Kapitel 8
Fray Joaquin erreichte Brokesford Manor verdreckt und zornmütig, weil er eine ganze Woche mit der Suche nach diesem Hundeloch am Ende der Welt verloren hatte. Die Einheimischen waren Wilde: Wenn sie überhaupt Französisch konnten, dann eine abartige Variante des normannischen Dialekts, vermischt mit Brocken der eigenen Sprache. Fray Joaquins rollendes Provençalisch, das er gelegentlich mit einem spanischen Satz würzte, verstand hier niemand. Die Menschen pufften sich und zeigten mit Fingern auf ihn, wenn er nach dem Weg fragte. Schlimmer noch, sie brachen in schallendes, unhöfliches Gelächter aus. Er war es leid, sich die Wanzen aus den Kleidern zu suchen und nach einer elenden Nacht mit fünfzig Fremden seine Sachen zu packen, Fremden, die dicht gedrängt mit ihm in durchgelegenen Betten in einer Abfolge von elenden Herbergen schliefen. Am Ende hatte er einen Dorfpriester aufgetrieben, der ein paar Brocken Latein konnte. Es reichte gerade für die Messe und um ›ja‹ und ›nein‹ zu sagen und die Richtung anzugeben. Doch es war genug für die Information, daß er sich in der richtigen Gegend befand und daß Brokesford Manor einen halben Tagesritt gen Norden lag.
Wie üblich in solchen Weilern erregte sein Pferd auch hier mehr Bewunderung als er selbst. Ein Berberhengst, ein Apfelschimmel, der auf Schnelligkeit gezüchtet worden war, mit gefälligen, stumpfen, arabischen Nüstern und den weit auseinanderstehenden, braunen Augen einer Frau. Er hatte sich daran gewöhnt, daß sich ein Kreis von Gaffern um ihn scharte und Bemerkungen über ihn machte, wo auch immer er ihn stehenließ, und er gab auf ihn Obacht, daß er ihm nicht gestohlen wurde. In der Regel reichten gefletschte Zähne und der mächtige Hirschhund, um sich die Leute vom Leibe zu halten. Schweine, die nichts als Ackergäule ritten, die hatten gut glotzen; jetzt merkten sie endlich, wie ein richtiges Pferd aussah. Fray Joaquin, einst Gestütsaufseher bei einem der elegantesten Äbte Kastiliens, ehe er in die Dienste des Sieur d'Aigremont trat, hatte ein gutes Auge für Zuchtmaterial – fast so gut wie sein Auge für hübsche Kinder. Also, diese englischen Pferde, das waren schlechte Züchtungen – doch die Kinder, die er gesehen hatte, waren recht niedlich. Hellhaarig und rosenwangig, so wie sie sein Seigneur am liebsten hatte. Schade, daß er wegen einer Frau unterwegs war, wo er leicht einige Kinder hätte mitnehmen können, doch Geschäft war Geschäft.
Als er sich dem Herrenhaus näherte, fielen ihm die schweren Pferde auf der Koppel und im Pferch ins Auge. Nicht übel, gar nicht so übel. Der Mann kannte sich aus, doch in der Brust durfte seine Züchtung noch ein wenig tiefer sein und der Kopf etwas eleganter. Was der brauchte, war ein Berberhengst – auf Größe könnte man später noch züchten, erst einmal mußten die Anlagen stimmen. Eine kleine Gänsemagd hütete am Straßenrand ihre Schützlinge mit einer Gerte. Die barfüßige Kleine in dem eiskalten Herbstmorast war kaum so groß wie die Gänse. Unter einer groben Wollkapuze ringelten sich blonde Locken, und sie gaffte das fremde Pferd und den Reiter an. Fray Joaquins kundiger Blick sah ihre Rosenwangen und die großen, blauen Augen. Ja, jammerschade.
Der Empfang im Herrenhaus war beinahe ungehörig zu nennen, doch schließlich konnte man vom sogenannten Adel eines derart rückständigen Ortes kaum anderes erwarten. Der Herr dieses baufälligen Schutthaufens von einem Haus schien sein Bett im Palas aufgeschlagen zu haben wie ein altehrwürdiger Herr aus einer jahrhundertealten Ballade. Freilich, als Ausrede diente ihm, daß seine Wunden ihn aufs Sterbelager geworfen hätten und er nicht die enge Wendeltreppe hinaufgetragen werden könnte. Aber war es nicht würdevoller, sich hochtragen zu lassen und mit Anstand zu sterben, als darauf zu beharren, in diesem Dreck weiterzuleben? Hmpf. Beim Anblick der von der Decke herabhängenden Schinkenseiten rümpfte Fray Joaquin insgeheim die Nase. Ein Wunder, daß sie in diesem Palas keine lebenden Hühner halten, dachte er. Das würde auch nicht weiter stören.
Eine Menagerie von Hunden und Falken umgab den alten Lord hinter dem Wandschirm, wo er seinen Besucher an die Kissen gelehnt empfing. Eine Hündin hatte im Stroh unter dem riesigen Bett Welpen geworfen. Freilich, irgendwo drückte sich auch noch ein hohlwangiger Sohn herum, doch der schien ein ungehobelter Bauerntrampel zu sein. Er hatte seine aufgeputzte, junge Frau zur Tür geschickt, um Fray Joaquin zu begrüßen, und die hatte ihn brüskiert, noch ehe er seinen Auftrag loswerden konnte. Sie hätten bereits vornehme Gäste, hatte sie gesagt, und hoffentlich hätte er nicht noch mehr Leute mitgebracht. Fray Joaquin legte Wert auf den ihm gebührenden Empfang und war es nicht gewohnt, mit einem fahrenden Scholaren verwechselt zu werden. Als hochwohlgeborener Diener eines großen Herrn hätte er zur Begrüßung zumindest ein Fußbad erwarten können. Doch die Leute hier machten nicht den Eindruck, als hätten sie mit Baden viel im Sinn.
Am schlimmsten allerdings kränkte ihn der alte Lord, der sich zu seiner Begrüßung auch nicht einen Zentimeter aus den Kissen aufrichtete, und dabei war klar, daß er nicht einmal ein Bannerherr war, und todkrank sah er auch nicht gerade aus. Er roch nicht nach Tod so wie ein Mann, der schon lange verwundet daniederliegt, eigentlich hätte riechen sollen. Er war unglaublich dünn, aber seine Augen glitzerten irgendwie boshaft und schlau, und auf seinen Wangenknochen sah man zwei fiebrig gerötete Flecken. Und wie er seine Diener abfertigte und Bittsteller anhörte, unbekleidet bis auf eine Nachtmütze und eine große Pelzdecke, die er bis zu den Schultern hochgezogen hatte, das wirkte reichlich vergnügt. Eine Spinne mitten in ihrem Netz, dachte Fray Joaquin. Dieser sogenannte Sterbende beherrscht hinter dem Rücken seines Sohnes alles. Und mit dem Sohn stimmt etwas nicht; der ist ganz zerzaust und sieht mit seinen eingesunkenen, glühenden Augen wie ein Wahnsinniger aus.
Fray Joaquin hatte aus seiner Begabung, sofort zu riechen, woher in einem vornehmen Hause der Wind wehte, bislang viel Kapital geschlagen, und so erfaßte er, während er darauf wartete, vorgestellt zu werden, die Szene hinter dem Wandschirm in Blitzesschnelle. Und wer war der Ritter in dem reich bestickten, leuchtend roten Wams, der auf dem Bett saß? Zweifellos der vornehme Besucher. Aber auch ein alter Freund – vielleicht ein Waffengefährte, gemessen an seinem Alter und dem wölfischen Grinsen, das beiden zu eigen war und so wirkte, als freuten sie sich immer noch über einen guten Witz.
