?«
»Ja, Mylord.«
»Sein Vater hat zwei Ammen gebraucht.« Darauf folgte ein langes Schweigen. »Seine Mutter hat einen Monat das Bett gehütet.« Und er musterte die beiden erneut.
»Man hat mir erzählt, daß Ihr am Tag nach der Geburt aufs Pferd gestiegen und sieben Tage durchgeritten seid, ohne daß Eure Milch auch nur einmal versiegt wäre.«
»Ja, Mylord.«
»Ich habe gut gewählt. Ihr seid eine starke Frau.« Margaret spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Wenn das ein Kompliment sein soll, du alter Geizhals, dann kannst du es dir an den Hut stecken, dachte sie.
»Man hat mir erzählt, daß Ihr um die Freigabe meines Sohnes gewürfelt und Euer Leben in die Waagschale geworfen habt.« Sie sah, wie sich Gregorys Brauen vor Schreck wölbten. Und dabei hatte sie so gehofft, sie könnte das Würfelspiel auf ewig vor ihm geheimhalten, denn es war ihr peinlich. Lieber Gott, was für ein taktloser, alter Mann. Er blickte sie jählings aus der Nähe an und knurrte: »Wart Ihr nicht ganz bei Trost, Madame?«
»Es waren falsche Würfel, Mylord.«
»Falsche Würfel? Hugo, davon hast du mir nichts –« platzte der alte Mann heraus. »Falsch! HA! Falsch, bei Gott!« Vor unterdrückter Freude lief er ganz rot an, und seine Augen erfaßten Margaret, als sähe er sie zum ersten Mal in einem ganz anderen Licht. »Ihr seid wirklich eine de Vilers! Herein, meine Herren, immer herein, sage ich, und ehrt die Frau, die den Teufel höchstpersönlich mit einem Satz falscher Würfel hereingelegt hat!« Und als sie genau zu diesem Zweck ins Zimmer strömten, wurde Margaret dunkelrot, so peinlich war ihr die Situation.
Und natürlich mußten sie zum Fest bleiben, auch wenn sie auf dem Weg nach Dover waren, um sich erneut nach Frankreich einzuschiffen. Als Margaret Anweisung gab, noch mehr Gedecke aufzulegen, hörte sie männliche Stimmen, die Gregory zur Geburt seines Sohnes gratulierten, und ein Geknurr: »Nicht zu fassen! Hält einen Gefangenen von Rang ohne Lösegeldforderung fest! Unehrenhaft! Unerhört! Und man munkelt, auch noch ein Teufelsanbeter!« Und über allem erhob sich die Stimme des alten Sieur de Vilers:
»Verdammt noch mal. Siehst du aber DÜNN aus! Ich habe am GALGEN schon SKELETTE mit mehr Fleisch auf den Rippen hängen sehen! Du kannst nicht wieder ins Feld ziehen, wenn du wie der LEIBHAFTIGE Tod aussiehst!«
»– und John, schick die Köchin in die Garküche um die Ecke, sie soll einfach alles aufkaufen, was sie haben. Es ist mir gleichgültig, ob ich damit ihre Berufsehre kränke. Diese Leute hier können zuschlagen. Ehrenwort, wir haben einfach nicht genug. Oh! Wein! Und Tische! Brauchen wir noch einen? Wohin bloß damit?« Und schon lief Margaret sorgenvoll davon, sie mußte sich darum kümmern, ob man in der Diele mit dem Auflegen der neuen Gedecke zurechtkam.
Beim ersten Gang, einer gebundenen Suppe, fielen den Nachbarn die modischen französischen Tischmanieren auf, die sich Margaret in der Fremde zugelegt hatte. Auch ihr Mann wirkte für einen Engländer verdächtig geschickt bei Tisch, aber war es andererseits nicht auch wohlerzogen, wie er ihr den Becher und den besten Bissen von jedem Gericht anbot? Und sah sie dabei nicht glücklich aus? Und zugegeben, die Gesellschaft war äußerst vornehm und obendrein witzig. Niemand hatte ein Wort verlauten lassen, daß auch der Landadel zugegen sein würde. Das machte den Abend um etliches eleganter, und der eigene Mann sah bereits besänftigt aus. Ei, und noch kein Wort über ausstehende Rechungen.
