Kapitel 7
Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich eine rauchige Decke über mir wanken und schwanken, hörte einen Hund jaulen und spürte, daß mir eine lange, rauhe, feuchte Zunge das Gesicht leckte. Irgendwo im Raum sagte eine Stimme: »Kein Zweifel, wer das ist. Das beweist das Buch, welches wir neben ihr gefunden haben: Seht Ihr die Initialen? M. K. – das ist sie; selbst ohne die rothaarigen Mädchen und den Hund bestünde kein Zweifel daran.«
»Immer auf der Suche nach Beweisen, was Robert? Wieso hast du nur die Juristerei aufgesteckt? Du hast eine Ader dafür.«
»Immer das gleiche alte, traurige Lied, Nicholas. Kein Geld. Ohne Magistertitel, nur mit einer Ader, wie du es nennst, kommt man nicht weit. Außerdem hat mich Gott zu Höherem auserkoren, als über muffigen Gesetzestexten alt zu werden.«
»Vermutlich sagt dir Altwerden in Schenken eher zu?«
»Klar, wenn andere für mich zahlen. Trinken wir noch eins auf Sir Edward, den lieben, kleinen Grünschnabel, und auf das Vermögen seines nachsichtigen Vaters.«
»Besser noch auf den Grafen selber!«
»Hipp, hipp, hurra!« erklang es aus vielen Kehlen, Bierkrüge schepperten aneinander, und dann hörte man es gurgeln, als die Krüge geleert wurden. Aus einem anderen Zimmer kam gedämpft das heisere Lachen einer Frau. Eine Schenke? Und wenn, dann eine übel beleumdete.
»Also, ich muß jezt los, Robert. Im Gegensatz zu dir betreibe ich ein Geschäft. Laß mich wissen, wenn du wieder Hilfe brauchst.«
»Wann hätte ich wohl keine Hilfe gebraucht, Nicholas? Möge Gott es dir hundertfach vergelten, daß du dein Brot mit einem Faß ohne Boden teilst.« Weiteres Geschepper und Gegurgel. Dann ein ausgiebiger Rülpser.
»Aha, jetzt habt Ihr die Augen aufgeschlagen, Mistress Margaret Kendall. Merkt Ihr was? Ich kenne Euch. Das macht meine gute Beobachtungsgabe. Durch Eure geschwätzigen, kleinen Mädchen, die jetzt stockbesoffen unter dem Tisch schnarchen, weiß ich sogar, daß eine Belohnung auf Euch ausgesetzt ist. Was führt eine reiche, dumme Frau wie Euch bloß in so eine gefährliche Gegend wie die hier?«
»Gregory. Ich habe Gregory hier gesehen. Sagt mir um Gottes willen, wo er sich versteckt. «Ich war immer noch zu schwach, als daß ich hätte aufstehen und mich umsehen können, woher die Stimme kam.
»Bruder Gregory? Der ist nicht mehr hiergewesen, seit er mit der reichen Kaufmannswittib durchgebrannt ist, die er unterrichtet hat. Mit Euch, um genau zu sein. Nicht zu fassen. Praktisch ein Grabschänder. Was für ein Streich! Rasch! Drastisch! Hat halb London ausgestochen – sogar meinen kleinen Grünschnabel –, alle, die Master Kendalls Vermögen in die Finger bekommen wollten. Aber ist er etwa zurückgekommen und hat mit seinen Freunden geteilt? Ihnen zur Feier seines neuen Wohlstands ein, zwei Ale spendiert? O nein, das Geld hat ihn so rasch hochfahrend gemacht, daß er sich nicht mehr hat blicken lassen. Einmal habe ich ihn aus der Ferne auf einem prächtigen Roß in der Nähe des Gerichts gesehen. Von Kopf bis Fuß ein Edelmann, fürwahr, so ritt er neben zwei Rittern in vollem Kriegsschmuck – einem alten und einem jungen. Blickte weder rechts noch links, wie ein Mann, den man zum Schafott führt. Ich rief ihn an, er jedoch hörte mich nicht. Und hier waren wir Busenfreunde, auch wenn der Hirnrissige sich für den Nominalismus stark machte. Wieviele Male habe ich ihn wohl zum Essen eingeladen, wenn er pleite war, der treulose Hund? Und so habe ich mich gerächt. Ich habe eine zotige Ballade auf ihn gedichtet. Die wird er so schnell nicht wieder los, die macht ihn überall zum Gespött. Und das, wo er immer Würde für drei gepachtet hatte – ich bin sicher, sie treibt ihn genau in diesem Augenblick an den Rand der Verzweiflung.«
Auf einmal war ich so wütend, daß meine Kräfte zurückkehrten. Ich setzte mich auf der Bank auf, und da drehte sich die rauchige Schenke mit der niedrigen Decke um mich. Ich erblickte einen Mann im abgewetzten Scholarengewand mit mehreren ineinander verschachtelten Gesichtern. Er saß auf einer Bank auf der anderen Seite des langen Schragentisches, welcher vor der Bank stand, auf die man mich gelegt hatte. Rings um ihn drängten sich andere, neugierige Gesichter, doch das galt mir gleichviel.
»Ihr seid das also gewesen. Ihr habt Euch all die häßlichen Lügen ausgedacht – und einem Toten die Ehre abgeschnitten. Ihr solltet Euch schämen. Schämen, hört Ihr! Damit habt Ihr nur einen gekränkt, nämlich mich – denn ihm ist Euer gräßliches Lied schon nicht mehr zu Ohren gekommen, Ihr neidischen Aasgeier, Ihr.«
»He, das sind aber starke Worte. Ich bin auch der Mann, der Euch gerade in der Gosse aufgelesen hat – gratis und franko – und Euch noch nicht einmal den ganzen Schnickschnack gestohlen hat, den Ihr vorn in Eurem Gewand bergt.«
»Das war wohlgetan – ein Stück des Schnickschnacks ist nämlich vergiftet«, murmelte ich, und der Kopf sank mir auf den Tisch.
»Nein, nicht schon wieder. Kopf hoch, trinkt etwas, und dann erzählt, was Euch hierhergeführt hat.«
»Ich habe ihn gesehen – Gregory –, wie er durch die City ging, und bin ihm bis hierher gefolgt. Und dann habe ich seinen Todesschrei gehört. Er kam von weither. Es – es war gräßlich. Jetzt weiß ich, daß ich einem Geist gefolgt bin und daß er auf ewig verloren ist, und ich kann nicht einmal neben ihm ruhen, wenn auch meine Zeit gekommen ist. Und ich habe so fest daran geglaubt, daß er rechtzeitig zur Geburt seines Kindes zuhause sein würde. Allen habe ich erzählt, daß er nicht tot ist und daß ich ihn finden werde. Man hat versucht, mich einzusperren, aber ich bin ausgerissen. Ich habe gesucht und gesucht. Mit allen heimkehrenden Kapitänen und Soldaten habe ich gesprochen. Mein Gott, wie konnte es nur so weit kommen!« Und schon wieder legte ich den Kopf auf die Arme, doch dieses Mal um zu weinen, bis ich keine Luft mehr bekam.
»Kommt, kommt, Ihr dürft nicht so weinen. Nicht, wenn Ihr ein Kind erwartet, das tut nicht gut.« Sie umringten mich, und ich fühlte, wie man mir unbeholfen den Rücken klopfte. »Erzählt uns die ganze Geschichte.«
»Es – man hat ihm angeboten, für den Herzog von Lancaster zu schreiben. Eine – eine Chronik –« Ich hörte, wie ihnen der Atem stockte, jemand pfiff durch die Zähne und sagte: »Was für ein Gönner! Solch eine Gelegenheit bietet sich einem nur einmal im Leben!«
»Und Chroniken nehmen kein Ende – im Gegensatz zu Oden«, hörte ich die erste Stimme, die des Balladensängers, voller Bedauern sagen.
»Aber dazu mußte er nach Frankreich – die Idee stammte vom Herzog. Eine neue Art von Chronik, vor Ort geschrieben.« Ich hob den Kopf von den Armen. »Ich habe ihm gesagt, er soll einfach hinterher, wenn die Gefahr vorbei ist, die Aufschneidereien der anderen sammeln, aber das wollte er nicht.«
»Hmm. Unklug. Ja. Ungesund, das Klima in Frankreich dieser Tage –« brummte die Männerrunde.
»Er hat nämlich gesagt, es ginge nicht anders. Der Herzog hatte ihm mein Erbe gesichert, und nun stand er in seiner Schuld. Und dann gibt es auch noch so ein Gesetz – wer ein sicheres Einkommen hat, muß Heeresfolge leisten –«
»Ja, ja. Gefangen. Wie die Taube im Netz. So schnappt man sich heutzutage Gelehrte.«
»– Ja, Geld und die Pflicht – Köder und Vogelleim.«
»Wer hätte das gedacht? Keiner von uns war so frei wie er. Geld und Frauen sind eine Falle für jeden Mann, so hat er immer gesagt – und er hat recht gehabt. Oh, Verzeihung, Mistress –«
»Seit der Belagerung von Verneuil ist er vermißt –« Sie nickten ernst. »Aber ich hatte noch Hoffnung. Die Herolde haben seinen Leichnam nie gefunden. Zwar ist auch keine Lösegeldforderung eingegangen, aber ich habe gewußt, ich habe einfach gewußt, daß er noch am Leben ist – und jetzt –« Ich wischte mir die Augen mit dem Ärmel.
»Ihr solltet Eure Zeit nicht im Hafen verschwenden, Mistress, da gibt es zuviele Frauen in Schwarz. Wißt Ihr, wo Ihr seid?« fragte der Scholar in der ausgefransten Oxfordrobe.
»Ei, das hier ist in ganz Europa der zweitbeste Ort, wo man nach einem Verschwundenen suchen kann – der beste ist Paris, doch dahin könnt Ihr im Augenblick schwerlich reisen.«
»Ihr seid hier im Eberkopf, Mistress – ehem – ach, wie lautete übrigens Bruder Gregorys Nachname? Hatte er einen?«
»Keine Ahnung. Einfach Bruder Gregory, darunter lief er hier.«
»Ich glaube, so etwas wie Scrivener.«
»Kam nicht ein de darin vor? Er tat immer so vornehm.«
»Er lautet de Vilers«, sagte ich.
»Fürwahr, ein alter Name. Von den de Vilers aus Lincolnshire?«
»Nein, die jüngere Linie aus Hertfordshire.«
»Na gut, Mistress – oder besser Madame – de Vilers, das hier ist der Eberkopf, hier erfährt man alles, was in der Christenheit den Klatsch verlohnt. Seht Euch nur um. Flamen, Deutsche, Lombarden, Gascogner – eine regelrechte Kakophonie von Nationen – und alle Magister des geschorenen Schädels. In diesem Raum hört Ihr mehr Latein als Englisch, denn in erster Linie sind wir allzumal Jünger der Minerva.«
»Minerva? Dann gehört die Schänke ihr?«
»Und uns allen, auch uns allen, Mistress Margaret, die Närrin, die einen Scholaren freite. Hier ist es nicht elegant, wie Ihr seht, aber die ambiance – darin kommt nichts dem Eberkopf gleich. Die Preise für Ale sind hier bescheiden, die für Frauen wiederum nicht. Wer kommt her? Seht Ihr den Kerl da drüben? Ein Mönch, der Wein für seine Abtei in Dunstable einkaufen soll. Er kehrt hier ein, lernt eine neue, derbe Ballade und verläßt uns mit der Kunde, daß in King's Langley ein Kalb mit zwei Köpfen geboren wurde. Die Kerle da drüben sind fahrende Sänger und eben vom Kontinent eingetroffen. Habt Ihr gewußt, daß abgefallene Kleriker die besten fahrenden Sänger abgeben? Das macht das Gesangsstudium. Wer sonst singt wohl so lieblich? Sie haben eine Geschichte über einen englischen Söldnerhauptmann mitgebracht, der eine Burg im Languedoc eingenommen, die Wittib gefreit und seinen Namen französisiert hat. Die Burschen da drüben beim Würfelspiel? Scholaren aus Padua und Montpellier. Unterwegs nach Oxford, doch hier kehren sie zuerst ein, weil sie hier alles erfahren, was sie wissen müssen. Die Kerle da, die mit den langen Gesichtern, über denen die dunkle Wolke von ut infras und lis iub iudices schwebt? Advokaten – richtige, nicht so welche wie ich. Aber niedrig gesinnt, sonst wären sie nicht hier. Sie müssen einfach alles über ihre Fälle gegen gleiche Münze ausplaudern. So haben wir denn alle gehört, wie Euer Schwiegervater durch Bestechung von der Anklage wegen Mordes loskam, nachdem er bei Eurer Entführung ein paar Leichen zurückgelassen hatte. ›Notwehr‹, daß ich nicht lache! Hat ihn auch ein hübsches Sümmchen gekostet – alles auf Euer Erbe geborgt. Der Schreiber, der die Dokumente aufgesetzt hat, speist nämlich auch hier.«
Es stimmte. Die Liedfetzen, das Gebrabbel in allen Ecken – alles Latein. Und trotz der bunten Vielfalt von fremdländischen Kleidern, Mönchshabiten und geistlichen Gewändern hatten alle im Raum etwas gemein: Jede Art von geistlicher Tonsur war hier vertreten. In einer Ecke stimmte eine Gruppe ein französisches Lied an, das gerade vom Kontinent herübergekommen war. Über dem Geklapper und Gebrabbel konnte ich Liedfetzen hören:
Ist's Rittersmann, ist's Federheld,
Sag an Lisette ,
Wer liegt dir besser bei im Bett?