Der Ritter war in der Tat Sir William Beaufoy vom Hofe des Herzogs, der Hugo auszurichten hatte, daß seine Zeit abgelaufen sei. Da er Margaret nicht herbeigeschafft hatte, sollte er nun Sir Geoffrey de Courtenay, den Stellvertreter des Herzogs in Lincolnshire, aufsuchen und genau erklären, warum er sie nicht beibringen konnte. Diese unangenehme Aufgabe, fand Sir William, wurde ihm nur dadurch leichter gemacht, daß sein alter Freund Sir Hubert immer noch unter den Lebenden weilte und er ihm vielleicht noch Trost auf dem Totenbett spenden konnte. Was für ein Schreck, wenn auch ein freudiger, daß die graue Todesfarbe aus dem Gesicht seines alten Freundes gewichen war, daß er aufsaß, aß und trank und auch seine fünf Sinne wieder beisammen hatte.
»Ein wenig Würzwein und viel ekelhaftes, abgekochtes Wasser zu trinken, in dem widerliche Kräuter schwimmen. Stinkende Umschläge, und keinen anständigen Braten – nichts als scheußliche Suppen. Sie hat Wat vor ihrer Flucht die Rezepte gegeben, und nun tyrannisiert er mich damit. Und keine Menschenseele will mir etwas Richtiges zu essen bringen. Aber ich muß zugeben, es geht mir besser.«
»Im Haushalt des Herzogs vermutet man, daß Hugo sie umgebracht hat.«
»Umgebracht? Blanker Unfug. Sie hält sich versteckt, wie ich ihr geraten habe. Hugo ist ohnedies im Augenblick nicht zu einem Mord fähig. Seht ihn Euch an! Nur noch Haut und Knochen! Der hat dieser Tage andere Sorgen. Ehesorgen.«
»Nach dem, was ich gesehen habe, braucht seine Frau eine anständige Tracht Prügel.«
»Oh, das ist seine geringste Sorge. Ihr solltet ihn hören, wie er nächtens umgeht wie ein Gespenst. Zuweilen heult er. ›Meine Seele, meine Seele ist der ewigen Verdammnis anheimgefallen?‹ Pa! Er verdient es nicht besser. Als ob ich ihm nicht eingebläut hätte, daß ein richtiger Mann alles bekommt, was er will, ohne etwas zu versprechen!«
»Abgesehen davon, Sir Hubert, erstaunt es mich, daß es Euch soviel besser geht.«
In diesem Augenblick blickten sie auf und merkten, daß Fray Joaquins kalte, dunkle Augen sie mit kühlem, sachlichen Blick abschätzten. Etwas an dem Mann wirkte finster. Das machten nicht nur der dunkle Umhang oder die schwarze Dominikanerkapuze, die das graue, verkniffene Gesicht beschattete. Er hatte etwas an sich – mag sein, sie täuschten sich darin –, das sehr eigenartig war. Die schrägen Strahlen der Herbstsonne, die durch das Fenster hinter dem Wandschirm fielen, schienen ganz kurz vor ihm innezuhalten, so als weigerte sich das Licht, ihn zu berühren, ehe es neben ihm auf dem Fußboden eine hellgelbe Lache bildete. Das fiel beiden Männern auf, und Sir Hubert fröstelte ein wenig, denn er hatte dem Tod zu nahe und erst kürzlich ins Antlitz geblickt und wußte, was das zu bedeuten hatte.
»Ich komme mit Kunde von Eurem Sohn, Sir Gilbert de Vilers. Er wird im Chateau in St. Médard-les-Rochers von Sieur d'Aigremont, Comte de St. Médard, gefangen gehalten. Dieser nun sagt, daß er das Lösegeld nur aus der Hand von dessen Ehegemahlin, der schönen Dame Margaret höchstpersönlich, entgegennimmt. «
Trotz seiner rollenden Aussprache verstanden die beiden Ritter sofort, was das bedeutete. Sir Huberts Gesicht lief rot an, so unerwartet war die freudige Botschaft. Er setzte sich auf und beugte sich so jäh vor, daß die Bettdecken ihm bis zum Nabel rutschten.
»Gilbert ! Er lebt ! Gott im Himmel sei Dank ! «
Doch Sir William, der aus eigener, bitterer Erfahrung wußte, was es heißt, einen Sohn von den Franzosen freizukaufen, erwiderte aalglatt: »Warum läßt der große und wohlhabende Sieur d'Aigremont, für den das Lösegeld eines einfachen Ritters ein Sandkörnchen am Strand sein dürfte, ihn nicht auf Ehrenwort frei, damit er heimkehren und sein Lösegeld selbst auftreiben kann?«
»Ach, das«, gab Fray Joaquin diplomatisch zurück. »Mein wohledler Herr hat soviel Freude an seiner Gesellschaft, daß er ihn keinesfalls ziehen lassen möchte. Sie teilen das Interesse an der Poesie. «
»Ach ja«, antwortete Sir William im gleichen, nichtssagenden Ton. »Mir ist, als hätte ich den Namen schon gehört. Handelt es sich bei Sieur d'Aigremont nicht um jene durchlauchtige Seele, die für ihre fürstliche Gastfreundschaft ebenso berühmt ist wie für ihre ausgezeichneten Lieder? Heißt er nicht bei den Leuten von erlesenem Geschmack der edle trouvère — oder war es Dichterfürst–, falls ich mich recht entsinne?«
»Ich bin entzückt, daß sein Ruf über das Meer gedrungen ist. Er ist ebendieser Edelmann. «
»Also hat Gilbert gelebt wie die Made im Speck, hat auf der Harfe geklimpert und Minnelieder gesungen, während ich vor Gram fast in die Grube gefahren bin !« Jählings bebte Sir Hubert vor Zorn. Sir William warf ihmeinen warnenden Blick zu. »Seht mich nicht so an ! Ich kenne das undankbare Balg nur allzu gut. «
»Ich auch, vergeßt das nicht«, sagte Sir William mit zusammengebissenen Zähnen. Denn vor langer Zeit war Gilbert als Grünschnabel von vierzehn Lenzen sein Knappe gewesen, ehe er durchbrannte, um sich der Gelehrsamkeit zu widmen und seinem Vater vom sicheren Hort einer fremdländischen Hauptstadt aus einen groben Brief zu schreiben.
»Laßt mich nachdenken – hmm. Ich entsinne mich, daß ich am Hof von Flandern einen trouvère habe singen hören – wie ging das noch? – ›Ode an Madames Elfenfüßchen.‹ Die ist von ihm, nicht wahr?« sagte Sir William, zum Abgesandten des Grafen gewandt.
»›Ich huldige‹. Es heißt ›Ich huldige‹.«
»Und ein anderes – ›Das Lied der tragisch Liebenden‹? – Oder täuscht mich mein Gedächtnis?«
»Noch nie davon gehört«, knurrte Sir Hubert, und Sir William warf ihm schon wieder einen warnenden Blick zu – einen, der Fray Joaquin nicht entging.
»Ausnehmend erlesen. Ein Mann mit einer herrlichen Begabung. Und von äußerst edlem Gefühl«, fuhr Sir William fort.