Doch eines gehörte sich nun wirklich nicht: Die kleinen Mädchen von Kendall durften an diesem Abend wie Erwachsene mit an der Tafel sitzen, auch wenn sie sich zugegebenermaßen ausnehmend gesittet benahmen, abgesehen davon, daß sie sich gegenseitig knufften, als der gutaussehende Knappe des alten Ritters in ihre Richtung blickte. Ehre, wem Ehre gebührt, diese unerwartet guten Manieren hatte ihnen Mistress Wengrave beigebracht und sich damit ein Anrecht auf einen Stehplatz im Himmel erworben – oh, meine Liebe, habt Ihr nicht davon gehört. Wenn Ihr wüßtet, Ihr würdet verstehen – eine Märtyrerin, ja eine Märtyrerin, und das beinahe ein ganzes Jahr lang.
Beim zweiten Gang, als der elegant angerichtete Pfau auf einer Platte inmitten einer Fülle von Beilagen hereingetragen wurde, merkte man schon, daß die Weine gut ausgesucht waren, denn der Raum wirkte angenehm warm und rosig. Sir John rang sich nach und nach zu einer guten Meinung über die Kaufleute in der City durch, bei denen es sich eindeutig um ernsthafte Männer mit Weitblick handelte. Das waren keineswegs die luxusversessenen, geldgierigen und unehrenhaften Parasiten, wie man ihn hatte glauben machen. Ein jüngerer Sohn von etwas zarter Gesundheit wie sein kleiner Thomas, der sich nicht recht für das geistliche Amt eignete, dürfte sich hier ausgezeichnet machen, wenn er ihm eine Lehrstelle bei einem so ehrbar aussehenden Ratsherrn wie Master Wengrave verschaffen konnte, welcher so verständig über das Bankwesen und die neuen Münzgesetze zu plaudern verstand.
»Gar nicht so übel für einen jüngeren Sohn, was?« Sir Hubert beugte sich zu Sir William und flüsterte so laut, daß man es von hier bis Dover hören konnte.
»Ihr scheint ihn wirklich gut untergebracht zu haben, obwohl die Art und Weise zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich war«, gab Sir William zurück, denn ihm war aufgefallen, daß Sir Huberts Gilbert und seine Margaret immer einer die Sätze des anderen zu Ende bringen konnten, so als wüßten sie im voraus, was der andere dachte. Genauso ging es ihm mit seiner alten Dame Alys, doch schließlich hatte man sie bereits in der Wiege verlobt und zusammen in dem Wissen aufgezogen, daß sie einmal heiraten würden, falls sie, so Gott wollte, das Erwachsenenalter erreichten.
»Ich bin NIEMALS gewöhnlich«, sagte der alte Lord mißbilligend und sah selbst noch in seinem Sonntagsstaat wie ein Freibeuter aus.
»Das wollte ich auch nicht gesagt haben, Sir Hubert. Aber ist Euch aufgefallen, wie gut sie miteinander auskommen?«
»Glaubt ja nicht, das wäre mir entgangen. Verflucht ungehörig. Ein Mann sollte sein Herz nicht an eine Frau hängen. Das schwächt die Mannhaftigkeit.«
»Ihr habt Glück mit Eurem Großsohn«, sagte Sir William und wechselte damit taktvoll das Thema. Was ihn anging, so hatte sein Philipp noch viel aufzuholen.
»Glück? Das macht die KRAFT des BLUTES!« verkündete der alte Lord. »Seht Euch die an.« Und Sir Hubert wies mit einem Fasanenschlegel in Richtung der Mädchen und dämpfte die Stimme zu einem verschwörerischen Geflüster, daß die Balken erbebten. »Die Frau bringt überhaupt nur Mädchen zuwege. Habe ich sofort gemerkt. ›Taugt nur für einen zweiten Sohn‹, habe ich bei mir gedacht. ›Wenn überhaupt etwas in ihm steckt, dann bekommt er vielleicht die richtige Gefährtin.‹ Bei einer Frau, die nur Mädchen zuwege bringt, muß der MÄNNLICHE Samen stärker sein als die WEIBLICHEN Säfte.« Glücklicherweise machte Gregory gerade ein Wortspiel in Latein und bekam nichts mit. Margaret jedoch, und sie errötete tief. Der alte Lord schwieg, um dem Fasanenschlegel den Garaus zu machen, knirschte genüßlich auf den Knochen herum und schluckte geräuschvoll, ehe er fortfuhr: »Wenigstens glaube ich jetzt, daß wenigstens etwas an dem Jungen funktioniert. Wer weiß? Wenn er seine Nase nicht soviel in Bücher gesteckt und damit seine Mannhaftigkeit geschwächt hätte, aus dem hätte etwas werden können.«
Als die letzten Reste der Früchte und Süßigkeiten abgetragen waren und noch mehr Wein hereingebracht wurde, meinten etliche, der Abend wäre doch ein wenig zu kunstsinnig für sie, denn nun stand Robert le Clerc auf und hob seinen Becher zu einem weitschweifigen Trinkspruch in Latein. Wer diese Zunge aber verstand, erklärte dem Nachbarn rasch, daß er Bacchus, den Gott des Weines, anrief, unterschlug jedoch, wie ausnehmend heidnisch das war, denn Robert hatte letztens eine große Zuneigung zu den etwas unanständigen Werken Ovids gefaßt.