Den Klosterbruder, Ihr versteht,
Den nehm' ich alle Tage wieder,
Der singt mir nächtens Liebeslieder,
Wo der Soldat nur kommt und geht –
Doch das ging unter in dem immer lauteren Gebrüll vom Tisch der Würfelspieler in der anderen Ecke.
»Einen Augenblick, Madame«, sagte mein Gewährsmann und verabschiedete sich mit einer schwungvollen Gebärde. »Dort droht Gewalt, und einer meiner Freunde ist betroffen.« Und schon mischte er sich mit noch ein paar Burschen unter die wogende Schar der Streithammel. Ich beugte mich vor, wollte nach meinen Mädchen sehen. Sie schliefen wirklich wie die Murmeltiere auf den verfilzten Binsen unter dem Tisch. Neben ihnen saß Lion wie eine ängstliche Kinderfrau.
»Falsche Würfel, bei Gott! Glaubst du etwa, damit kommst du durch, du lombardischer Hurensohn?« konnte ich in dem Grollen zorniger Stimmen ausmachen.
Eine Frau mit einem Stapel leerer Bierkrüge stellte diese auf den Tisch und sprach mich an.
»Es geht ihnen gut, den Kleinen da. Sind nur betrunken. Ich habe den Hund bellen hören und sie weinend in der Gosse sitzen sehen. Ich wollte draußen Spülwasser weggießen. Auf diese Weise habe ich sie gefunden. Dann hat Robert sich ein paar Burschen geschnappt und Euch hereingetragen. Die Mädchen waren durstig, aber hier gibt es nur Ale zu trinken – na ja, drei Züge, und schon waren sie weg wie ausgepustete Kerzen.«
»Seid Ihr Minerva?«
»Nein, ich bin Berthe. Die Schenke gehört mir. Hat mir mein Mann vermacht.«
»Die da haben gesagt, sie gehört Minerva.«
»Ach die – Spaßvögel, die ganze Sippschaft. Im großen und ganzen harmlos. Was man nur von wenigen Menschen behaupten kann. Sagt, seid Ihr hungrig? Könnte doch sein, Ihr seid vor Hunger umgefallen.«
»Nein, ich habe einen Geist gesehen. Aber durstig bin ich schon.«
»Einen Geist, äh? Davon schwirren dieser Tage viele durch die Gegend, aber ich kann sie Gott sei Dank nicht sehen. Also dann, Freibier für eine weitere Witwe, ich schicke Euch das Ale rüber – einen Augenblick –« und schon eilte sie in Richtung der Auseinandersetzung.
»Das hier ist ein ruhiges Haus, hört ihr!«
»Falscher Würfel, der Hundesohn – er hat mich ausgenommen.«
Noch lauteres Gebrüll in fremdländischen Zungen.
»Seht Euch das an – immer kommt dieselbe Seite oben zu liegen.«
»Präpariert, bei Christi Eingeweiden, und so schlau, daß man es nicht sehen kann.«
»Mpf, mpf, mpf!«
»Loslassen, nicht erdrosseln, hört ihr! In meinem Haus wird nicht gemordet!«
»Ich mache ein Sieb aus ihm.« Ein Messer blitzte auf.
»Nein, Jankyn, weg mit dem Messer, hast du nicht gehört? Kein Mord.« Das war Roberts Stimme, die übertönte das Stimmengewirr.
»Zieht ihn aus und setzt ihn vor die Tür!«
»Ja, gut so!«
Schreckliches Geschrei, während der Lombarde sich wehrte und doch so säuberlich gerupft wurde wie ein Hühnchen, dann warf man ihn zur Tür hinaus. Robert kehrte zu mir zurück, wo ich an dem Ale nippte, und wirkte sehr zufrieden mit sich.
»Nicht schlecht«, sagte er, »obwohl vier Mann dazu nötig waren. Zu solchen Zeiten fehlt uns Bruder Gregory. Der hätte den Mann ganz allein hinauswerfen können.«
»Er hat Falschspieler aus Schenken hinausgeworfen?«
»O ja, das und vieles mehr. Bei Bruder Gregory kam keine Langeweile auf. Und dann zitierte er Aquinas, nur um Salz in die Wunden zu streuen. Mein Gott, wie habe ich den Mann verehrt! Was für ein wählerischer, dünkelhafter, selbstgerechter Hund.« Ich sah ihn groß an. Er legte die Würfel auf den Tisch.
»Da«, sagte er, »mein Anteil an der Beute. Tut mir leid, daß es kein Geld ist. Nehmt sie als Opfergabe, als Entschuldigung. Tut mir leid, das mit der Ballade. Ich habe mich getäuscht, und ich möchte es wieder gutmachen. Geht jetzt nach Haus und lauft nicht mehr im Hafen herum. Ich stelle Nachforschungen an. Wenn er in irgendeinem christlichen Land lebt oder gestorben ist, ich höre bestimmt davon. Es gibt Menschen, die verschwinden spurlos, doch nicht ein Mann, der Verse schmieden kann wie Bruder Gregory. Seid versichert, irgendwo gibt es einen Schreiber, der von ihm hört, und davon kommt gewißlich Kunde in den Eberkopf. Jetzt sind wir quitt, nicht wahr?«
»Wir sind quitt. Ich nehme Eure Entschuldigung an.« Ich nahm die Würfel. Sie waren aus echtem Elfenbein und sahen wirklich einwandfrei aus. Keine Nahtstelle oder Ausbeulung irgendwo. Ich steckte sie in meine Tasche, in der sich kein einziger Penny befand.
»Wo wohnt Ihr? Ich begleite Euch und suche mir Hilfe, die Eure Brut abschleppt.«
»Ich wollte zu Master Wengrave, dem Paten meiner Töchter, ehe ich – ich dem – Geist folgte.«
»Zu dem Ratsherrn? Der wohnt weit von hier. Aber Ihr solltet Euch nicht einreden, daß es Bruder Gregorys Geist war.«
»Aber – wer sollte es denn sonst sein? Und warum sollte der hierher kommen – wo er sich für gewöhnlich aufhielt? Früher jedenfalls, da hatte ich die Hoffnung –« Mich schauderte bei dem Gedanken an die hochgewachsene und aufrechte Gestalt, die in der Wand verschwunden war.
»Kommt, kommt, so dürft Ihr es nun wirklich nicht aufnehmen. Schließlich habt Ihr keinerlei Beweise. Es kann irgendeine Erscheinung gewesen sein. Oder ein richtiger Mensch, und Ihr habt Euch geirrt, weil er die Kapuze hochgeschlagen hatte. Und was die Stimme angeht, so könnte es eine Halluzination gewesen sein. Gram treibt nämlich jeden in den Wahnsinn – nehmt es als gutes Zeichen, daß Euch irgendetwas zu uns geführt hat.«
Komisch. Ich sah, wie sich sein Mund öffnete und schloß, und doch kam seine Stimme wie von ferne, und sein Gesicht hatte jetzt etwas Güldenes, Verschattetes, so als wäre es mit mattgoldenem Licht gemalt. Zwar war sein Gesicht das eines eher gewöhnlichen, sauber rasierten Mannes in den Dreißigern und gekrönt von schütterem, bräunlichen Haar, doch jetzt wirkte es mit seinen tiefen Falten interessant, so als offenbarte sich darin ein reicher und tiefgründiger Charakter. Auch der übrige Raum wirkte unnatürlich still, mich dünkte, das Gelächter und Geklirr käme wie durch Wolle gedämpft. Zwar sprachen und bewegten sich die Leute nicht schneller als sonst, doch anscheinend konnte ich auch die kleinste Einzelheit ihrer Bewegung sehen, so als ob ich rascher auffaßte und sie unendlich langsam wären. Auch die anderen Gesichter waren in dunkelgoldenes Licht getaucht. Gesichter, die auf der Straße nicht auffallen würden, waren unvergleichlich schön, einzigartig und faszinierend. Stille umfing mich inmitten des Trubels und hielt mich gefangen, während ich wortlos in ihre neu erschaffenen Gesichter blickte und sie die Mädchen aufhoben und mit mir auf die Straße traten. Die schmalen Gassen lagen ebenso still, und Menschen mit eigenartig erleuchteten Gesichtern kamen an uns vorbei: Fuhrleute und Stallknechte und Marktfrauen, Lehrlinge und Bäckerjungen mit Brotlaiben auf dem Kopf. Die Blätter an den Bäumen über den Gartenmauern schienen still und ekstatisch zu glühen, und selbst das Tor von Aldersgate, hoch und dämmrig, erstrahlte matt, so als ob die Hirne, die es ausgedacht hatten, noch immer darin wirkten.
»Verrückt«, hörte ich hinter mir einen Mann leise wie durch Wolle sagen, während ich ihnen an Master Roberts Seite den Weg zur Thames Street wies. »Sie starrt nur vor sich hin und sagt kein Sterbenswörtchen.«
»Na ja, ist doch verständlich, wenn man bedenkt, was sie erlebt hat.«
»Also ich, ich würde mich gewißlich nicht davonmachen wie dieser blöde Gregory, wenn ich solch eine Frau hätte. O nein, wenn ich einmal eine reiche Frau heirate, dann bleibe ich zu Hause und trinke mich am besten französischen Wein zu Tode.«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht – du wärst in kürzester Zeit wieder im Eberkopf, um uns Bären aufzubinden.«
Warum mußten sie über derlei nichtige Dinge reden? Sahen sie denn nicht, was mit der City los war? Lebendiges Licht malte und formte alles und kräuselte jegliches Ding mit sachten, seligen Wellen.
Bei Master Wengrave machte ein Wind, den es nicht gab, daß die Ratsherrnwimpel vor dem Haus erbebten und flatterten. Master Kendalls hohes Haus, jetzt meines und eine Hintergasse und einen Garten von Master Wengraves Haus entfernt, schien ein eigentümlich pulsierendes Innenleben zu führen. Die Fensterscheiben waren der Sicherheit halber herausgenommen und eingelagert worden, doch die Läden standen offen und atmeten ein und aus wie lebendige Kehlen. Die bleiernen Wasserspeier, die den Regen aus den Rinnen ableiteten, wirkten wie lebendig gefroren und ungeduldig, daß man sie erlöse. Als ich sie so anstarrte, kam Mistress Wengrave vor die Tür und bat uns ins Haus, und ich drehte mich um und sah, daß auch ihr Gesicht diesen satten, goldenen Schein hatte. Ich betrachtete es stumm und entzückt, und sie dankte Master Robert, übernahm die Patenkinder, ließ sie von zwei Knechten nach oben ins Bett tragen und gab der Küchenmagd, die kam und wegen des Abendessens nachfragte, ihre Anweisungen. Das Gesicht der Küchenmagd sah genauso aus – und ich hatte sie immer für ein einfältiges Ding gehalten.
»Margaret, möchtest du etwas essen oder trinken? Du siehst recht eigenartig aus. Bist du krank?« Ihre Stimme kam wie aus weiter Ferne.
Ich hörte mich sagen: »Ich habe so viel hinter mir … Gilbert de Vilers ist tot… ich muß… allein…«
Mistress Wengrave, die seit langem meine Nachbarin und meine Freundin ist, sah ernst aus, und ihr blühendes Gesicht unter dem güldenen Schein erblaßte ein wenig.