»Ballade. Es ist die Ballade der tragisch Liebenden.«
»Ich bitte um Vergebung. Ich bin nur ein einfacher Ritter aus einem unwirtlichen, rauhen Land. Aber ich hege Bewunderung für die gentilesse, die mir selber fehlt.« Sir William beugte sich vor und richtete einen bohrenden Blick auf Fray Joaquins kaltes, graues Gesicht. »Wieviel?« fragte er.
»Fünfunddreißig Florin.«
»Und aus der Hand der schönen Dame Margaret höchstpersönlich? Welch eigenartige Bitte.«
»Mein Herr möchte die Quelle und Inspiration so vieler wunderbarer Lieder mit eigenen Augen sehen. Er wird beide königlich bewirten. «
»Des bin ich sicher. Es soll alles nach seinen Wünschen gerichtet werden. Natürlich müßt Ihr uns, sagen wir, einen Monat zugestehen, damit wir das Lösegeld aufbringen und an den Hof Eures Herrn reisen können. Verweilt Ihr hier, um dann mit Dame Margaret und ihrem Gefolge heimzuziehen?«
»Nein, ich kehre so schnell wie möglich heim.« Nach einer Unterhaltung, in der man sich über sichere Reiserouten austauschte, ließ Sir William eine Frage einfließen.
»Sagt, was genau hat Mon Seigneur d'Aigremont, der sich doch nirgendwo in der Nähe der normannischen Front befand, dazu bewogen, Sir Gilbert bei sich aufzunehmen?«
»Sein Ruf als Dichter ist bis zu meinem Herrn gedrungen, er hat seine Lösegeldforderung zusammen mit der einiger anderer englischer Gefangener aufgekauft.«
»Ah, ich verstehe.«
Nichts verstehst du, du blödes, englisches Schwein, dachte Fray Joaquin. Denn wenn, so würden dir die Augen vor Entsetzen aus dem Kopf quellen. Und das hätte ich zu gern gesehen. Insbesondere, wenn Euer Kopf auf einem Tablett läge.
Als der finstere Dominikaner nach draußen zu Tisch gebeten wurde, flüsterte Sir Hubert grimmig:
»Wie zum Teufel könnt Ihr ihm Margaret versprechen, wo Ihr doch wißt, daß sie verschwunden ist?«
»Jetzt versprechen, später liefern, gilt als Regel bei Unterhandlungen«, sagte Sir William. »Außerdem würde ich nicht einmal eine mir liebe Jagdhündin in die Reichweite dieses Mannes lassen.«
»Was meint Ihr damit? Er ist ein großer Herr und berühmt für seine Gastfreundschaft. Jeder Gefangene von Adel kann ritterliche Behandlung erwarten und dürfte bei ihm wie Gott in Frankreich leben. Ei, unser König läßt seine Gefangenen sogar auf die Jagd gehen – wenn auch in Begleitung.«
»Hier ist nicht die Rede von Königen, Sir Hubert. Es geht um den eitelsten Mann in allen Königreichen Europas.«
»Was soll das heißen?«
»Er hat einem fahrenden Sänger die Gliedmaßen abschlagen lassen, nur weil jener andeutete, er hätte ein fettes Gesicht. Ich habe den Mann gekannt. Er war Flame und ein echter Hofnarr.«
»Worauf zielt Ihr ab? Gilbert ist von edler Geburt. Was ein Herr Bauern antut, zählt nicht.«
»In der Regel nicht, Sir Hubert. Aber habt Ihr schon einmal ›Ich huldige Madames Elfenfüßchen‹ gehört?«
»Mit Gedichten kann ich nichts anfangen. Musik ist für mich nur Klingeling. Alles überbewertet, dieser Kunstkram.«
»Vielleicht, aber laßt Euch eines sagen. Dieser fettgesichtige Graf hat Troubadoure angeheuert, daß sie die Weise an allen Höfen Europas singen. Hinzu kommt noch, daß es sich bei der ›Huldigung‹ um die albernste Reimerei handelt, die je gesungen wurde. Ich habe dabei Magenschmerzen bekommen, so peinlich war sie mir. Ich mußte einen Erstickungsanfall vortäuschen und an mich halten, daß ich in höfischer Gesellschaft nicht laut loslachte. Nun – was meint Ihr, was würde Gilbert tun, wenn er dergleichen zum ersten Mal hörte?«
»Ihm die Wahrheit sagen«, erwiderte Sir Hubert.
»Getroffen.«
»Dann steht zu fürchten, daß er dem Kalb ins Auge gestoßen hat«, seufzte Sir Hubert.
»Ja. Ich freue mich, daß wir hierin einer Meinung sind. Wir werden sehr behutsam vorgehen müssen, wenn wir ihn in einem Stück wiederhaben wollen.«
»Es war einfacher, ihn als tot zu betrauern, diesen gottverlassenen Idioten.«
»Faszinierend. Nicht zu fassen, daß ich solange gelebt und dergleichen nie gesehen habe.« Ich konnte Master Kendalls Schatten direkt über Bruder Malachis Schmelztiegel wirbeln sehen, denn natürlich wollte er alles haargenau mitbekommen.
Bruder Malachi war ganz Geschäftigkeit wie immer, wenn er arbeitete. »Sim, jetzt tüchtig den Blasebalg treten, für dieses Verfahren brauchen wir sehr heißes Feuer – und, Margaret, könntest du die Smaragde noch einmal umdrehen? Nimm die Zange dazu, ja, und nicht anfassen, sonst verdirbst du mir die schöne Oberfläche. Oh – pfui. Margaret, ist das etwa Master Kendalls Gei – äm – Manifestation über dem Schmelztiegel? Ich bin, glaube ich, in ihn hineingetreten. Bitte ihn, daß er sich etwas zurückzieht. Sonst kühlt er mir das Ganze noch unabsichtlich mittendrin ab. Ich möchte nicht, daß das Geld vorzeitig abblättert – sonst könnte es uns böse ergehen –«
Master Kendall folgte mir durch das vollgestopfte kleine Laboratorium, während ich die kleine Zange vom Bord holte und ein Gefäß voller Öl öffnete, in dem fünf gleiche Kristalle, allesamt hübsch grün gefärbt, die letzten Tage gezogen hatten. Ich drehte sie äußerst behutsam um und legte den Deckel wieder auf. Die waren Malachis Werk; er hatte sie in Alaun und Harn eingelegt und sie dann in Grünspan erhitzt, bis sie so grün waren wie echte Smaragde. Juwelen, so sagte er, sind oft als Zugabe zum Lösegeld nützlich. Augenblicklich machte er aus billigen Kupferringen vom Cheap und einer Reihe alter Kupferpennys Gold.
»Geld für die Überfahrt, Bestechungsgelder – o ja, zwei deiner Florin zu Pulver reduziert und mit Blei versetzt, werden uns zu sehr wohlhabenden Reisenden machen, Margaret. Das findet keiner heraus, nicht durch Anfassen, nicht durch Reiben und nicht einmal mit einem Prüfstein. Jetzt ist alles bereit für den ersten Überzug. Man mischt das Pulver mit Harz und überzieht damit alles ganz gleichmäßig. Paß auf, Sim, sonst wird aus dir nie ein Alchimist – die Hitze macht, daß sich das Blei verflüssigt, und schon sind sie, ah, golden –«
Master Kendalls Geist hatte sich in einer Ecke gleich unter der Decke eingerichtet. Er hatte die Arme gefaltet und schüttelte lächelnd den Kopf. »Margaret«, sagte er, »ich muß schon sagen, wenn du in der Gesellschaft dieses erfindungsreichen Burschen reist, mache ich mir weit weniger Sorgen als sonst wohl. Jammerschade, daß Geister nicht übers Wasser können, sonst würde ich auch mitkommen, einfach weil ich miterleben möchte, welche Tricks er sich noch einfallen läßt –«
»Ich möchte doch sehr bitten«, zischelte es aus derselben Ecke.