Und der so stilvoll beschworene Bacchus, den man viele Jahrhunderte lang vernachlässigt hatte, segnete den Abend. Und als sich Master Will erhob und verkündete, er könne in Englisch deklamieren, freuten sich alle, die kein Französisch verstanden. Und als er dann noch das fremdländische Reimen als modisches Mätzchen anprangerte und bedauerte, daß man die schöne, alte Alliteration dafür aufgab, da freuten sich alle alten Ritter, die eine Heldensaga erwarteten. Zugegeben, es verbreitete sich leichte Beklommenheit, als er mit einem Text aus dem Evangelium anhob: »In quorum manibus iniquitates sunt; dextra eorum repleta est muneribus«, was soviel bedeutete wie ›welche mit bösen Tücken umgehen, und nehmen gerne Geschenke‹. Doch das Ganze löste sich in großem Wohlgefallen auf, als er durchblicken ließ, daß es heute abend über die Advokaten hergehen solle.
»Advokaten?« knurrte Sir Hubert. »Mein Gott, bei Advokaten könnte ich auch ein Wörtchen mitreden. Ich glaube, das sagt mir denn doch zu.«
»Advokaten?« wandte sich Sir Thomas an Master Wengrave. »Was kann der uns noch über diese Schurken erzählen? Na los, Mann!«
»Oh, das Gesetz, wie ist es doch groß und gewaltig und gehet gemächlich den Gang aller Dinge, doch ohn' Gunst und ohn' Geld gefällt es gar wenig«, deklamierte der Dichter.
»Euer Kontrakt ist also für nichtig erklärt worden?« forschte Master Wengrave.
»Woher wißt Ihr das?« erwiderte Sir Thomas sarkastisch. »Die andere Seite hat einen silbernen Pokal und einen Hut voller Florin gestiftet.«
»Tja. Bitterkeit führt zu nichts. Erhöht einfach Eure Preise.«
»Führt Gelehrsamkeit und Gewinnsucht gar glückhaft zusammen –« trug der Dichter vor, und Sir Thomas und Master Wengrave ließen von ihrem Thema ab und spendeten den wohlgesetzten Worten Master Wills Beifall.
»Hört! Hört! Wohl gesprochen, Herr Dichter!« Sir Thomas hatte seine übliche Ernsthaftigkeit vollkommen abgelegt.
»Natürlich muß ich das Ganze noch erheblich ausfeilen«, hörte er den Dichter bescheiden zu den Gelehrten am niedrigeren Tisch sagen, die ihm ebenfalls Beifall spendeten.
»Keine Zeile ändern, sag' ich!« rief Sir Thomas. »Sagt an, wo wohnt Ihr. Ich lasse Euch morgen früh einen neuen Wollumhang schicken.«
»Hausvater!« mahnte ihn seine gute Frau Emma.
»Hör auf, mich zu ›behausvatern‹! Ich sage dir, an dem Zeug ist etwas dran«, verkündete Sir Thomas.
Danach konnte nichts mehr schiefgehen, selbst als Roberts witziges Sonett auf einen treulosen Florin Sir Hugo zu dem Ausspruch veranlaßte: »Kein Geld? Ei, das ist kein Thema für eine hehre Seele. Und nicht ein einziges Symbol hat der Kerl gebracht!« Damit kam er mühsam auf die Beine.