»Allein?« sagte sie. »Du solltest nicht allein sein. Nicht zu solcher Zeit. Komm, wir wollen für ihn beten, dann wird dir leichter ums Herz.« Und sie legte mir den Arm um die Schulter und wollte mich zur Hauskapelle schieben. Doch kaum hatte sie mich hineingeführt, da roch es angebrannt und klirrte ganz arg, was auf eine Krise in der Küche hindeutete. Mistress Wengrave hat eine Todesangst vor Feuer. Als Master Wengrave den oberen Stock seines Hauses umbaute und einen Erker anfügte, da bat sie ihn, eine Küche außerhalb des Hauses zu bauen. Er fand aber, die Küche, die sie hätte, sei gut genug, denn sie war ganz aus Stein, und es sei ohnedies bequemer, sie im Haus zu haben, schließlich wolle er kein abgekühltes Essen aus einer Küche außerhalb haben. Und so wachte sie denn immer mitten in der Nacht auf und vermeinte Rauch zu riechen und ging im Dunkeln um und sah nach ihren Kindern.
»Heilige Jungfrau Maria! Margaret, verzeih mir!« rief sie und entfloh. Doch ich nahm es kaum wahr. Die Kapelle der Wengraves ist ein winziger Raum zu ebener Erde, kaum groß genug für eine Familie, und besitzt das einzige Glasfenster im ganzen Haus. Die übrigen Fenster haben Rahmen mit gewachstem Leinen, die man bei gutem Wetter herausnehmen kann. Doch das Kapellenfenster an der Ostseite des Hauses, das die Morgensonne einfangen soll, war klein und daher nicht so teuer zu verglasen. Jetzt ging die Sonne fast schon unter, und das Fenster hätte dunkel sein müssen, doch es glühte, als spiegelte sich die neue Morgenröte darin. Rosiges, güldenes Licht wölkte herein wie Dampf. Der winzige Raum war unglaublich still; die Geräusche aus dem Haus rings um mich drangen wie durch einen Schleier herein – waren da und doch nicht da. Von fern kreischte eine Frau, Rufe nach mehr Wassereimern, dann eilende Schritte, alles wirkte gespenstisch gedämpft. Als ich die wogenden Lichtwolken betrachtete, vernahm ich eine kaum hörbare, stille Stimme in meinem Ohr. Sie sagte: »Margaret«, als wollte sie mich zum Zuhören auffordern.
Ich rührte keinen Muskel, damit sie nur ja nicht verschwand.
»Margaret!« sagte die Stimme erneut, jetzt ein wenig lauter.
»Du bist es. Ich dachte schon, Du hättest mich verlassen.«
»Verlassen? Ich verlasse niemanden. Schließlich bin Ich die Ewige Botschaft. Du hast nur nicht zugehört, das ist alles. Reden, ja; zuhören, nein.«
»Ich dachte, Du hättest mich verlassen, weil – weil –«
»Ich weiß. Darum bin Ich hier.«
»Ist es Sünde, so zu lieben? Ich meine, einen Menschen, einen Mann, nichts Göttliches? Ich versuche ja, an Himmlisches zu denken, aber ich sehe immer nur sein Gesicht.«
»Margaret, wer hat die Liebe erschaffen?«
»Ja, ach – hm –«
»Ich, Margaret. Liebe in ganz verschiedener Gestalt. Groß und klein. Das ist eines Meiner höheren Geheimnisse.«
»Geheimnisse?«
»Aber ja. Je mehr man gibt, desto mehr empfängt man. Im Gegensatz zum Wasser, das Ich gewöhnlich erschaffen habe. Wenn man es verschüttet, hat man nichts mehr. Wie langweilig wäre Meine Schöpfung wohl ohne Meine Geheimnisse.«
»Aber sie tut so weh. Hast Du sie so erschaffen, damit Du Deinen Spaß hast?«
»Margaret, du fragst Mich schon wieder aus. Schämst du dich denn gar nicht für deine Unverschämtheit? Die meisten Menschen würden jauchzen und lobsingen für soviel Erleuchtung. Doch nicht meine störrische, schwierige Margaret.«
»Tut mir leid.«
»Ich wollte dir etwas zeigen. Doch dieser Tage scheint niemand zuzuhören – nicht einmal du.«
»Es tut mir aufrichtig leid; jetzt höre ich zu.«
»Und du tust gut daran! Da sieh, was Ich alles tun mußte, damit du aufmerkst! Licht! Wolken! Stimmen! Demnächst verlangst du noch Gerüche und Himmelschöre! Wenn Ich dich nicht so sehr liebte –«
»O ja, wirklich?«
»Unterbrich Mich nicht immer, Margaret. Auch einer deiner Fehler.«
Unterdes war die Feuerpanik abgeklungen, und Mistress Wengrave stand in der Tür. Mit dem Außenohr konnte ich hören, daß sie »Psst« sagte. »Da ist noch jemand. Und Licht! Hat Margaret einen Einbrecher hereingelassen? Sie ist viel zu arglos.« Und jemand antwortete – wer, weiß ich nicht.
»Hast du schon einmal das Meer gesehen, Margaret?« fragte die Stimme.
»Nein.«
»Aber du kannst es dir vorstellen, nicht wahr?«
»Aber ja doch; viel, viel Wasser.«
»Und wenn du noch nie eine Spur Wasser gesehen hättest, könntest du dir dann ein Meer vorstellen?«
»Nein.«
»Und wenn du noch nie eine Spur Liebe erfahren hättest, könntest du dir dann Meine Liebe zur Schöpfung vorstellen?«
»Dann ist es also nicht unrecht? Daß ich ihn zu sehr liebe?«
»Liebe ist ein Teil Meines Schöpfungsplanes, Margaret. Da, sieh.«
Was dann geschah, läßt sich nur schwer in Worte fassen. Der Schmerz, der zu jeder Liebe gehört, wurde immer stärker, während der Raum sich weitete und immer schöner wurde. Dann ging er restlos in einer Art Meer aus silbrigem Licht unter, das vibrierte und pulsierte und sich rings um mich ausbreitete, so weit das Auge reichte. Das gesamte Universum, der Mond und die Sterne und alle Staubteilchen und die Welt und die Splitter und Stückchen, aus denen alles erschaffen ist, und Oben und Unten und Seitliches, all das tanzte vor lauter Freude. Mir war, als müßten mein Geist und mein Leib bei diesem Anblick vor Wonne zerspringen. Und dann barst ich in tausend Stücke. Ich schrie, während ich mich in dem tanzenden Universum verlor, bis ›Margaret‹ sich vollends in tausend Splitter zerteilte, und die vibrierten, so leidenschaftlich liebten sie und tanzten, tanzten – bis in alle Ewigkeit.
»Was ist dir, Margaret? Es hat ganz furchtbar geblitzt, wie bei einem Gewitter, und wir haben dich schon für tot gehalten.« Mistress Wengraves besorgte Stimme machte mich wieder heil und ganz. Aber immer noch spürte ich das Licht, und dabei konnte ich es gar nicht mehr sehen, auch wenn das seltsam klingt.
»Gregory«, sagte ich. »Ich werde ihn finden.«
»Gewiß, liebe Margaret, gewiß doch«, sagte Mistress Wengrave in diesem besonderen, nachsichtigen Ton, den man sonst nur für Kleinkinder und Wahnsinnige braucht.
Als ich in jener Nacht schlaflos im Bett lag, da entdeckte ich, daß ich alles hören konnte. Damit meine ich nicht alles im Zimmer, ich meine wirklich alles. Ich konnte die Mädchen atmen hören, die unregelmäßigen Atemzüge des kleinen Walter Wengrave, den im Zimmer nebenan Alpträume quälten. Er ist Mistress Wengraves Lieblingskind, wie es zarte Kinder häufig sind, und die vielen Nächte, die sie an seinem Bett gesessen hatte, während er nach Atem rang, hatten die beiden noch enger aneinander gebunden. Zweimal hatte ich ihn schon gerettet, und das hatte sie mir nie vergessen, obwohl wir es vor ihrem Kaplan geheimhalten mußten, der sehr strenggläubig war, wie auch vor ihrem Mann, der einen Ausbund an Frömmigkeit darstellte.
Jetzt konnte ich sogar die Geräusche aus entfernten Zimmern hören, so als ob sie nur ein paar Zentimeter von meinem Ohr entfernt wären. Ich hörte Holzwürmer im Gebälk kraspeln und oben im Haus die beiden kleinen Lehrjungen in dem langen Raum unter dem Dachfirst wispern, wo sie und die Gesellen in ein paar großen Betten schliefen. Und ich lauschte: Nebenan, in meinem eigenen Haus, konnte ich die Köchin mächtig schnarchen hören; darüber hatten wir uns früher immer so lustig gemacht. Ich hörte Katzen auf der Straße auf leisen Pfoten schleichen und ein paar Straßen weiter Ratten die Dachfirste entlanglaufen. Ein Hund bellte; in Schenken schwadronierten Männer, obwohl die Abendglocke längst geläutet hatte; die Wachen griffen einen nächtlichen Streuner auf, der seinem Kummer Luft machte, während man ihn ins Gefängnis schleppte. Ich konnte Paare hören, die sich im Dunkel liebten, und Pferde, die sich in ihren Boxen die Beine vertraten. Sogar noch die Fische im Fluß schwammen mit einem sacht gleitenden Geräusch.
Rings um mich herum wisperten im Dunkel die Stimmen der City. Konnte ich etwas von jenseits der Stadtmauer vernehmen? Ich strengte mich an und hörte einen Fuchs durchs Gras schnüren und den Flügelschlag der Eulen auf ihrer nächtlichen Jagd. Ich lauschte und lauschte, bis ich es hörte: das tiefe, fast unhörbare Summen, das die Erde selber machte. Dabei fiel mir etwas auf, und als ich diesem Summen eingehender lauschte, da hörte ich den knappen, hohen Ton, den meine eigene Seele machte. Töne von anderen Menschen fielen nach und nach ein und schließlich die zarten Töne der wilden Tiere und des Geflügels, und jeder hallte summend nach wie eine Glocke, lange nachdem sie geläutet wurde. Soviele Töne – solch ein sachtes Geläut im Dunkeln, und darunter wie der Baß einer großen Orgel das Summen von Mutter Erde. Das war Musik; ein großer Akkord, der das Universum erfüllte. Ein Gleichklang, der lauter wurde und wieder abschwoll und sich zu einem vibrierenden Lied auf nur einer einzigen Note vereinte. Doch es gab kleine Stellen, wo nichts sang, Stellen die mir falsch vorkamen. Und als ich so lauschte, hörte ich es in weiter Ferne: Einen Mißton, einen kaum hörbaren, schrillen Laut an der Stelle, wo das Lied abgebrochen war, so als wären die Sänger vor Entsetzen verstummt. Und was ich an jenem Ort in weiter Ferne vernahm, war unverkennbar Gregorys Stimme, die wie ein schwaches Echo aus der Tiefe zu mir schrie:
»Margaret!«
Ein eisiger Lufthauch von den hochragenden Granitfelsen jenseits der Burg fuhr in die Behänge an den Wänden des großen Rittersaals. Hinter Sieur Renaud d'Aigremont, Comte de St. Médard, kräuselte sich stumm ein Reigen bekränzter Jungfrauen, während dieser ein angeschmutztes und viele Male gefaltetes Blatt Papier aus der Hand eines knienden Dieners entgegennahm.
»Aha, das also hast du ihm abgenommen, Pedro?«
»Ja, Mon Seigneur, das war alles.« Der Graf bat den Dominikaner im schwarzen Habit neben dem Höfling mit einem Blick um Bestätigung. Das graue Gesicht mit den kalten Augen nickte stumm.
»Keine Reliquie, bist du dir da sicher?«
»Nichts, Mon Seigneur, kein Splitter, kein Knochen, kein Kruzifix oder Rosenkranz. Wir haben nichts übersehen. Nur dieses Papier, das er unter seinem Hemd barg.«
»Doch nicht etwa ein Gebet. Du weißt, daß mir dergleichen Unbehagen bereitet.«
»Nein. Nur ein gewöhnlicher Brief. Lest ihn doch selbst.« Der Sieur d'Aigremont begab sich zu einer Stelle unter einem hohen Bogenfenster, wo er mehr Licht hatte, und entfaltete den Brief. Ein Blutfleck war darauf. Er rümpfte angewidert die Nase.
»Ich möchte doch hoffen, daß ihr ihn nicht schlimm zugerichtet habt. Ihr wißt, ich mag es nicht, wenn ihnen vorher etwas zustößt. Dann halten sie nicht lange durch; denkt daran, ich habe es nicht gern, wenn man mich um meinen Sport bringt – insbesondere in diesem Fall.« Der Graf wirkte etwas gedankenverloren, als er sich an den anderen knienden Diener wandte und die Brauen leicht wölbte, so als wüßte er nicht recht, was der Bursche von ihm wollte.