»Madame Belle-mere!« rief ich.
»Wenn Ihr Euch schon in meine Ecke drängeln müßt, wo es noch drei andere gibt, die genau den gleichen Dienst tun, so könntet Ihr zumindest den Anstand haben, Euch zu entmaterialisieren und mir nicht länger den Blick zu versperren.«
»Ruhe, Ruhe, Margaret!« ermahnte mich Bruder Malachi und blickte von seiner Arbeit hoch. »Ich bin in einem sehr heiklen Stadium des Verfahrens – mit Geistern kannst du auch zu anderer Zeit plaudern.« Und so hockte ich mich stumm auf die Bank, während der Geruch von heißem Metall und Harz den Raum durchzog und Master Kendall Madame Belle-mere bissig Widerpart bot.
»Ich habe keine Zeit, mich mit niedrig geborenen Kerlen abzugeben. Weg da, sage ich«, gab sie zurück und wurde als lange, schlanke Rauchsäule sichtbar. Master Kendall wirbelte aufgebracht und lief ganz bläulich an.
»Madame, es stünde Euch besser an, in Wiegen zu schauen wie andere beschränkte Gespenster Euresgleichen, als den Versuch zu machen, ein schwieriges Verfahren zu verstehen, das völlig über Euer Begriffsvermögen geht.«
»Über mein Begriffsvermögen, ha! Ich weiß genau, was er da tut. Falsche Goldringe macht er, die nach ein paar Monaten Tragen grün anlaufen. Ich hatte einen Onkel, der kaufte einst so einen. Er ließ dem Kaufmann die Ohren abhacken. Was man mit Euren wahrlich schon längst hätte tun sollen.« Master Kendall gab eine Art Knistern von sich, doch er wich und wankte nicht.
»Das könnt Ihr mir glauben, auf eines verstehe ich mich, nämlich auf Geschmeide. Ich trage selber viele Ringe. So geziemt es sich für eine Frau meines Standes, selbst noch im Tod«, sagte sie naserümpfend. »Nicht daß ich Euch so viele hätte tragen sehen – und die Goldkette da – geschmacklos – so hoffnungslos bürgerlich.«
»Ich habe einen erlesenen Geschmack, taktlose Provinzgans, Ihr. Ich habe die größten Sammler und Kenner im ganzen Königreich beliefert.« Es juckte mich, der Weißen Dame eine bissige Antwort zu geben und Master Kendalls Partei zu ergreifen, denn er hat wirklich einen ausgezeichneten Geschmack, doch ich durfte Malachi nicht stören.
»Und laßt Euch eines gesagt sein«, sagte sie und kam aus der Ecke heraus, damit sie sich ausdehnen und Kleid und Schmuck vorführen konnte. Für das Umgehen in der Stadt hatte sie sich ziemlich herausgeputzt und eine Hofrobe angelegt. Wie, so verwunderte ich mich, wechseln Geister eigentlich die Kleidung? »Ich kann dutzend –, nein, hundertmal beweisen, daß eine Frau meines Geblüts aus besserem Stoff geschaffen ist als Ihr gemeinen Emporkömmlinge unter den Geistern.« Jetzt konnte ich auch ihr Gesicht sehen. Sie trug die lange Nase hoch und sah ungemein überheblich und siegessicher aus. Irgendwie vertraut, dieser Blick, und als mir einfiel wieso, zuckte ich zusammen. Genauso hatte Gregory ausgesehen, wenn er mit einem Aristoteles-Zitat über jemand herfiel. Gregory! Der Gedanke drückte mir das Herz ab. Und trotzdem brachte ich kein einziges Wort heraus. Malachi machte sich am Alembik zu schaffen und war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht merkte, wie Sim mit dem Blasebalgtreten nachließ. Master Kendall, der jetzt kampflos in den Alleinbesitz der Ecke gekommen war, wirkte zufrieden mit sich und schenkte der Weißen Dame ein Lächeln, als wäre sie ein ungezogenes Kind.
»Das muß noch bewiesen werden«, sagte er ruhig.
»Was mir nicht schwerfallen dürfte bei jemand wie Euresgleichen«, sagte die Weiße Dame. »Was würdet Ihr sagen, wenn Ihr hörtet, daß ich fest entschlossen bin, das Wasser zusammen mit meiner Schwiegertochter hier zu überqueren? Anscheinend ist sie die einzige interessante Verwandte, die mir geblieben ist.« Mir sank der Mut. Das hatte mir noch gefehlt, die als Reisegefährtin, der Geist meiner Schwiegermutter. Mein Gott, sie war ja nicht einmal sehr liebenswert. Nun, wenn sie nett im Umgang oder eine angenehme Unterhalterin gewesen wäre, ich hätte mich ins Unvermeidliche gefügt. Doch allein schon der Gedanke ärgerte mich unsäglich. Daher munterten mich Master Kendalls Worte beträchtlich auf.
»Unmöglich«, sagte der. »Das schafft niemand. Euer Schatten verdunstet wie Tau in der Mittagssonne. Jedes Kind weiß das. Das erzählen sie einem doch als erstes, wenn man hierher kommt.«
»Unfug«, gab sie zurück. »Ich habe einen hellen Kopf, im Gegensatz zu ein paar eher niederen Menschen hier, und ich habe mir alles zurechtgelegt. Schließlich ist die Seele unsterblich, oder? Was macht es also, wenn die Form vergeht? Außerdem muß sie das nicht unbedingt – keiner von euch Männern hat bislang den Mut gehabt, es zu versuchen. Und bedenkt eines: Wie könntet Ihr alle zum Hades, oder wie immer sich der Ort nennt, ziehen sehen, wenn einige davon in der Fremde gestorben sind?«
»Die oben können es für uns bewerkstelligen, wenn sie wollen, doch wir selbst können das nicht.« Allmählich zeigte Master Kendall Interesse an dem Streit.
»Na und – Ihr werdet schon noch sehen, und dann müßt Ihr Abbitte leisten, Ihr, Ihr – Margaret, ich sehe Eure Miene. Kommt ja nicht auf den Gedanken, die Schühchen nicht mit an Bord zu nehmen, sonst mache ich einen solchen Aufstand, daß Ihr Euch wünscht, Ihr wäret nie geboren –«
»Dann wollt Ihr also wirklich den Versuch machen, äh? Doch vermutlich nicht nur, um einen einstigen Tuchhändler zu ärgern, der nun zwischen Himmel und Erde lebt?«
»Haltet Ihr mich etwa für rührselig? Unfug! Ich tue es nur, weil es mir Spaß macht, Euch Verdruß zu bereiten, das könnt Ihr mir glauben. Also, wenn ich es schaffe, dann müßt Ihr zugeben, daß ich Euch über bin. Ja?« Sie war jetzt voll ausgebildet und schüttelte den Kopf, daß ihre langen Ohrringe und schimmernden Ketten, wären sie weniger körperlos gewesen, geklirrt hätten. Eine ungebärdige Locke hatte sich aus ihrer adretten Haube gelöst, und ihre durchscheinenden Augen glänzten wie die eines ungezogenen Kindes.