Auf Gregorys Miene stand Entsetzen zu lesen: Der gefürchtete Augenblick war gekommen. Er verdrehte die Augen zu Margaret, wie ein erschrockenes Pferd, das durchgehen will, doch sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm, während er den ganzen Becher mit einem Zug hinunterstürzte. Bei Sir Hugos ersten Reimpaaren stieß der alte Sir Hubert einen Schrei aus wie ein verwundeter Bär.
»Verrat, bei Gott! Das ist eine Krankheit! Was zum TEUFEL ist in ihn gefahren? Gilbert, das ist deine Schuld –« Sir William legte dem alten Mann fest die Hand auf den Arm, damit er nicht aufstehen und zu Gewalttätigkeiten schreiten konnte, und reichte ihm einen vollen Becher, daß er dem Beispiel seines zweiten Sohnes folgen konnte.
Die Diele geriet in Aufruhr, ein Raunen ging durch die Menge, als Hugo das Werk vortrug, das er zu höchster Vollkommenheit ausgefeilt hatte.
»Worum geht es, worum geht es, lieber Master Barton?«
»Mpf. Das Französisch klingt anders als in meinen Verträgen –, sehr blumig.«
»Aber was sagt er?« beharrte Mistress Barton.
»Hm – eine hehre – nein, eine wahrhaft hehre Seele – läßt sich nicht in Mauern aus Stein einsperren –«
»Ei, es handelt von seinem Bruder! Wie rührend, wie edelmütig von ihm!«
»– und – äh, Gedichte flattern frei am Himmel wie – hm, Vögel. Etwas, etwas – ist unsterblich.«
»Oh, wie reizend!« rief Mistress Barton und wischte sich die Augen. Ein paar andere taten es ihr nach, denn der glühende und selbstlose Tribut eines preux chevalier hat stets etwas Anrührendes.
»Mein Gott, Robert, kein Wunder, daß sich Gregory vor seiner Familie verstecken wollte«, sagte Nicholas, der immer noch rosig aussah und sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Nicht zu fassen, daß er diesen hehren Geist die ganze Zeit vor uns versteckt hat. Verdammt kleinlich von ihm«, pflichtete ihm Robert bei, dem die Seiten noch immer wehtaten und der den Kopf auf den Tisch gelegt hatte.
»Dafür kann es nur eine Rache geben«, verkündete Jankyn.
»Und die wäre?« fragten die anderen im Chor, da sie wußten, daß kein Mensch sie verstand, wenn sie Latein sprachen.
»Ei, ich vertone das Gedicht, und dann singen wir es ihm vor, falls er es wagen sollte, seinen Fuß noch einmal über die Schwelle des Eberkopfes zu setzen«, sagte Jankyn so richtig boshaft. »Seine Miene wird die Mühe wert sein.«
»Hilde«, sagte Bruder Malachi, der alles mitbekommen hatte. »Ich glaube, man sollte Gilbert warnen, er gerät schon wieder in die Klemme.«
»Mehr als üblich?« fragte sie.
»Nein, wie üblich«, erwiderte Malachi.
Aber als Hugo die Gesellschaft musterte und nicht recht wußte, ob er sie lieber in Tränen aufgelöst lassen oder noch eine Zugabe machen sollte, hörte er hinter sich seinen Vater mit heiserer Stimme fragen:
»Sagt an, Sir William, glaubt Ihr, daß sie ansteckend ist wie die Pest?«
»Was denn?«
»Die Krankheit. Die Reim- und Bücherwurmkrankheit.«
»O die, nein, natürlich nicht. Das ist nur eine Mode wie Schnabelschuhe. Die vergeht wieder. Wer weiß? Im nächsten Jahr ist es vielleicht Tenetz spielen.«
Tennis, dachte Sir Hugo und setzte sich, ist das nicht das Spiel, das bei den jungen, französischen Edelleuten so in Mode ist? Ob ich wohl irgendwo Unterricht nehmen kann?
»Und ich sage Euch, wenn das so weitergeht, das zehrt an der MANNHAFTIGKEIT der NATION. Der König sollte einen Riegel vorschieben.« Sir Hubert erhob schon wieder die Stimme. Er war drauf und dran, zu seiner berühmten Rede über Mannhaftigkeit und die Gründe für ihr Dahinschwinden auszuholen.
»Ach, das macht mir weniger Sorgen«, gab Sir William so beschwichtigend wie nur möglich zurück. Er war mittlerweile recht vertraut mit Sir Huberts Ansichten über Mannhaftigkeit und fand, daß der Abend dadurch nicht gewinnen konnte. »Seht es nüchtern. Was ist ein Feuer ohne Zunder? Die Kosten für Kopisten und die Papierknappheit halten das Ganze in Grenzen.«
Margaret hatte die Komplimente der scheidenden Gäste noch im Ohr, als sie sich an ihren Mann wandte.