»Die entremets, Mon Seigneur – für das Fest zur Begrüßung des Botschafters – ich sollte Euch deswegen fragen –« Der Diener hörte sich ängstlich an.
»Zwölf vergoldete, tanzende Knaben, und ein Schiff aus Pastetenteig auf Rädern – ich denke, ich habe mich letztes Mal klar genug ausgedrückt. Ich möchte Graf Gastons feuerspeienden Drachen übertrumpfen. Drachen – pah – geschmacklos. Typisch für ihn. Jetzt raus mit dir. Du störst.« Der Küchendiener verzog sich rückwärts unter devoten Verneigungen und murmelte: »Zwölf vergoldete Knaben. Mein Gott, woher noch zwölf Knaben nehmen? Vermutlich kann ich noch froh sein, daß er keine Jungfrauen haben will. Vielleicht Chorknaben aus der Kapelle –«
»Mon Seigneur, Eure Wünsche sind bis aufs I-Tüpfelchen befolgt worden«, warf der erste Diener ein. »Der Blutfleck kommt vom Nasenbluten. Wir haben ein halbes Dutzend Männer gebraucht, und einer hat ein gebrochenes Schlüsselbein davongetragen.« Die Züge des Grafen entspannten sich, so sehr freute er sich auf seine Kurzweil.
»Dann hat er sich also tüchtig zur Wehr gesetzt?«
»Wie ein Löwe.«
»Wunderbar. Je kräftiger das wilde Tier, desto edler der Sport – und desto befriedigender das Ende.« Der Graf entfaltete den befleckten Brief ganz ungewöhnlich anmutig für einen Mann mit seinen Pranken. Aber er war ja auch ein Kenner und tat sich viel auf sein erlesenes Feingefühl zugute. Ringe, zwei, drei an jedem Finger, hatten sich tief in das bleiche Fett der Gelenke eingegraben. Auf dem Handrücken schmälerte ein Anflug von borstigem Haarwuchs wie bei einem Eber die Vollkommenheit der glitzernden Edelsteine ein wenig. Einen Augenblick lang bewunderte er seine Hände, die den Brief hielten. Ich lasse sie mir rasieren, schoß es ihm durch den Kopf. Dann kommen die Steine besser zur Geltung. Er besaß alles, Feingefühl, Geschmack und Sinnlichkeit. Als er den Brief auf Französisch laut vorlas, streichelte er die Tinte, und das bereitete ihm einen köstlichen, orgiastisch-sinnlichen Genuß, gleichzeitig aber zogen sich seine Speicheldrüsen zusammen.
»Bezaubernd«, sagte er.
»Ich dachte mir schon, daß er Euch gefallen würde«, sagte Fray Joaquin.
»Und wie sagt ihm unser Verlies zu? Hat es schon zu einem Sinneswandel beigetragen?«
»Er brüllt durch das Gitter hoch, daß sich die Wahrheit nicht unterdrücken läßt und daß Ihr dagegen nichts ausrichten könnt, auch wenn Ihr Euch vor ihr versteckt.«
»Überheblich, überheblich wie eh und je. Eine Überheblichkeit, die seinem Stand nicht zusteht. Das kränkt mich, Fray Joaquin, habe ich Euch schon gesagt, wie lange mich das schon kränkt?«
»Ja, Mon Seigneur.«
»›Ich huldige Madames Elfenfüßchen‹ zählt zu meinen besten Werken, findet Ihr nicht auch?«
»Schön. Vollendet. Wem außer Euch könnte wohl etwas so Erlesenes einfallen?«
»Als mir zu Ohren kam, daß alle Studenten in Paris sangen ›Ich huldige Madames Trampeltritten‹, da wußte ich, daß ich einen Feind hatte.«
»Einen ohne Geschmack.«
»Einen Feind, den ich mir gefügig machen und alsdann vernichten mußte.« Sein Blick schweifte durch den Palas, wo eine Europa an seidenen Fäden sachte über einem großen Stier schaukelte. »Der Große Meister verweigert mir nichts. Ich brauchte die Bitte nur auszusprechen, und schon fiel er mir in die Hände – und das noch leichter als die Kleinen. Wie schön. Und kein Gebet, keine Reliquie, ja, nicht einmal der Name eines Heiligen schützt ihn. Wer möchte da wohl am Wirken des Großen Meisters zweifeln? Was soll ich mit ihm anfangen, Fray Joaquin?«
»Mein Hirn ist nicht so brillant wie Eures, Mon Seigneur. Schneidet ihm die Zunge heraus und verfüttert sie an die Hunde.«
»Hübsch, doch nicht hübsch genug. Zuerst möchte ich seinen Geist zerstören, den Geist, der sich über mich lustig gemacht hat – ehe ich den Rest zerstöre. Und er wird seine Zunge noch brauchen, wie sonst sollte er seine Erbärmlichkeit bekennen. Er soll mir sagen, daß meine Werke brillant und geistreich sind. Er soll verzweifelt nach neuen Lobpreisungen suchen, ehe ich ihm nach und nach den Rest gebe. Ich bin kein ungehobelter Mensch, Fray Joaquin. Nein, meine Rache ist kultiviert, feinsinnig, sinnlich – genau wie diese Blume.« Er hielt immer noch den Brief in der Hand, während er mit der anderen aus einer Messingschale unter dem Fenster eine Rose nahm und ihren Duft einatmete.
»Eine Rose – üppig und erlesen. Gänseblümchen sind geruchlos und bäurisch, findet Ihr nicht auch?«
»Natürlich, Mon Seigneur.«
»Taugen zu kaum etwas, außer daß man ihnen eins nach dem anderen die Blütenblätter auszupft, wenn man herausfinden will, wer einen liebt.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das kommt schon noch. Ich brauche eine Beschwörung. Wie die, welche ihn hergezogen hat. Messer Guglielmo soll den Großen Meister heute abend anrufen, und keine Ausflüchte dieses Mal.«
»Messer Guglielmo? Aber der sagt, er hat immer noch blaue Flecken von der letzten Begegnung, und die nächste könnte sein Ende bedeuten. Er sagt, Asmodeus könnte sich losreißen und zügellos über diese Welt herfallen.«
»Seine Schuld. Soll er sich bessere Helfer suchen. Wenn Arnaut nicht das Herz in die Hose gefallen wäre und er nicht das Paternoster gebetet hätte, dann hätte er ihn auch unter Kontrolle gehabt. So mußten wir einen ausnehmend guten Knecht opfern, mußten ihn aus dem magischen Kreis stoßen. Heute abend. Ihr werdet Asmodeus anrufen und eine Marguerite beschwören.«
»Eine was?«
»Diese bescheidene, kleine Blume hier, die sich im Gras verbirgt und nicht richtig schreiben kann. ›Ich lehbe für den Tack Äurer Heimkehr … ich küsse dieses lihbe Papier, da es Äuch meine Worte brinkt‹«, las er in gespieltem Falsett vor. »Ich will die Kleine haben, diese Margaret. Ich will ihr die Blütenblätter vor seinen Augen, eins nach dem anderen – ›sie liebt mich, sie liebt mich nicht‹ auszupfen. Geschieht ihm recht. Ja, geschieht ihm ganz recht. Auf diese Idee kann nur ein poetisches Gemüt wie meines kommen.« Alsdann zupfte der Sieur d'Aigremont der Rose die Blütenblätter eins nach dem anderen aus und roch an jedem, ehe er es auf den gemusterten Teppich fallen ließ. Seine Züge hatten jetzt einen Ausdruck verbindlicher Überheblichkeit angenommen, sein Lieblingsausdruck beim Beurteilen von frisch erworbenen Kunstwerken.
»Es ist nicht leicht, jemanden von jenseits des Meeres herbeizuzaubern. Es ist nicht dasselbe, wie einen Chorknaben aus der benachbarten Lehnsherrschaft zu locken.«
»Ich will sie haben.« Die schwarzen, gewölbten Brauen des Grafen zogen sich drohend zusammen, und eine gefährliche Röte stieg ihm in die Hängebacken seines derben Gesichtes.
»Aber ja doch, ja doch. Heute abend noch, genau wie Ihr wünscht.«
»Gut. Und bald. Ich warte nicht gern.« Auf einmal riß er der Blume alle restlichen Blütenblätter aus und warf den Stengel zu Boden.
»Auf bald, Margaret.« Seine vollen, sinnlichen Lippen teilten sich zu einem Lächeln, während er Blütenkopf und Stengel der Rose sorgsam mit seinem vergoldeten, spanischen Pantoffel zertrat.
»Mistress, da sind zwei verrufen aussehende Kerle an der Tür und wollen Mistress Margaret sprechen. Soll ich sie fortschicken? Wenn es nun Spitzel sind?«
»Einen Augenblick, Kat, haben sie ihre Namen genannt?« Ich blickte erwartungsvoll von meinem Stickrahmen auf. Mistress Wengrave und ich saßen im Söller, sie spann, und ihre beiden ältesten Mädchen säumten Bettlaken. Der Himmel war bedeckt, doch die kalte Luft war frisch und rein, denn der kräftige Wind, welcher die Wolken mitgebracht hatte, hatte auch den unangenehmen, feuchten Rauch der Kamine fortgeblasen. Durch die geöffneten Läden konnten wir hinten im Garten die Kinder beim Spiel kreischen hören, Cecily am lautesten von allen.
»Das ist meiner! Gib ihn mir sofort wieder, sonst spiele ich nicht mehr mit!«
»Pa, warum willst immer nur du bestimmen?« gab die Stimme eines kleinen Jungen zurück. Das war Peterchen, Mistress Wengraves dicker, kleiner Siebenjähriger.
»Weil ich die Klügste bin und alle Spielregeln kenne. Ohne Spielregeln kann man nicht spielen.«
»Kann man wohl! Aua! Sag deiner Schwester, sie soll aufhören zu treten!«
»Gib uns jetzt den Ball wieder!«
»Hol ihn dir doch!« Sie kreischten und juchzten.
»Ich hab ihn, Cecily!« Das war Walters Stimme. Und schon ging das Getobe weiter. Mistress Wengrave lächelte.
»Er ist jetzt soviel kräftiger geworden, Margaret. Was bin ich froh, daß er draußen spielen kann, anstatt den ganzen Tag am Feuer zu hocken.«
Kat trat an der Tür ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Einer der Männer sagt, er ist Robert le Clerc und hat den anderen mit einer Nachricht für Euch hergeführt.«
»Eine Nachricht!« rief ich, und der Stickrahmen fiel klappernd zu Boden, so schnell kam ich hoch.
»Ich bitte dich, Margaret, denk daran, was Master Wengrave gesagt hat. Lauf nicht allein zur Tür. Kat, schick zwei bewaffnete Knechte in die Diele, sie sollen neben ihr stehen, wenn du die Kerle hereinläßt.« Kat knickste und rannte davon.
Als man Robert und seinen Freund hereinführte, war mir klar, wieso Kat gezögert hatte. Robert selber sah noch ganz manierlich aus, auch wenn sein graues Gewand fadenscheinig war und seine Bruch ein Loch hatte. Es war sein Begleiter, der sie in tiefstes Erstaunen versetzt hatte. Seine Kleidung bestand eigentlich nur aus einem seltsamen und immer wieder geflickten Umhang, der mit Katzenfellen aller Rassen gefüttert war. Darunter schaute ein dunkles Wollgewand hervor, welches den Eindruck machte, als hätte es einst einem Gedrungenen und Dickeren gehört. Und einem Reicheren obendrein. Unter den Flicken konnte man auf dem schmutzigen Rock die Reste einer Stickerei in einem prächtigen, fremdländischen Muster ausmachen, die wie Verkrustungen wirkten. Ich kam zu dem Schluß, daß der Rock ursprünglich blau oder grün gewesen sein mußte, obwohl beide Farben kaum noch zu erkennen waren. Die Bruch des Mannes war unsäglich, darunter sah man Füße, die er mit mehreren Lagen Lumpen umwickelt hatte, als trüge er einen Verband. Kurzum, er sah wie eine Vogelscheuche aus.
Und sein Gesicht trug auch nicht zu einem besseren Eindruck bei. Ein grauer, ausgefranster Bart wuchs mit ein paar weißen Haarbüscheln zusammen, die rings um seinen Schädel stehengeblieben waren. Seine hellblauen Augen funkelten so eigenartig, als wäre er nicht ganz bei Trost. Seine Haut war rosig wie die eines Säuglings. Ein alter, irrer Säugling. Konnte so einer Kunde von Gregory bringen?