Master Kendall sah sich das alles lange und beifällig an, wie es seine Art war, dann sagte er nicht gerade unfreundlich: »Aber ja doch, dann müßte ich Euch wohl recht geben.«
Doch ihre gespenstisch pfeifende Unterhaltung wurde von dem anheimelnden Laut unterbrochen, mit dem sich Bruder Malachi auf seinen Schemel plumpsen ließ; dabei seufzte er und wischte sich die Stirn mit dem Ärmel. »Ha! Es wird, es wird! Sim, mein Hirn braucht Nahrung. Sieh nach, was Hilde für mich auftreiben kann – und für dich auch etwas. Pu! Ist das eine Hitze!« Er drehte sich um, sah mich und fuhr zusammen, als hätte er vergessen, daß ich die ganze Zeit über im Zimmer war. »Ei, Margaret, bist aber mäuschenstill gewesen. Und was hältst du von meinem Verfahren? Prächtig, nicht wahr? Du liebe Zeit, ist dir etwas? Du siehst wirklich eigenartig aus! Wahrscheinlich hättest du dir nie träumen lassen, daß man aus zwei Florin soviel Wohlstand machen kann. Ah, Sim, die vollendete Nahrung für das Hirn! Und obendrein kellerkalt. Und dazu einen für Margaret! Margaret, erfrische dich mit Ale – du siehst ganz blaß um die Nase aus. Worum sorgst du dich denn nun schon wieder?«
»Ich? Um gar nichts, Bruder Malachi.«
»Gut, gut. Du mußt Zutrauen zu meinen mächtigen Geisteskräften haben, mit denen ich alle Probleme vorhersehen und lösen kann.«
Eigentlich wollte ich ihn etwas fragen, doch ich traute mich nicht. Seine reizbare Laune war verflogen, aber ich konnte keine weitere bissige Bemerkung über mich verkraften. Ich hatte ihn fragen wollen: Und was habt Ihr mit dem Rest von Master Kendalls Goldflorin gemacht?
»Dreh dich noch einmal«, sagte der alte Lord.
Das Mädchen in dem schlichten, grauen Unterkleid und dem blauen Überkleid aus der Truhe oben, das Haar unter dem weißen Schleier und der Rise der verheirateten Frau verborgen, drehte sich erneut.
»So mag es gehen«, sagte der alte Lord vom Bett her mit einer zustimmenden Handbewegung.
»Die Wirkung scheint irgendwie falsch. Gehörten die Sachen wirklich ihr? Sie sehen rein nach gar nichts aus.« Sir William lagerte bequem am Fußende des Bettes und musterte das Mädchen sinnend.
»Hmm. Ihr habt recht. An ihr hatten die Kleider so etwas Gewisses. Schlicht, aber nicht reizlos. Reizlos aber tut es nicht, nicht einmal bei der Frau eines einfachen Ritters.«
Das Mädchen blickte Sir William an.
»Damen tragen Schmuck«, sagte sie.
»In der Tat. Ja. So gehört es sich. Sie braucht ein paar Ringe. Schade, daß wir keine versilberten haben. Und unsere sind ihr zu groß.« Das männliche Trio musterte seine Hände. Selbst der Ring am kleinen Finger des alten Lords war noch zu groß für ihren Daumen. Außerdem war er ein Andenken. »Ja, Ringe, Hmm. Auch eine Kette, vor allem eine mit einem großen Kruzifix. Vielleicht noch einen Rosenkranz am Gürtel. Ein frommes Aussehen dient der dichterischen Inspiration. Du mußt dir angewöhnen, nicht so zu glotzen – und vergiß nicht, in männlicher Gesellschaft hast du den Blick zu senken.« Sir William musterte das Mädchen noch einmal.
»Fang sofort damit an, sonst gehst du nie als Dame durch«, schnauzte sie Sir Hugo an, der mit rotgeränderten Augen angespannt auf der großen Truhe zu Füßen des Bettes hockte.
»Ich weiß mich wie eine Dame zu benehmen. Ich habe es ihnen abgeguckt. Damen tragen glänzende Goldstickereien, keine häßlichen Sachen.« Sie zupfte an dem fehgefütterten Überkleid. Das heitere Himmelblau machte, daß ihre Gesichtsfarbe gewöhnlich und fahl wirkte. Wenn sie nach unten blickte, fiel ihr leichter, angeborener Silberblick kaum auf.
»Etwas Dunkleres und Auffälligeres also«, sagte der alte Lord. »Hugo, sieh nach, was Lady Petronilla in ihrer Truhe hat. Und geh auch ihren Schmuck durch.«
Das Mädchen rührte sich nicht. Doch über ihr Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns, und in ihren Augen, die immer noch sittsam zu Boden geschlagen waren, blitzte Triumph auf.
»Ihre Hände – sie darf die Handschuhe nicht ausziehen, bis sie zart geworden sind. Und paß auf, daß sie auf der Reise nicht den kleinsten Finger rührt. Sie muß einfach durchgehen«, ermahnte der alte Lord Sir Hugo, als dieser sich umdrehte und die Stiege hochgehen wollte.
»Was ist mit ihrer Sprache?« fragte Sir William.
»Nur keine Bange. Keiner von diesen Franzmännern spricht Englisch. Und selbst wenn, so können sie die Dialekte nicht auseinanderhalten.«
»Sagt ihr, daß sie den Mund halten soll. Das wirkt ohnedies sittsamer.«
»Fromm, sittsam, still und eine Dame – das alles bist du doch, Cis, äh?« Der alte Lord warf ihr einen lüsternen Blick zu.
»Jetzt ja, Mylord«, sagte sie, blickte zu Boden und faltete die Hände wie zum Gebet.
»Sehr gut. Ich habe doch gleich gesagt, sie eignet sich dazu. Braucht nur andere Kleider.«
Von oben aus dem Söller kam Gekreisch. Hugo hatte auf dem Weg nach oben die Tür offengelassen.
»Mein bestes Rotes dieser Schlampe, dieser Hure, dieser – dieser Waschfrau? Ich gehe auf der Stelle zu Vater, damit du es nur weißt. Dafür legt er dir den Kopf vor die Füße.«
»Du gehst nirgendwohin, außer daß du deinen Schmuckkasten holst.«
»Auf gar keinen Fall, hörst du!«
»Du tust, was ich dir sage. Deinetwegen habe ich meine unsterbliche Seele verloren!«
»Ist deine Rumhurerei etwa meine Schuld –«
Man hörte einen furchtbaren Krach, gefolgt von Geschrei, Stöhnen und Schluchzen.
»Du glaubst doch wohl nicht, daß dein liebwerter, fahrender Ritter jetzt auch noch einen Blick für dich übrig hat? Da, nimm den Spiegel und sieh dir an, was ich getan habe. Jetzt brauchst du kein Geschmeide mehr, um dieses häßliche Gesicht vorteilhaft zur Geltung zu bringen.« Der Schrei, welcher Sir Hugo auf der Treppe nachhallte, war furchtbar und schnitt ins Herz. Hugo tauchte mit mehreren Kleidern über dem Arm unten auf, in der Hand eine Schatulle.
»Habe ihr die Nase gebrochen«, verkündete er.
»Wurde auch Zeit«, sagte der alte Lord.