»Na?« fragte sie, »willst du immer noch deinen Namen ändern und auf den Kontinent fliehen?«
»Noch nicht«, antwortete er und legte ihr den Arm um die Mitte. »Ich glaube, ich überlebe es. Ich muß dabei nämlich bedenken, wie schwer ich mich vor dir verstecken kann.«
»Damit du es nur weißt«, sagte sie lächelnd, »ich verfolge dich bis ans Ende der Welt. Ich bin zu allem entschlossen, mußt du wissen.«
»Du meinst störrisch, Margaret. Als ob ich das nicht längst wüßte. Und obendrein bist du so störrisch, daß du noch damit prahlst, statt es zu verbergen, wie es sich für eine ehrbare Frau geziemt.«
»Willst du damit sagen, ich bin nicht ehrbar?«
»Das nun auch wieder nicht, Margaret. Nein. Ich sage nur, du bist genau richtig. Auf gar keinen Fall möchte ich eine andere Margaret.«
Und so feierten wir frohgelaunt unsere Heimkehr, und alles wurde bereinigt und ins rechte Lot gebracht bis auf ein paar Kleinigkeiten, die das Erwähnen nicht verlohnen. Man machte viel von uns her auf den Gastmählern, die man uns zu Ehren gab, und so besserte sich auch Gregorys Laune, und er setzte Fleisch an, bis er fast wieder der Alte war. Sein Vater schickte ihm einen Brief aus Frankreich, der nicht ganz so schlimm war, Hugo gab die Muse auf, nach einer unseligen Liebesgeschichte zumindest für ein Weilchen, und Peregrin erfreute ihn mit einem Zahn, den er jedes Mal, wenn er seinen Vater erblickte, mit einem gaumigen Grinsen vorführte.
Eines Tages ertappte ich Gregory, wie er sein Gesicht in dem kleinen Bronzespiegel musterte. Er hielt ihn auf Armeslänge und drehte den Kopf erst nach rechts und dann nach links, um die Wirkung zu prüfen.
»Bärte kommen wieder in Mode, Margaret. Was meinst du, sollte ich mir einen schönen langen stehen lassen? Dann sehe ich mehr nach einem pater familias aus, findest du nicht auch?«
»Ihr seht immer gut aus, Herr Gemahl, laßt Euch also den Bart so lang stehen, wie es Euch gefällt.«
»Frau Gemahlin, habe ich Euch letztens nicht gesagt, daß ich den Sarkasmus gepachtet habe, nicht Ihr? Und was habt Ihr gegen einen langen Bart?«
»Ich? Ei, ganz und gar nichts, außer daß Ihr darüber stolpern könntet.«
»Komm, komm, denk doch nur, wie prächtig ich aussehen werde, wenn ich vorm Zubettgehen dann in meinem großen Stuhl sitze und all meine Kinder und Großkinder der Reihe nach antreten und auf die Knie fallen lasse, daß sie mir die Hand küssen. ›Gott segne dich, mein Kind – Gott segne dich, Tochter – Gott segne dich, mein Sohn –‹ Gar nicht so übel, so ein Patriarch. Wenn ich es recht bedenke, so hat Gott wahrscheinlich den allerlängsten Bart.«
»Oh! Du! Du willst mich aufziehen! Woher weißt du übrigens, wie Gott aussieht?«
»Ich?« sagte er und legte den Spiegel hin. »Ei, ich habe mir immer eingebildet, daß Gott genau wie Vater aussieht. Mittlerweile bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher.«
»Gregory, du lieber Irrer«, sagte ich und schlang die Arme um ihn.
»Mein Schatz, meine verrückte Margaret«, sagte er, nahm mich in die Arme und küßte mich, daß meine Fußspitzen den Fußboden gar nicht mehr berührten.
Und da ging mir auf, daß diese albernen Verfasser von Liebesgeschichten und Balladen gar nicht wissen, wovon sie reden. Denn was ist Erringen verglichen mit Haben? Und hatte mein Ritter auch nur einmal unter meinem Fenster die Laute gespielt oder hatten wir Liebespfänder ausgetauscht – außer unseren Herzen natürlich?