»Ihr seid Dame Margaret de Vilers, Gemahlin von Sir Gilbert de Vilers? Meine Botschaft ist nur für Euch bestimmt.« Er sprach Französisch.
»Ja, die bin ich«, erwiderte ich in dieser Sprache. Mein Herz fing an zu hämmern.
»Ich habe Euren Mann auf einem Fuhrwerk zusammen mit sechs anderen englischen Gefangenen gesehen, als man sie durch die Straßen von Orleans karrte. Die Leute bewarfen sie mit allem möglichen, und die Wachen teilten nach rechts und links Hiebe aus und riefen: ›Tut ihnen nichts, sie sind wertvoll‹, doch sie waren nicht mit dem Herzen bei der Sache.«
»Fahrt fort.«
»Mir wurde eine reiche Belohnung versprochen.« Er schwieg.
»Die bekommt Ihr, wenn Ihr zu Ende erzählt habt.«
»Sie meint es ehrlich«, warf Robert ein.
»Gerade bot sich mir eine schöne Lücke und schon wollte ich meinen Stein werfen, da hörte ich einen von ihnen – einen großen, verboten aussehenden, dunklen Kerl – Latein rezitieren. Ich kannte die Textstelle: Seneca. Ei, das kam gewißlich unerwartet – insbesondere von einem englischen Hundesohn. ›He, Bruder‹, rief ich in Latein, ›was tut Ihr da auf dem Karren, statt in einem gemütlichen Schulzimmer lateinische Sätze zu zergliedern?‹ – ›Das gleiche könnte ich dich in deinen Lumpen und Katzenfellen fragen.‹ Und ehe die Wachen mich verscheuchen konnten, sagte er, ich solle nach London reisen und Margaret de Vilers im Haus der Kendalls eine Botschaft des Inhalts bringen, daß der Comte de St. Médard, welcher König Karl von Navarra dient, seine Auslösung gekauft hätte. Er wäre auf dem Wege zum Chateau des Comte in den Pyrenäen. Da König Karl augenblicklich mit den Engländern verbündet wäre, meinte er, demnächst auf Ehrenwort freizukommen, doch ich sollte Euch die Botschaft überbringen und dafür reich belohnt werden. Das waren seine genauen Worte – ›reich entlohnten‹ Er blickte mich erwartungsvoll an.
»Weiter.«
»Reich, so sagte ich bei mir. Das Wort hast du schon lange, lange nicht mehr gehört. Also machte ich die Seereise als Pilger und bettelte mich die ganze Strecke von Dover bis hierher durch.«
Er lebte! Er lebte und kam heim!
»Wie lange ist es her, daß Ihr ihn gesehen habt?«
»Oh, mehr als einen Monat, direkt vor Mariä Himmelfahrt. Bettler reisen langsam. Also, was ist jetzt mit der Belohnung –«
»Mehr als einen Monat? Aber wieso ist er dann noch nicht daheim? Ist ihm unterwegs etwas zugestoßen?« Roberts Miene wollte mir nicht gefallen.
»Dame Margaret, ich glaube nicht, daß er unterwegs ist.«
»Was um alles wollt Ihr damit sagen?« Ich merkte, daß mich die Angst überkam. Soviel Hoffnung, und jetzt soviel Angst.
»Es stimmt, daß der Graf Lehnsmann von König Karl ist. Habt Ihr schon von ihm gehört? Nein? Das dachte ich mir. Nicht umsonst nennt man ihn Karl den Bösen. Er gehört nicht zu den Menschen, auf die Verlaß ist. Doch der Graf ist noch schlimmer. Unter Gelehrten genießt er einen schlechten Ruf. Ein Totenbeschwörer. Ein Alchimist. Man sagt, daß seine Besucher nicht immer zurückkehren; er gehört zu den Menschen, deren Gastfreundschaft ich nicht gern in Anspruch nehmen würde, obschon er beim niederen Adel als großer Edelmann gilt.«
»Aber Gregory kann Lösegeld zahlen. Männer von hoher Geburt werden doch immer ausgelöst.«
»Nicht beim Grafen.« Ich legte die Hand aufs Herz. Jählings fror mich.
»Man hat mir eine reiche Belohnung versprochen«, mahnte der Mann mit den Katzenfellen.
»Natürlich, Ihr bekommt ein Abendessen«, sagte Mistress Wengrave.
»Ihr glaubt doch nicht etwa, daß ich den ganzen weiten Weg für ein Abendessen gemacht habe. Ich bleibe kleben wie eine Klette, bis ich meine Belohnung habe.« Robert zupfte ihn am Umhang und versuchte ihn zum Schweigen zu bringen, aber er wurde immer aufgebrachter.
»Eine anständige Tracht Prügel, das ist deine Belohnung, wenn du dich nicht zu benehmen weißt, du Bettler.« Mistress Wengrave trug die Nase jetzt hoch.
»Nein, nein – das ist ungerecht. Er hat mir gute Kunde gebracht – wunderbare Kunde. Wenn Ihr mich begleiten wollt, so sollt Ihr Eure Belohnung bekommen. Aber Ihr müßt ein wenig warten. Das Geld ist in meinem Haus, ich muß es erst holen.«
»Was soll das heißen, Margaret? Diese de Vilers haben dir nicht einmal einen Hosenknopf gelassen, und obendrein können sie jeden Augenblick eintreffen und dich dort überraschen. Du weißt, was Master Wengrave gesagt hat. Es ist jetzt ihr Haus, und wenn sie dich erwischen, haben sie das Gesetz auf ihrer Seite. Bei den Mädchen ist das etwas anderes. Da hat er Rechte. Aber du bist eine Wittib.«
»Keine Wittib mehr; es gehört Gregory, und somit habe auch ich Rechte.«
»Keine, die einem Schwert Einhalt gebieten würden, Mistress Margaret«, mahnte Robert. »Aber ich muß schon sagen, diese Verwandten von Gregory hören sich geldgierig an. Kein Wunder, daß er nichts mit ihnen zu tun haben wollte.«
»Sie sind schuld, daß er jetzt in der Klemme steckt.«
»Nette Familie.«
»Finde ich auch – und ich habe das länger überdenken können als Ihr.«
»Schluß, Schluß damit. Ich habe nicht den ganzen weiten Weg gemacht, um mir Familiengeschichten anzuhören. Die Belohnung, Ihr habt es versprochen.«
»Also gut. Da Ihr nicht warten wollt –« Ich hatte gespürt, daß Master Kendalls kalter Schatten durch den Raum wehte. Wie stets stellte er sich ein, wenn eine Unterhaltung interessant zu werden versprach. Wurde es bei mir langweilig, trieb er sich in der Stadt herum, wo er bei alten Freunden herumschnüffelte, frühere Konkurrenten ausspionierte, seine Nase in Hurenhäuser steckte, seine Seelenmessen anhörte – und wehe, der Priester war nachlässig –, und sich im großen und ganzen weitaus mehr in alles einmischte als zu seinen Lebzeiten. Mangel an Beschäftigung hatte ihm schon immer schwer zugesetzt.
»Master Kendall?«
»Hierher, Margaret, auf die Bank am Feuer.« Und ich sah die geliebte Gestalt zu meinem Trost wie Nebel wölken.
»Ihr habt recht gehabt.« Ich spürte, wie die anderen mich anstarrten. Kat erschauerte und bekreuzigte sich, und Mistress Wengrave rang aufgeregt die Hände.
»Natürlich, Margaret. Ich würde dich doch nicht anlügen. Und jetzt willst du vermutlich das Geld haben.«
»Ja, ich brauche es. Reisegeld, Lösegeld. Und die ausstehenden Löhne für das Hausgesinde. Und jetzt noch dieser Kerl.«
»Wieso redet sie in die Luft?« Der Scholar wickelte sich enger in seinen Katzenfellumhang, denn ihn fröstelte.
»Psst. Haltet den Mund. Margaret ist nicht wie andere Menschen. Ihr hättet sie in Ruhe lassen und Eurer Wege ziehen sollen.«
»Nein, nein«, kam ich dazwischen. »Master Kendall ist nie knauserig gewesen. Dieser Mann soll seine Belohnung bekommen.«
Natürlich erstaunten sich alle. Wir nahmen zwei Knechte mit, daß sie Wache standen, und verließen Mistress Wengraves Haus durch die Küchentür. Es war zwar noch nicht spät am Nachmittag, doch die schweren Wolken eines aufziehenden Gewitters machten die Luft jählings dunkel und dumpf. Als wir durch den Garten und über die Gasse zwischen den Häusern gingen, legte Mistress Wengraves Gärtner die Hacke beiseite und schloß sich dem seltsamen Zug an. Oh, Mist, dachte ich, eine ganze Meute und Regen obendrein. Ich hielt meinen wehenden Umhang fest und blickte zum dräuenden Himmel hoch, wo schwarze Wolken wirbelten wie im Kochkessel. Mein eigenes Hofgesinde, das sich gerade unterstellen wollte, sah, wie sich das Tor öffnete, blieb stehen und schloß sich uns an. Das Grummeln des ersten Donners und die ersten schweren Tropfen veranlaßten uns, zu unserer Küchentür zu laufen. Die Köchin blickte erfreut auf, doch dann wurde sie ängstlich, als sie die Mienen der Knechte sah. Stumm ließ sie ihre Gemüsesuppe stehen, während der Küchenjunge die Messer im Stich ließ, die er gerade schärfte. Auch sie schlossen sich unserer gespenstischen, fast feierlichen Prozession an.
Vor dem Wandschirm, der die Küchentür von der Diele trennte, blieb ich stehen. »Wohin jetzt, Master Kendall?«
»Zunächst zur Feuerstelle; dort gibt es einen losen Stein.«
»Die Feuerstelle?« Die Diele lag dunkel und verlassen. Der Küchenjunge lief, daß er die Läden schloß, denn der Wind peitschte Regen durch die Fenster. Es roch nach modrigem Staub, und das Regengeprassel auf dem Dach machte alles noch unheimlicher. Wie anders war das zu Master Kendalls Lebzeiten gewesen, als es immerfort Girlanden und Feste und Kurzweil gab! »Wir brauchen eine Kerze«, sagte ich und starrte in das trübselige Dunkel.
»Mistress, ist das sein Geist, mit dem Ihr da redet?« Die Stimme der Köchin klang besorgt, als sie mir die flackernde Kerze brachte, die sie am Feuer in der Küche angezündet hatte.
»Aber ja, natürlich. Woher wißt Ihr das?«
»Wir haben uns schon gedacht, daß er wieder da ist. Eine ganze Weile war er fort. Es war so beruhigend, ihn in den Ecken zu spüren und ihn durch die Tür schweben zu sehen. Er war ein guter Herr, wir würden ihn jederzeit zurückhaben wollen. Aber wir haben gedacht, Ihr seht ihn nicht. Vor Eurer Abreise habt Ihr Euch nie etwas anmerken lassen.«
»Das hat sich jetzt geändert. Kommt. Er sagt, er hätte euren ausstehenden Lohn unter einem Stein an der Feuerstelle versteckt.«
»Oh, dann ist er tatsächlich fortgewesen.« Die Köchin schüttelte bekümmert den Kopf. »Sonst hätte er gewußt, daß diese furchterregenden Kerle, die Euch entführt haben, zurückgekommen sind und alle Platten hochgestemmt haben. ›Diese reichen Krämer haben immer Geld versteckt‹, hat der grimmige, alte Ritter gesagt. ›Ihr könnt mir glauben, ich habe genügend Städte gebrandschatzt. Sie sind sich alle gleich, ob nun Franzosen oder Engländer: Nehmt die Platten hoch‹.«
Nie zuvor hatte ich Master Kendalls Geist zornig gesehen, doch bei diesen Worten wirbelte er herum und raschelte beinahe so wütend wie die Weiße Dame, wenn sie einen Koller hat. Er machte soviel Wind, daß er die Kerze ausblies. Einige Leute, die ihn spürten, bargen den Kopf in den Armen; Mistress Wengrave betete ein paar Paternoster, und der Pferdeknecht bekreuzigte sich. Der Junge kam mit der frisch angezündeten Kerze zurückgerannt, und ich hielt sie hoch und spähte in die dunkel gewordene Diele. In ihrem Lichtkreis erblickte ich die Gesichter der sich drängelnden Zuschauer.