»Ohrringe«, sagte das Mädchen. »Die kleinen, goldenen. Und den Ring mit dem Rubin.«
»Zieh zuerst das Kleid an«, befahl Hugo.
»Hier?« Dem Mädchen stieg eine heftige Röte ins Gesicht.
»Für falsche Scham ist keine Zeit. Alle hier, außer Sir William, kennen jeden Zentimeter deines Leibes. Und damit hat er etwas verpaßt. Sie hat nämlich den süßesten kleinen Popo diesseits von London, na, Sir William?«
Sir William, der gute Familienvater, betrachtete angestrengt seine Fingernägel und gab keine Antwort.
Als sie die Schnüre des blauen Unterkleides mit dem güldenen Saum festgezogen und sich das leuchtend rote, bestickte Überkleid über die Schultern hatte gleiten lassen, sagte selbst der alte Lord: »Bei Gott!«
Die leuchtenden Kleider brachten ihre goldblonde Schönheit vorteilhaft zur Geltung, und ihre Haut wirkte darin weißer als Schnee. Das Goldgeglitzer um ihren Hals und die kleinen Öhrchen betonten ihre rosigen Wangen, die noch rosiger wurden, als alle sie anstarrten. Die sittsam gesenkten Augen, die den siegestrunkenen Blick verbargen, und der üppige Busen, der sich hob und senkte, weil sie unversehens in den Besitz des prächtigen und so lange begehrten Kleides gekommen war, all das trug bei den männlichen Betrachtern zu dem Eindruck bei, als glühte sie vor heimlicher Leidenschaft. Kein Zweifel: Ordentlich geschrubbt und gekleidet war das Mädchen eine überwältigende Schönheit.
»Eindeutig eine poetische Inspiration«, verkündete Sir William. »Die Franzosen werden nie auf die Idee kommen, daß es sich nicht um Margaret de Vilers handelt.«
»Es geht wirklich«, sagte Sir Hugo und schöpfte wieder Hoffnung. »Es muß gehen. Gilbert kann mich retten. Er hat Theologie studiert. Er weiß, was da zu tun ist. Wenn er meine furchtbare Not sieht, wird er mir sagen, wie ich erlöst werden kann. Er ist mein Bruder – Brüder müssen sich doch helfen, oder? Meine Seele! Kein Gold der Welt gibt mir meine Seele wieder. Die unverzeihliche Sünde – das Wahre Kreuz, Gott steh mir bei. Wenn ich doch nur gewußt hätte – nicht eine Nacht habe ich seit jenem furchtbaren Tag geschlafen. Es muß gehen, ehe ich vollends dahinschwinde und sterbe.«
Das Mädchen tat so, als wäre sie taub wie ein Möbelstück, denn genau das war sie hier in aller Augen. Da sie nun die prächtigen Kleider hatte, warum ausgerechnet jetzt weiter auf ihrem Vorteil bestehen.
»Pilgermäntel«, sagte Sir William. »Darin reist Ihr sicherer, wenn Ihr erst einmal das Hauptquartier des englischen Heeres in Bordeaux verlassen habt. Niemand darf argwöhnen, daß Ihr Lösegeld mit Euch führt. Das hat schon so manchen das Leben gekostet.«
»Was auch immer ich anhabe, mir wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn ich erst in der Fremde bin. Hier ersticke ich noch, eingesperrt mit dieser unfruchtbaren, jammernden, spindeldürren Frau.« Sir Hugo triefte jetzt vor Selbstmitleid, statt lediglich gequält dreinzuschauen.
»Also gut«, sagte der alte Lord. »Abgemacht. Wir können unser Versprechen einlösen, das wir diesem Fray Wie-war-doch-noch-sein-Name gegeben haben. Binnen eines Monats erhält dieser französische Graf das Lösegeld für Gilbert aus der weißen Hand der schönen Margaret de Vilers.« Er schüttelte den Kopf. »Interessant, der Mann. Ziemlich abstoßend. Hübscher, kleiner Hengst, den er da ritt. Aber viel zu klein. Für Mönche und Damen geeignet, diese Zucht. Kein Pferd für einen Mann.« Dann wechselte er zu Französisch und wandte sich an seinen Sohn: »Denk daran, dort so schnell wie möglich aufzubrechen«, ermahnte er ihn. »Vergiß nicht, er hat es offensichtlich auf die Frau abgesehen. Sobald du Gilbert hast, bediene dich deiner List und verschwinde, solange der Franzose noch mit ihr beschäftigt ist.«
»Selbstverständlich, Vater. Das versteht sich von selbst«, antwortete Hugo.
»Mein Gott, wenn ich doch in dem prächtigen, französischen Chateau eine Fliege an der Wand sein und zusehen könnte, wenn du mit der Schlampe da ankommst«, sagte Sir Hubert und fing an zu husten, denn zum Lachen reichte seine Kraft noch nicht.
Vermutlich gibt es Menschen, die zum Seefahrer geboren sind, und das ist auch gut so, denn wie würde der Rest sonst zurechtkommen? Damit meine ich, woher sollten wir zur Fastenzeit Heringe erhalten oder Waren aus fernen Ländern, wenn einige Menschen nicht so hirnverbrannt wären, statt an Land lieber auf den salzigen Meereswellen zu leben? Was mich angeht, also, wenn ich das Meer vor meinem Aufbruch gekannt hätte, ich wäre auf die Seereise ungefähr genauso erpicht gewesen wie Master Kendalls Geist. Doch jetzt war es natürlich zu spät.
Bruder Malachi hatte uns eine Überfahrt auf einer Kogge verschafft, die Waren und die letzten Pilger dieses Jahres zum englischen Seneschall nach Bayonne brachte. Das Schiff jedoch, welches im Hafen so groß gewirkt hatte, schien auf dem offenen Meer um einiges zu schrumpfen und tanzte und hüpfte so besorgniserregend, daß ich die meiste Zeit der zweiwöchigen Reise an die Reling geklammert verbrachte und mein Essen von mir gab, ehe ich daraus Nutzen ziehen konnte. Und die ganze Zeit kletterten die Seeleute den Mast und die Wanten hinauf und hinunter wie Eichhörnchen und – ich traute meinen Ohren nicht – sangen dabei auch noch. Das meine ich mit einem geborenen Seefahrer.
»Komm, komm, Margaret, du bist ganz und gar ungerecht. Der Ozean inspiriert die Dichter. Außerdem ist es doch weiß Gott nicht schlimm gewesen. Ei, wir haben während der ganzen Überfahrt günstige Winde und ein Meer so glatt wie ein Badezuber gehabt. Und du hockst ewig unter Deck und weinst. Komm hoch und rieche die Seeluft. Besser noch, leiste Hilde und Sim und mir heute abend Gesellschaft, wenn wir die Sterne betrachten. Sie sind hier noch schöner als an Land.«
»Sterne? Abend? Dann ist es ja dunkel. Angenommen, ich stolpere und falle über Bord? Oder angenommen, in der Dunkelheit kommt eine große Welle und spült mich wegen meiner Sünden von Deck? Alles nur Wasser, gräßliches Wasser mit Wellen, und ich kann nicht einmal schwimmen, und die Fische würden mich ganz auffressen, und ich habe meine Kinderchen verlassen, und – und – würde mir ganz recht geschehen – aaooo –« Und schon heulte ich wieder los, und dabei war Malachi so bezaubernd und beredt wie nur möglich. Natürlich machte ihm die Seefahrt nichts aus. Sein Gesicht blieb rosig, statt grün anzulaufen wie meines und das der anderen Pilger. Als mein angeblicher Beichtvater machte es ihm einen Heidenspaß, jedermann an Bord seinen geistlichen Beistand anzubieten, ganz gleich, ob er nun gefragt war oder nicht. Am Ende mußte Mutter Hilde eingreifen und er davon ablassen, denn die Vorstellung, sie könnte schallend loslachen und ihn damit verraten, trieb sie an den Rand des Wahnsinns.
Doch selbst ich wurde wieder guten Mutes, als die langgezogene, graue Uferlinie am Horizont auftauchte und die Pilger sich an der Reling aufstellten und jubelten. Bald darauf segelten wir in die Mündung eines trägen, schlammigen, grünen Flusses mit wilden Dünen – alles herrliches, herrliches festes Land –, die sich zu beiden Seiten erstreckten. Langsam ging es den Adour hoch, bis wir um eine große Biegung kamen und in der Ferne in der hellen Herbstsonne am rechten Flußufer die dicken, gelben Steinmauern und die funkelnden Turmspitzen einer Stadt ausmachen konnten. Wir näherten uns dem Hafen und sahen über der Stadtmauer die gedrungenen, dräuenden Türme der Festung aufragen, deren gelbe Steinmauern nicht dazu passende niedrige, rosafarbene Ziegeldächer hatten, von denen die Wimpel des englischen Seneschalls und seiner Hauptleute flatterten.
»Du liebe Zeit, das sieht mir aber gar nicht wie England aus, Malachi«, bemerkte Mutter Hilde mit zufriedener Miene.
»Das spürt man auch – denn um diese Jahreszeit hätte die Sonne bei uns nicht soviel Kraft«, antwortete Malachi und streckte seine Gliedmaßen wie eine glückliche Pflanze, die ihre Blätter dem Licht entgegenreckt. Aber als ich sah, wie das Schiff vertäut wurde, wich meine ursprüngliche Freude, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, langsam einem bedrückenden Gefühl, das nicht einmal die Sonne vertreiben konnte. Ein stehender, kleiner Fluß, der nach Abfällen stank, schlängelte sich mühsam durch die Stadt, ehe er versuchte, sich im Hafen mit dem majestätischen Adour zu vereinen. Einige der Schiffe, die neben uns dümpelten, sahen mehr wie Kaperschiffe denn wie Kauffahrteischiffe aus. Dunkle, verboten aussehende Soldaten gingen auf dem Kai zwischen Kisten mit Gänsen und Warenballen auf und ab, mit denen man ein fremdländisches Schiff belud, und traten nach verdächtig aussehenden Gegenständen. Es gefiel mir gar nicht, wie sie über das ganze Schiff schwärmten, Landegebühren verlangten und uns mit dem abschätzenden Blick von Räubern musterten. Ein rauher Ort, soviel stand fest, diese Stadt zwischen Meer und Bergen. Und wenn das hier die beste war, wie war es dann wohl um die schlimmste bestellt?
Wir erklommen die schmalen Straßen zur Kathedrale und mußten uns von Schweinen, beladenen Eseln und betrunkenen Söldnern anrempeln lassen, die uns den Weg versperrten. Rings um uns unverständliches Straßengebrabbel und Flüche; die Menschen gestikulierten; ein Gascogner wurde von jemand geschubst und zog sein langes Messer. Mein Gott, wie sollte ich Gregory wohl in einem Land voller feindseliger Fremder wie diesen hier wiederfinden?
Doch als ich mit Hilde auf dem kleinen Platz vor dem Kathedralenportal verzweifelt auf unserem Gepäck hockte, tauchte Malachi aus dem dämmrigen Kirchenschiff mit einem kleinen Mönch im Schlepptau auf und war bester Dinge. Er hatte für uns in einer Pilgerherberge einen guten Raum gefunden. Diese quetschte sich zwischen die hohen Häuser der Rue Mayour, und der Mönch war Bruder Anselm, welcher sich in der Gesellschaft des Abtes von Corbigny auf dem Weg nach Compostela befand.
»Jetzt haben wir alles, was wir brauchen«, verkündete Malachi fröhlich, »und obendrein reisen wir noch mit einer bewaffneten Eskorte.«
»Zehn stämmige, bewaffnete Mönche, ein halbes Dutzend Pilger, zwei davon Ritter, die unterwegs zu uns gestoßen sind«, verkündete Bruder Anselm, »und drei Mönche wie ich. Doch ich muß schon sagen, daß die Gebete der Heiligen gegen diese gottlosen, baskischen Räuber, von denen die Berge hier nur so wimmeln und die einen Menschen für einen halben sou umbringen würden, ganz zu schweigen davon, was sie Frauen antun, mehr wert sind als hundert Schwerter«, sagte er und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Aber Eurer Dame und Herrin passiert schon nichts. Was auch immer geschieht, ihre Seele ist des Himmels gewiß, wenn sie auf dem Weg nach Compostela in der Begleitung so heiliger Menschen den Märtyrertod erleidet.«
Wie schön, dachte ich. Ein heiliger Märtyrertod. Das passende Ende für diese unselige Reise. Doch Bruder Malachi schien das überhaupt nicht zu stören, er machte sich auf den Weg, um unsere Seeausrüstung zu verkaufen und für den langen Marsch in die Berge Maulesel zu erstehen.
Doch an diesem Abend kehrte er ganz staubig und mit leeren Händen in die Herberge zurück. »In der ganzen Stadt gibt es kein Maultier und keinen Esel mehr«, verkündete er beim Abendessen an dem langen Tisch im Gastraum der Herberge. »Die Gesunden haben die Engländer mit auf den Feldzug genommen, und die Lahmen sind im Frühsommer allesamt an Pilger verkauft worden. Leider werden wir zu Fuß gehen müssen.«
»Und so dem Beispiel unseres Herrn nachfolgen«, unterbrach ihn Bruder Anselm, bekreuzigte sich und richtete unter blassen Brauen den Blick gen Himmel, den er gleich über den niedrigen, verräucherten Balken der Decke zu sehen schien. Er saß neben Bruder Malachi und uns gegenüber an dem Schragentisch vor dem Feuer. Bruder Malachis salbungsvoller Tonfall sagte ihm ungemein zu, und so schienen wir ihn denn auf Dauer am Hals zu haben. Er hatte uns bereits vieles anvertraut: Die Eiterbeulen, mit denen Gott ihn letztens zu Martini geschlagen hatte, der entfernte hochgeborene Vetter, den er hatte und der ihm eines Tages eine Anstellung beim Bischof von Pamiers verschaffen konnte, und die Sünden jeglichen Abtes von hier bis Byzanz, von denen er einen vollständigen Katalog hatte, die meisten davon jedoch zu pikant zum Wiederholen. Er war über Toulouse von Norden gekommen, wo er zur Pilgergesellschaft des Abtes in Richtung Spanien gestoßen war. Jetzt beugte er sich zu Bruder Malachi.