»Er läßt fragen, ob sie hinter der Täfelung nachgeschaut haben?«
»Nein, auf die Idee sind sie nicht gekommen. Als sie das Gold gefunden hatten, haben sie sich diebisch gefreut und sind abgezogen.« Der Donner rollte, und ich zuckte beim Krach eines herunterfahrenden Blitzes zusammen.
»Aber – Gregory, hat sich der auch diebisch gefreut?« Das Herz tat mir weh. War das nun das Ende, diese staubige Dunkelheit?
»O nein, Mistress. Der ist wirklich nicht wie die anderen; der hat ausgesehen, als ginge es zu einer Beerdigung.« Die Köchin schaute bei den Worten traurig drein, doch dann heiterte sich ihre Miene wieder auf. »Aber er hat mich nach meinem Vogel gefragt; er hat sich erkundigt, wie es meiner Schwester geht; er hat sich an meine lombardische Creme erinnert. Hat gesagt, daß es mir darin niemand gleichtut, nicht einmal der Koch des Herzogs höchstpersönlich! Fürwahr, er hat sich an alles erinnert! So ein zuvorkommender Mensch! Wer nimmt sich schon die Zeit, an jemanden wie mich einen Gedanken zu verschwenden, wenn er eigene Sorgen hat? Oh, das ist ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, und drinnen auch, denn darauf kommt es an! Also, ich kann ewig warten, bis Ihr mit ihm zurück seid, liebe Mistress, und alle anderen hier auch.« Will, der Hausverwalter, schloß sich ihr an, ebenso Bess und Tom und alle anderen. Alle nickten stumm und zustimmend. Die Augen wurden mir feucht. Für so gute Leute wie sie gab es immer Stellen. Nicht jeder hat soviel Glück mit seinem Hausgesinde wie ich.
»Master Kendall sagt, ohne Lohn könnt ihr nicht warten, laßt es uns also mit der Täfelung versuchen.« Stumm ergriff Robert le Clerc die Kerze und beleuchtete die nahtlos aneinandergefügte, vertäfelte Wand, während ich mit den Händen fühlte und auf das leise Geräusch in der Luft, nämlich Master Kendalls Stimme horchte. Nach seinen Anweisungen tastete ich die Einkerbungen und Vertiefungen ab, während die anderen wie gebannt zuschauten. Ich klopfte und fragte ihn um Rat, während ich die kunstvoll geschreinerte, kleine Geheimtür zu öffnen versuchte.
»Ah!« Die Zuschauer holten einhellig Luft, als mir ein Stück der Täfelung in die Hand fiel und dahinter ein dunkles, kleines Loch zum Vorschein kam.
»Da, Margaret.« Master Kendalls Stimme klang gelassen, obschon sie fast in dem neuerlich einsetzenden Regengeprassel auf dem Dach unterging. »Nimm die kleine Börse da rechts an dich, ohne sie aufzumachen, und steck sie dir ins Kleid. Wenn ich mich recht entsinne, enthält sie zehn, zwölf Goldflorin. Die wirst du für dich brauchen, doch leider dürfte es nicht genug sein. In der größeren Börse ist Silber. Öffne sie vor aller Augen und bezahle damit meine Außenstände. Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich nicht schon tot wäre, hielte man mich für knauserig.«
Ich griff mit der Hand tief in das Loch, bemühte mich, nicht an Spinnen zu denken und holte die größere Börse heraus. Während alle in Jubelgeschrei ausbrachen, versteckte ich unbeobachtet die kleinere. Doch als ich alles bezahlt hatte, blieb mir nur noch ein einziger Silberpenny. Wenn der nicht klein aussah, als er da auf meiner Hand lag. Es reichte nicht. Und die zwölf Florin reichten auch nicht, auch wenn sie aus gutem Gold waren. Selbst wenn ich ihn freikaufen könnte, dann nicht für diese Summe. Alles seine Schuld, was mußte er sich auch zum Ritter schlagen lassen. Das hat den Preis hochgetrieben. Allein bei dem Gedanken regte ich mich schon wieder auf. Man weiß doch, wie stolz Ritter auf ihr Lösegeld sind. Je mehr sie kosten, desto größer die Ehre. Ei, da gibt es doch Ritter, die ihr Lösegeld so hoch ansetzen, daß sie eine Ewigkeit nicht nach Hause können, nur damit sie sich bei ihrer Rückkehr nicht vor ihren Standesgenossen schämen müssen. »Ich bin ein großer Mann, setzt mich hoch an«, sagen sie. Und dann jagen und huren sie auf Ehrenwort mit ihren Kerkermeistern, die eher Gastgeber sind, während ihre Leute daheim knausern und borgen. Klar, wenn man meint, daß jemand das Lösegeld nicht aufbringen kann, dann macht man kurzen Prozeß mit ihm. So kommt diese Abmachung – wie die meisten dieser Sorte – wieder einmal den Reichen und nicht den Armen zugute.
»Es reicht nicht; ich brauche jemanden, der etwas von Geld versteht«, sagte ich bei mir, als ich die Münze in die Börse an meinem Gürtel tat.
»Wer wohl? Jemand von der Bank? Master Wengrave kennt einige sehr verläßliche.« Bei Mistress Wengraves Worten merkte ich, daß ich laut gedacht hatte.
»Nein«, sagte ich. »Leute von der Bank vergeben Anleihen, und mir würde kein Mensch auf der ganzen Welt helfen. Ich brauche jemanden, der Geld aus dem Nichts zaubern kann. Ich brauche Bruder Malachi.«
»Das läßt sich interessant an«, sagte Master Kendalls Geist, dessen Laune sich sichtlich besserte. »Margaret, du bist schon immer unendlich erfinderisch gewesen.«
Und so schickte Mistress Wengrave noch am selben Nachmittag einen Jungen durch den strömenden Regen zu Mutter Hilde, um herauszufinden, ob Bruder Malachi schon zurückgekehrt war. Und als sich der Junge dann vor dem Feuer trocknete, da frohlockte alles bei der Kunde, daß Bruder Malachi mit seinem Katzeninstinkt für behagliche Plätzchen mit Sim gerade eben vor dem Wetterumschwung eingetroffen war und von guten Nachrichten nur so übersprudelte.
»Bruder Malachi, Ihr seht also, ich stehe vor einem gewaltigen Problem. «Ich saß auf einer Bank an der Herdstelle und hielt die feuchten Schuhe und den dreckbespritzten Saum meines Kleides vors Feuer. Meine schmutzigen Stelzschuhe standen auf den Fliesen der Feuerstelle; Master Wengraves Knechte ließen sich auch beide trocknen und bemühten sich so zu tun, als lauschten sie nicht. Bruder Malachi hatte es sich auf dem einzigen Stuhl des Hauses mit einem großen Kissen gemütlich gemacht; Mutter Hilde und die kleine Bet saßen auf der Bank neben mir und zogen Apfelringe auf, während Ciarice zu ihrer Seite mit einem großen Korb neben sich auf dem Boden auf einem Schemel saß und ihre Flickarbeit beendete. In der Ecke, neben dem Holzstoß, säugte die Katze einen neuen Wurf Junge. Peter und Sim, die angeblich auf das Feuer unter einem neuen Experiment von Bruder Malachi aufpaßten, machten sich die Ablenkung zunutze, standen an der Tür und horchten. Kurzum, das kleine Zimmer, welches Hilde und Malachi ihre ›Diele‹ hießen, war gerammelt voll und roch nach feuchter Wolle und Kohlsuppe, wie gewöhnlich bei schlechtem Wetter.
Bruder Malachi hatte selbst soviel gute Neuigkeiten, daß ihm das Zuhören schwerfiel. Sein Gesicht strahlte rosig und rund vor Zufriedenheit, doch irgendwie schaffte er es, daß es bei meinen Worten lang und betrübt wirkte.
»Margaret, wieviele Male habe ich dir bereits gesagt, daß alles seine zwei Seiten hat? Ich entsinne mich noch, wie du auf genau jenem Fleck gesessen und geweint hast, weil der Bischof dich arbeitslos gemacht hatte. Und was geschah dann? Ei, der reichste alte Mann der ganzen Stadt machte dir einen Heiratsantrag und verschaffte dir eine Dauerstellung als Heilerin seiner Gicht. Da hast du es? Zwei Seiten! Das Unglück hat auch seine guten Seiten, man muß sie nur zu finden wissen.«
»Aber, Bruder Malachi, was ist, wenn nun in allem Guten auch etwas Unglück ist? So hat auch das seine zwei Seiten.« Bruder Malachis Miene bewölkte sich kurz, doch dann hellte sie sich wieder auf.
»Das ist einfach nicht möglich – denn alles Unglück hat wiederum sein Gutes. Du siehst also, man muß das Unglück einfach als Glücksfall betrachten. Und wo wären wir allesamt ohne die Glücksfälle des Lebens? Darum wird die Welt ja auch immer vollkommener.«
Mutter Hilde seufzte vor Freude. »Oh, Malachi, ich werde nie müde, dir beim Philosophieren zuzuhören. Habe ich ein Glück, daß ich mit dem klügsten Mann auf der ganzen Welt leben darf!« Sie ließ von ihrer Arbeit ab, stand auf und legte noch ein Holzscheit auf das Feuer unter dem Kochtopf, während Malachi unbefangen gestikulierte und seine Theorie weiter ausführte. Und während er das Gute und das Üble erläuterte und sich zu immer höheren Ebenen emporschwang, hob er auch die Arme immer höher, und seine Miene wurde immer heiterer. An der Stelle, wo er zwischen seinem bequemen Sitzplatz und Aufstehen wählen mußte, denn nur so konnte er die Hände für die weitere Veranschaulichung seiner Theorie von der Vervollkommnung der Welt richtig einsetzen, da zögerte er kurz. Er kam nur einen Zentimeter hoch, entschied sich jedoch für die Bequemlichkeit, wackelte mit den Fingern in Richtung der strahlenden Sternenkonstellationen zwischen den leuchtenden, rotbemalten Balken der niedrigen Decke, um uns unendliche Größe anschaulich zu machen, und fügte dann ein ›Und so weiter, und so fort‹ an, das seinen Diskurs beschloß, und ließ sich zufrieden auf den Stuhl zurückplumpsen, welcher genau unter dem Großen Bären stand. Das auffällige Rot und Azurblau und die nicht hierher passenden gemalten Sterne, die eher für eine Kapelle oder das Schlafgemach eines Edelmanns geeignet waren, gaben dem Zimmer ein überaus fröhliches und seltsames Aussehen und glichen darin Bruder Malachi selbst.
»Leider bin ich zu beschränkt für Eure Theorie, Bruder Malachi. Ideen, nur Ideen, und nichts davon anschaulich. Böses, das sich in Gutes verkehrt und dabei die Welt vervollkommnet – das ist mir zu hoch«, sagte ich.
»Dann nimm beispielsweise mich. Ich habe unterwegs geschwitzt und gelitten, um auf ehrliche Weise Geld zu verdienen. Der Maulesel hatte einen Stein im Huf, meine Füße waren wund, und Sim fing an zu fiebern. Da hast du das Böse. Das Gute: Wir waren in der Nähe von Southampton, wo mein alter Freund Thomas, der Apotheker, einer aus dem kleinen Kreis der wahren Philosophen und Sucher, mir noch Geld schuldete – wir würden also bei ihm unterkriechen. Ausgezeichnet! Wir kamen in sein Haus – alles in Trauer. Er war gestorben. Eine Tragödie. Und schlimmer noch, man hatte seine ganzen Gerätschaften verkauft, um seine Schulden zu begleichen. Keine Spur seiner Arbeit war übriggeblieben. Und dabei hatte er mich noch wissen lassen, er sei bis zum Pfauenschwanz gekommen. Kannst du dir denken, wie mich danach verlangte, seine zurückgelassenen Arbeiten zu sehen? Eine Tragödie – eine Tragödie erster Ordnung. Da hast du das Böse. Doch nun kommt das Gute. Nicht nur, daß seine Wittib und seine Tochter uns ihm zuliebe freundlich aufnahmen, nein, es stellte sich heraus, daß er mir in seinem Testament ein Buch vermacht hatte. Das Gute! Und warte nur, bis du das Buch siehst, Margaret. Es enthält den Traum meines Lebens.«
»Das Geheimnis der Geheimnisse? War er auch dahinter her?« Ich staunte nicht schlecht. Bruder Malachi legte den Finger auf die Lippen und lächelte.