»Also, der Abt von Corbigny, der nächtigt auf dem Chateau wie ein Herr, schlürft erlesenen Wein und ißt weißes Brot und geht, anders als wir bescheidenen Leute in der Herberge, auf einem weißen Maultier mit roter Satteldecke und Zaumzeug mit silbernen Glöckchen auf Pilgerreise. Klingeling, klingeling, klingeling, den ganzen Weg von Toulouse bis hier. Ach, meine wunden Füße! Während ich im Staub hinter ihm herhumpelte, sagte ich bei mir ›Als ob dir die Pilgerfahrt nach Compostela etwas nutzen würde, du Heuchler und Zöllner!‹ Aber Ihr wißt ja auch nicht, was ich über Corbigny weiß. Ei, die behaupten gar, die Reliquien des Heiligen Leonhard zu besitzen und haben vom Gelde der Leichtgläubigen einen riesigen Schrein gebaut und ihren Tisch mit kostbarsten Dingen bestellt, wo doch die echten Gebeine schon immer in Noblac gewesen sind. Oh, sie sollten rot werden vor Scham, diese Mönche von Corbigny! Da haben sie doch tatsächlich einen Mann zum zweiten Mal getauft, und der war obendrein noch tot!«
»Du liebe Güte«, sagte Malachi, »ein Beschaffer von falschen Reliquien? Nicht zu fassen! Nein, wie schrecklich. Gott steh uns bei in diesen bösen Zeitläuften!« Und auch er bekreuzigte sich.
Ich konnte einfach nicht weghören, obwohl Hilde und ich uns auf Englisch unterhielten, denn der kleine Klosterbruder sprach ein anständiges Französisch, die Sprache des Nordens, und nicht den unverständlichen, südlichen Dialekt, in dem rings um uns am Tisch gebrabbelt wurde. Zu den Schiffsreisenden waren weitere Menschen aus Häfen und Städten in Frankreich gestoßen, eine Gruppe Deutscher, darunter ein ältlicher Ritter mit seinem Sohn, und die, welche unter dem Schutz des Abtes und seines Gefolges reisten. Unter letzteren befanden sich ein Kaufmann mit einer Geschwulst am Kopf, zwei Priester, von denen der jüngere ein Schweigegelübde abgelegt hatte, und mehrere Mönche aus verschiedenen Orden – der letzte davon unser geschwätziger Bruder Anselm. Dauernd mußte er vor jedermann, den er erwischte, seine Gedanken ausbreiten, und so hörten wir in den Tagen vor unserem Aufbruch alles über die barbarischen Sitten der Navarresen, deren Sprache wie Hundegebell klingt und die einen Franzosen wegen seines letzten Hemdes umbringen würden.
»Oh, das sind böse Menschen, diese Basken und Navarresen im Gebirge«, sagte Bruder Anselm dann wohl. »Das Liber Sancti Jacobi übertreibt durchaus nicht, wenn es sie häßlich und übelwollend, unehrlich, falsch und betrunken heißt.« Ich wünschte von ganzem Herzen, er würde gehen und jemand anders in Angst und Schrecken versetzen.
Am Abend vor unserem Aufbruch stöhnte ich, als Bruder Anselm uns bei Tische fand und sich unaufgefordert zu uns setzte.
»Ja, ja, Bruder Malachi, Ihr und die gute Frau hier und ihre alte Amme, Ihr werdet also zu Fuß gehen, ich jedoch reite von Ostabat an auf einem schönen Maultier nach Spanien hinein. Überlegt es Euch gut, ehe Ihr Euch wieder rühmt, der Schlauere zu sein.«
»Ach? Wie das?« nuschelte Bruder Malachi mit vollem Mund.
Bruder Anselm beugte sich vor und flüsterte: »Die beiden Priester da, die mit mir von Toulouse gekommen sind – der eine mit dem Schweigegelübde –, ich habe gehört, wie sie sich heimlich unterhalten haben. Und das kann ich Euch sagen – ich habe so meine Zweifel, ob sie überhaupt Priester sind, obwohl der alte Mann da von früh bis spät psalmodiert. Die tragen das gelbe Rad, doch das haben sie für die Reise abgelegt. Der junge – der ist eine Frau mit kurzgeschnittenem Haar. Vermutlich seine Frau. In Ostabat verrate ich sie für die ausgesetzte Belohnung und erstehe ein Maultier.«
»Ei, wie schlau von Euch. Ich muß zugeben, dieses Mal habt Ihr mich geschlagen. Aber wir messen uns ein ander Mal, Bruder Anselm. Jetzt versucht Euch an diesem Rätsel –« Bruder Malachis Gesicht wurde keineswegs unfreundlicher, als er Bruder Anselm seinen ganzen Wein in den Becher goß und ihm gestattete, jedes Rätsel, das er kannte, zu lösen. Nachdem wir das rückgratlose Geschöpf schnarchend am Tisch gelassen hatten, sagte er förmlich und elegant: »Dame Margaret und Mistress Hilde, morgen brechen wir in aller Frühe auf, ich darf Euch also zu Euren Räumen geleiten.« Doch an der Tür gebot er uns Schweigen und befahl uns, die Tür zu verriegeln. Etwas später hörte ich ihn heimlich an die Tür klopfen und stand auf und ließ ihn ein, denn Mutter Hilde schlief fest.
»Bruder Malachi, was habt Ihr draußen im Dunkeln gemacht? Man hätte Euch umbringen oder die Wache hätte Euch schnappen können«, wisperte ich grimmig. »Und was wäre dann aus uns geworden?«
»Sie sind fort, Margaret, und ich schöpfe neue Hoffnung. Maulesel! Ha! Würde diesem Bruder Anselm ganz recht geschehen, wenn er zu Fuß bis ins Fegefeuer laufen müßte.«
»Sie? Dann waren sie –«
»Natürlich. Mann und Frau, und kein gelbes Rad weit und breit. In Ostabat hätte man ihnen einen schlimmen Empfang bereitet. Aber als sie mir erst glaubten, sprudelten sie nur so über von Informationen. ›Ihr könnt nicht zufällig Hebräisch?‹ fragte ich sie. ›Ich bin auf der Suche nach Abraham, dem Juden, dem berühmten Gelehrten, damit er mir ein sehr – hm – schwieriges, heiliges Buch übersetzt, das ich erworben habe.‹ Der Mann lächelte – das erste Lächeln an diesem Abend. »Abraham, der Jude? Der ist schwer zu finden. In Frankreich überhaupt nicht. O nein. Nicht mehr seitdem man die Juden beschuldigt hat, sie hätten die große Pestilenz verursacht und sie mit Feuer und Schwert vertrieben hat. Und Spanien? Dort auch nicht, da bin ich ganz sicher. Laßt Euch raten, geht nach Avignon. Dort haben die letzten Juden Unterschlupf gefunden. Papst Clemens höchstpersönlich hat zur Toleranz aufgerufen, und niemand hat das Edikt bislang aufgehoben. Geht an die päpstliche Universität zu Avignon und sucht Josceus Magister auf, denn der ist der größte Talmudgelehrte, der diesem Königreich geblieben ist. Eigenartig, nicht wahr? Der letzte Tempel im ganzen Land steht im Schatten des Papstpalastes. Wenn Josceus nicht mehr lebt, dann findet Ihr dort Gelehrte zuhauf. Viel Glück. Und nun Lebewohl, Bruder. Leider müssen Gertelotte und ich heute bei Dunkelheit reisen.‹ Jetzt beflügelt mich neue Hoffnung. So nahe! So nahe am Ziel! Nur ein kleiner Umweg, um Gilbert zu holen, und dann – das Geheimnis der Geheimnisse!«
Als ich mich wieder ins Bett legte, spürte ich, daß er nicht schlief, sondern hellwach dalag und ins Dunkel starrte.