»Ein wunderbares Buch. Er hat mir einen Brief hinterlassen. Anscheinend hatte er sich vergeblich mit dem Buch abgemüht. Er konnte kein einziges Wort entziffern. Und so hat er es mir vermacht, mir, dem größten lebenden Meister unserer Kunst, und das zur Begleichung seiner Schulden und um mir bei meiner Suche nach dem Goldrubin zu helfen. Wer hätte das von diesem übellaunigen, abgünstigen, alten Geizkragen Thomas gedacht? Seine tödliche Krankheit muß ihn wohl geläutert haben. Seine Frau, die ich beim letzten Mal in Lumpen und schwer schuftend antraf, trug ein neues Kleid, und seine Tochter hatte eine Mitgift, und selbst ich – einst Hauptgegenstand seines Neides –, selbst ich war großzügig bedacht worden. Ah, so läutern wir uns, wenn unser letztes Stündlein geschlagen hat.« Bruder Malachi schob eine kurze Pause und ein frommes Gebet für Thomas' Seele ein und fuhr dann fort: »Aber – im Glück schon wieder etwas Böses. Der gesamte Text ist unlesbar. Was, so könnte man meinen, soll daran gut sein? Ich plane auf der Suche nach einem Übersetzer eine glanzvolle und geistig bereichernde Reise ins Ausland.«
»Aber, aber – was wird aus Hilde? Und aus Eurem Haushalt?«
»Ei, das ist nun das Beste von allem – wenn Ciarice in ihrer Notlage nicht zu uns gekommen wäre, dann könnte sie jetzt auch nicht Hildes Geschäft weiterführen und sich um Peter und den Haushalt kümmern.« Ich sah Hilde an, doch die wirkte hocherfreut, dann Ciarice, und auch die nickte, als ob schon alles abgemacht wäre. Draußen hatte der Regen aufgehört, und wir hörten, wie die Läden in den ersten Stockwerken aufgerissen wurden, um frische Luft hereinzulassen, und wie die Frauen den vertraulichsten Klatsch mit lauter Stimme über die morastige Gasse austauschten.
»Meiner Theorie zufolge mußt du zunächst einmal dein Problem von allen Seiten betrachten«, sagte Bruder Malachi und sah mich dabei an. Er wirkte unendlich selbstzufrieden, denn jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, seine Theorie am lebenden Objekt auszuprobieren. Unter den feuchten Dächern schrillten die Stimmen. Irgendwo in der Gasse schnatterte eine Gans.
Ich blickte auf meine Hände. Gregorys Goldreif steckte auf meiner linken und der kunstvolle Ring vom alten Master Kendall auf meiner rechten Hand. »Das erscheint mir ziemlich schwer; man hat meinen Mann für tot aufgegeben, und wenn ich ihn nicht wiederfinde, kommt er vielleicht wirklich um. Sein Lehnsherr will mich mit einem anderen vermählen, sein Bruder will mich wegen des Vermögens, das mir Master Kendall hinterlassen hat, umbringen, und ich habe kein Geld, um ihn freizukaufen. Wo also soll ich anfangen?«
»Mir will scheinen, daß dir zwei Wege offenstehen«, sagte Bruder Malachi. »Einer ist leicht, einer ist schwierig. Beschäftigen wir uns zunächst mit dem leichten. Was fühlst du für ihn, Margaret?«
»Was meint Ihr damit?« Ein ausgedehntes, unbehagliches Schweigen folgte.
»Ich meine«, sagte Bruder Malachi, »ob du ihn liebst? Der einfachste Weg ist nämlich, eine Botschaft an den Hof des Herzogs zu schicken und ihm mitzuteilen, wo du zu finden bist.« Seine Augen blickten sehr schlau, wirkten ziemlich berechnend.
»Malachi!« Mutter Hilde war empört.
»Ich will keinen anderen Mann, falls Ihr das meint. Alle Welt scheint der Meinung zu sein, mehr braucht eine Frau nicht. Aber ich liebe nur ihn, und ich will ihn nicht aufgeben. Ach, wie ich mich nach ihm sehne! Was würde ich nicht darum geben, könnte ich ihn über Aquin nörgeln hören oder ihn in der Küche herumlungern sehen, wo er immer wie ein hungriger Wolf die Nase in alle Töpfe gesteckt hat. Er ist fortgegangen und als ein Anderer wiedergekommen, Malachi – hat nur noch von Ehre geschwätzt und wer wo sitzen und ob er sich ein eigenes Wappen zulegen sollte und ob er ein blödes – Kriegszelt kaufen sollte. Einfach nicht zu fassen. Und schlecht ist es ihm bekommen, wenn man den Ausgang bedenkt.«
»O weh. Das hört sich ganz und gar nach ihm an. Er mußte schon immer alles auf die Spitze treiben. Wurden in Bierschwemmen Verse geschmiedet, ei, da mußte er der beste sein – ha, ich entsinne mich noch, wie man ihn einst nach einem Sieg in einem Liederwettbewerb in einer Schenke durch die Straßen von Paris trug. War Metaphysik in Mode? Er sprach am flüssigsten über die quattuor causae. Dann hörte er von der Gottsuche. Ha! Er war der mystischste Mystiker, der mir je untergekommen ist – bis ihn selbst die Kartäuser nicht mehr haben wollten, der Himmel weiß, warum. Keiner konnte es mit ihm aufnehmen, wenn es um übertrieben zerlumpte Kleidung und Nachtwachen ging. Und jetzt macht er wohl in Rittertum.« Bruder Malachi lachte in sich hinein. »Kann mir schon denken, daß er ganz unleidlich ist. Ist er häufig, wenn er seine modischen Allüren auf die Spitze treibt. Doch offen gestanden, hat er – und dabei kennen wir uns schon lange – nie den Eindruck erweckt, daß er Familie hätte.«
»Ihr kennt euch lange? Ihr kennt ihn wirklich schon lange? Das habe ich nicht gewußt – er hat sich nie etwas anmerken lassen, wenn ich von Euch erzählt habe.«
»Von mir erzählt? Ach ja, diese Geschichte mit den Memoiren. Von allen Überraschungen des heutigen Tages dürfte wohl keine größer sein, als daß er möglicherweise doch die Wahrheit gesagt hat, als er erzählte, er hätte dich beim Aufschreiben deiner Lebensgeschichte kennengelernt. Wirklich, Margaret, wer hat dir bloß die Idee in den Kopf gesetzt? Du hast noch nicht lange genug gelebt, als daß du etwas zu sagen hättest. Nicht zu fassen. Und ich dachte, ihr hättet die ganze Zeit ein Verhältnis gehabt.« Bruder Malachi schüttelte den Kopf, als ob der Wunder dieser Welt kein Ende wäre. Das erboste mich doch sehr, und ich mußte mir auf die Zunge beißen, daß ich ihm nicht sagte, er wäre sehr ungerecht und niedrig gesinnt obendrein. Er sah den Blick und lachte.
»Sei ehrlich, Margaret – wer außer dir käme schon auf eine solch abwegige Idee? Man muß damit rechnen, daß die Menschen immer das Schlimmste annehmen. Und als du ihm von mir erzählt hast, da hast du wahrscheinlich nicht gewußt, daß ich, seit wir uns getrennt haben, einen anderen Namen angenommen habe. Das war vor geraumer Zeit, als ich meine Zelte sehr schnell abbrechen mußte –« Ein Anflug von Traurigkeit huschte über Bruder Malachis sonst so sonniges Gesicht wie eine Wolke, die rasch vorüberzieht. »Aber offen gestanden, ich staunte doch nicht schlecht, als er auftauchte und sich Geld borgte, um dich zu entführen. Schwafelte davon, daß er ein Pferd mieten wollte und so fort. Mein Gott, ich hatte ihn seit Paris nicht mehr gesehen, wo er unter dem nom de guerre Gilbert l'Escolier bekannt war und verleumderische, theologische Traktate und satirische Gedichte schrieb. Ein Mann von ganz einzigartiger Begabung, Margaret, die größte jedoch war, andere ins Unrecht zu setzen und selber recht zu behalten. Hochfahrend, unleidlich und geistreich wie Satanas – aber daß er genug für Frauen übrig hatte, um dich auf diese Weise zu entführen, darauf wäre ich nie gekommen. Und halb London ihm auf den Fersen! Unser Gilbert hat es noch nie geschafft, eine Stadt ohne Skandal zu verlassen. Habe ich dir eigentlich erzählt, wie man in Paris sein Buch verbrannt hat? Der Idiot! Erzählte mir, er hätte zwölf unwiderlegbare theologische Thesen dafür, daß alle anderen im Unrecht wären – und hat natürlich ausgeharrt und sich schnappen lassen. Weltfremd – ja, weltfremd und halsstarrig allewege, so ist unser Gilbert, der Selbstgerechte.«
»Mich dünkt, wir sehen ihn ganz ähnlich«, seufzte ich. »Aber wie bekomme ich ihn wieder?« Bruder Malachi blickte sinnend zur Decke.
»Ja, Margaret – das ist der schwierige Weg. Mir will scheinen, daß es für unsere gesamten Probleme eine einzige Lösung gibt: Ja – ja, wie einleuchtend. Natürlich sind da die Kosten – aber – hmm. Wieviele Florin, hast du gesagt? Zehn? Ja. Wir müssen sie vervielfachen, insbesondere wenn du mit uns kommen willst.«
»Oh, Ihr könnt sie vervielfachen – ich habe es ja gewußt. Könnt Ihr genügend herstellen, daß ich ihn freikaufen kann?«
»Nicht vom Comte de St. Médard, Margaret. Der ist abartig, und reich ist er bereits. Wahrscheinlich hat er irgendeinen lächerlichen Grund, warum er das Lösegeld noch nicht festgesetzt hat. Aber – und das kommt uns gut zupaß –, gib zu, Margaret, daß es ohne mich nicht geht – er ist uns, die wir auf der Suche nach dem Grünen Löwen sind, wohlbekannt. Ich denke doch, daß ich ihm einen Tauschhandel vorschlagen kann. Ich werde ihm genau das anbieten, was er unbedingt haben will, und dazu noch meinen Ruf, jedenfalls das, was noch von ihm übrig ist, in die Waagschale werfen. Hast du gewußt, daß ich einst hochberühmt war? Und wenn wir Gilbert wiederhaben, geht es heia-ho auf zu den großen Brennpunkten der Gelehrsamkeit und zu meinem Übersetzer.«
»Wie das, Bruder Malachi? Auf der Suche nach dem Grünen Löwen? Tauschhandel? Wieso bekommt Ihr übrigens keinen Übersetzer in England?«
»Ach, unsere kleine Margaret, die sparsame Haushälterin. Wie üblich durchschaue ich dich und kann all deine Gedanken lesen. Du denkst an deine letzten Florin, nicht wahr? Du denkst, ich lege dich herein wie einen Dorftrottel, einen Hinterwäldler? Als ob wir nicht schon so lange Freunde wären, Margaret, daß du eigentlich wissen solltest, in der eigenen Familie mache ich keinen Gebrauch von meinen Tricks? Ja – und du bist doch meine Familie, genau wie Ciarice und die kleine Bet hier. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn du uns für ein Leben in Glanz und Gloria verlassen hast.«
»Entschuldigung, Bruder Malachi. Das war wohl kleingläubig von mir. Ich habe zu lange mit Gregorys Verwandtschaft zusammengelebt.«
»Sehr gut, die Entschuldigung ist angenommen. Komm mit ins Laboratorium; ich möchte dir mein Buch zeigen, das dürfte der schlagende Beweis sein.« Er blickte zur niedrigen Tür des Hinterzimmers, und da bemerkte er auf einmal Sim. Mit Sim stimmt etwas nicht; obwohl ich ihn schon eine Reihe von Jahren kenne, ist er nicht weitergewachsen. Er ist immer noch so klein wie ein Achtjähriger, dabei dürfte er mittlerweile so zwischen zwölf und vierzehn sein. Sein Kopf ist groß und ein wenig mißgestaltet, er zeigt beim Lächeln Zahnlücken und hat die schlauen, dunklen, kleinen Augen eines Jungen, der sich auf der Straße durchgeschlagen hat. Er hängt an uns wie eine streunende Katze, nachdem wir ihm damals, vor langer Zeit, zu essen gaben, und klebt seitdem wie eine Klette an Bruder Malachi. Sim hat gelauscht und alles auf seine stille Weise aufgenommen.
»Sim, du Teufel! Warum paßt du nicht auf das Feuer auf? Wehe, es ist ausgegangen, dann kannst du etwas erleben! Der Himmel bewahre uns vor den Tricks fauler Lehrbuben!« Sim eilte vor uns ins Laboratorium und schürte das Feuer mit übertriebenem Eifer, während ich mich bückte und Bruder Malachi durch die offene Tür ins Hinterzimmer folgte. Mutter Hilde kam auch mit und schloß die Tür, damit die Knechte uns nicht hören konnten.
»Nicht, daß ich hier nicht landauf landab nach einem Übersetzer gesucht hätte«, sagte er und schnaufte, als er einen Bücherstapel von einer kleinen Truhe räumte, die versteckt in seinem Andachtswinkel stand. »Krakel, so habe ich bei mir gesagt, sieht mir nach Hebräisch aus. Damit gehe ich zur Universität Oxford. Da gab es doch einst einen gewissen Benjamin Magister, einen Juden, der hatte die Erlaubnis, in England zu bleiben, da er das Alte Testament übersetzen sollte. Der war tot. Trieb alsdann einen jämmerlichen Doktor der Theologie auf, der trug die Nase hoch und sagte, da das Alte Testament bereits übersetzt sei, brauchte man keine Juden mehr an der Universität. Pu! Ein schöner Gelehrter ist mir das! Habe Nachforschungen angestellt. Machte mich auf die Suche nach einem gewissen Isaak le Convers, der irgendwo in Sussex leben sollte, und fand am Ende seine ältliche Tochter – die konnte kein Wort entziffern.«
Malachi hob die kleine Truhe hoch und stellte sie behutsam mitten auf seinen Arbeitstisch. Während er nach dem Schlüssel suchte, fuhr er fort:
»Im ganzen Königreich habe ich gesucht, nichts habe ich unversucht gelassen. Am Ende war ich so verzweifelt, daß ich nach London zurückkehrte und mich zum Domus Conversorum begab, obschon alle Welt weiß, daß seit fünfundzwanzig Jahren kein Jude mehr zum Christentum übergetreten ist. Als der König damals die Juden auswies, brauchte man auch kein Haus für Konvertiten mehr. Nur daß sich der Kustos des Domus seit der Zeit ein hübsches Einkommen durch Vermieten der Zimmer verschafft. ›O nein‹, sagte der Kustos, ›ich habe doch nur meine Christenpflicht getan – ich habe einen spanischen Seemann in Vollpension hier, der möchte gern konvertieren‹ Ha! Wer möchte nicht gern seine Stellung behalten – insbesondere, wenn man sich dabei kein Bein ausreißen muß! Ich habe also fast einen ganzen Tag mit diesem Kerl verbracht, der sich Janettus von Spanien nannte. Er war wirklich Jude. ›Der Daus, das ist mir zu schwer‹, sagte der. ›Ich bin ein einfacher Mann und kenne nur ein paar Gebete – das hier steckt voller Rätsel. Ich kann kein Wort entziffern. Dafür braucht Ihr einen großen Übersetzer und Gelehrten, den größten auf der ganzen Welt. Ihr braucht Abraham den Juden.‹ Ich war Feuer und Flamme. ›Wo finde ich ihn?‹ ›Oh, der zieht durch die Lande. Als man mir von ihm erzählte, lebte er in Salamanca – aber es geht das Gerücht, daß er vom französischen König nach Paris eingeladen wurde, ein anderes will ihn in Montpellier wissen, vielleicht ist er auch auf Einladung des Papstes in Avignon.‹ Nebulös, vollkommen nebulös. Aber eines steht fest: Spanien oder Frankreich. Irgendwo steckt er. Und ich werde ihn finden. Ich ziehe ihn ins Vertrauen. Das Geheimnis – ich bin ihm so nahe, daß ich des Nachts aufwache und am ganzen Leibe zittere.«
Endlich hatte Bruder Malachi den Schlüssel aufgetrieben, er öffnete die kleine Truhe und holte liebevoll ein in gewachste Seide eingeschlagenes Paket heraus. Dann schuf er auf dem Tisch zwischen seinen Krügen und seltsam gefärbten Behältnissen aus spiralförmig wölkendem Rauchglas Platz und machte ihn mit dem Ärmel sauber. Ehrfürchtig legte er das Paket auf die freie Stelle. Hilde und ich beugten uns über den hohen Tisch, wir wollten ihm zusehen, wenn er die Seide aufschlug.
»Da, sieh dir das an, Margaret, dann begreifst du alles – und hörst auf, dich um das Schicksal deiner Florin zu sorgen. Natürlich müßt ihr beiden geheimhalten, daß ich es mit mir führe – insbesondere, wenn wir erst beim Grafen sind. Der bringt es fertig und sorgt dafür, daß ich auf dieser Welt keinen Gebrauch mehr davon mache. Manch einer von uns würde seinen Bruder um die Ecke bringen – nur um das in die Finger zu bekommen.«
»Von uns? Gewißlich würdet Ihr dergleichen nicht tun!«
»O nein, ich nicht. Aber mit ›uns‹ meine ich die ganze alchimistische Bruderschaft. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr einige meiner philosophischen Brüder außer sich geraten können. Die würden alles verkaufen, selbst ihre Kinder, würden mit jedem feilschen – einige sogar mit dem Teufel. Denen ist jede Methode recht, und wenn sie noch so widerwärtig ist. Du würdest staunen – Föten, Säuglingsblut, Jungfrauenschweiß –, was immer du willst, sie experimentieren damit! Hmpf! Ganz und gar nicht wissenschaftlich! Wie wollen sie zu Resultaten kommen, wenn sie einfach aufs Geratewohl arbeiten? Also ich, ich halte mich auf meiner Suche an die Zeichentheorie und an die Anleitungen der Alten Meister, welche um vieles klüger waren als wir. Nein, gleich vielen anderen brennen auch unter uns die Dummköpfe darauf, Gold herzustellen. Aber dennoch sind wir eine verschworene Gemeinschaft. Und das müssen wir auch sein – wenn Außenseiter von unserer Arbeit hören, lassen sie uns sehr oft entführen oder für Informationen ein wenig foltern.«
»Oh, ich hatte ja keine Ahnung. Ich habe gedacht, es ist gefährlich, weil es an Ketzerei grenzt.«
»Ach – das.« Bruder Malachi tat die Idee mit einer Handbewegung ab. »Einige sehen das so, andere wiederum nicht. An manchen Orten verstößt Goldmachen gegen das Gesetz. An anderen, wie in diesem Königreich, sagt der König: ›Je mehr Gold, desto besser; lassen wir sie doch arbeiten.‹« Es gab sogar einen Papst, der gehörte zu unserer Zunft, so wird gemunkelt. Aber es gibt rücksichtslose, geldhungrige Menschen, die alles darum geben würden, das Geheimnis der Transmutation in die Finger zu bekommen.«
»Offen gestanden, damit kenne ich mich auch ein wenig aus. An allem, was mir letztens zugestoßen ist, war irgendwie immer das Geld schuld. Die Transmutation ist offensichtlich noch schlimmer.«
»Genau. Aber wir sind ja nicht blöde – wir haben alles verschlüsselt. Wer nicht Adept ist, kann kein Wort entziffern. Wir haben Kennworte, geheime Erkennungszeichen und vieles andere mehr, wovon ich dir nicht erzählen will. Und wir Adepten beziehen uns nie direkt auf unser Tun – wir verwenden andere Begriffe. Einer davon ist »Sucher des Grünen Löwen‹. Wenn du bitte das Buch aufschlagen würdest, dann zeige ich dir auch, wieso.«
Malachi entfaltete das gewachste Tuch. Darin lag ein altehrwürdig aussehender, ledergebundener Foliant mit schweren Metallschließen, der mit Halbedelsteinen besetzt war. Er schlug das Buch auf, und da stieg mir ein scharfer Geruch nach altem Staub und vergessenen Laboratorien aus den vergilbenden Pergamentseiten in die Nase. Zwischen Zeilen mit verblaßten, unleserlichen Krakeln strahlten die immer noch leuchtenden Farben der wundersamen Illuminationen in altem Glanz.
»Oh!« Es verschlug mir die Sprache, so prächtig war es, so glitzernd und geheimnisvoll. Ich spürte, wie es mich anzog und lockte, so als besäße es ein geheimes Eigenleben.
»Spürst du es?« fragte Bruder Malachi. »Ich auch. Das ist das Buch mit dem Geheimnis der Geheimnisse. Es ist darin enthalten – ich weiß es –, und ich kann, verdammt und zugenäht, kein einziges Wort lesen.« Bruder Malachi hatte die Augen halb geschlossen und war in Träumereien versunken, was ganz und gar nicht seine Art war. »Es verschafft uns Träume. Es formt unser Schicksal«, murmelte er und liebkoste die Seiten, als ob sogar schon die Schrift die Macht hätte, Wärme zu vermitteln. »Da – das Ende meiner Suche. Und auch deiner, Margaret.«
»Aber wenn Ihr es nicht lesen könnt, woher wißt Ihr dann, daß es das Geheimnis der Geheimnisse enthält?«
»Durch die Illuminationen, Margaret. Sie sind der Code. Der Code der Alchimisten. Der Text erläutert ganz offensichtlich die Bilder und gibt Anweisungen, wie man zu den verschiedenen Stadien des Prozesses gelangen kann. Sieh her –« Er schlug aufs Geratewohl eine Seite vorn im Buch auf.
»Bruder Malachi! Das ist überhaupt kein Buch über Alchimie! Das ist ein Buch mit schmutzigen Bildern! Schämt Euch!«
»Nein, nein, Margaret. Ich habe doch schon gesagt, daß es ein Code ist. Das hier ist die mystische Vermählung von Sol und Luna – Sonne und Mond also. Das erkennst du daran, daß sie Kronen tragen. Die Sonne steht für Gold, der Mond für Silber – so wie Mars für Eisen und Merkur für Quecksilber steht. Jeder der sieben Planeten steht für eines der sieben Metalle. Sol muß Luna schwängern, denn nur so erhält man den Stein.«
»Den Stein der Weisen? Das schmutzige Bild hier gibt Euch Anweisungen?«
»Na ja, den Text brauche ich auch. Das Bild ist nicht deutlich genug.«
»Mich dünkt es recht eindeutig. Was ist mit dem da, wo sie nackt im Badezuber liegen und sich umarmen?«
»Das ist kein Badezuber, das ist eine Gruft.«
»Gut, dann bin ich eben darauf hereingefallen. Sie sehen so zufrieden aus, auch wenn sie mit der Krone auf dem Kopf baden.«
»Du solltest genauer hinschauen, Margaret. Der Code versteckt sich in den Einzelheiten. Wieviele Paar Füße siehst du beispielsweise?«
»Oh, wie abscheulich! Sie haben zusammen nur ein Paar. Pfui!«
»Das kommt daher, daß dieses Bild den alchimistischen Tod schildert. Sol und Luna müssen nach der Vermählung beieinander liegen und zusammen sterben, um als ein einziges Wesen aus vermischten Essenzen wiedergeboren zu werden – darum sind sie auch als Hermaphrodit abgebildet; bei näherem Hinsehen erkennst du, daß beide sowohl Mann als Frau sind. Sie müssen vergehen, wenn sie neu geboren werden wollen – der Vogel dort, das ist der Geist. Dann erst gebären sie die geistige Materie, und die gebietet über alle Elemente.«
»Aber da sind noch viel mehr Bilder – was bedeutet das hier?«
»Wenn ich das wüßte, wäre ich dem Geheimnis der Geheimnisse um vieles nähergekommen. Die Jungfrau wird von Schlangen gefressen. Das ist ja das Dumme an dem Code. Er läßt sich schwer entschlüsseln. Also, das hier am Ende, nach dem Pfauenschwanz, das bedeutet die Herstellung des Roten Elixiers oder Pulvers. Hinter dem bin ich her.«
»Elixier? Und ich dachte, es wäre ein Stein.«
»Nur sozusagen. In Wirklichkeit ist es ein rotes Pulver, ein trockenes Wasser. Ich habe andere Bücher, die da eindeutiger sind.«
»Oh, seht nur. Das hier ist ein Drachen.«
»Den Drachen da, den habe ich. Und der frißt tatsächlich Metalle. Ich habe ihn dort drüben in dem Glaskrug. Der würde sich durch alles hindurchfressen.«
»Ist er flüssig?«
»Selbstverständlich. Ich habe dir doch schon gesagt, es handelt sich um einen Code. Der Badezuber, wie du ihn nennst, ist mein Schmelztiegel.«
»Dann steht hier also alles drin? Das Geheimnis der Goldherstellung?«
»Nein, Margaret. Das Geheimnis der Transmutation ist viel größer, als einfach Gold herzustellen. Obwohl du es natürlich nutzen kannst, um aus unedlen Metallen Gold zu machen, wenn du willst – und deshalb sind die meisten so dahinter her. Die Transmutation gilt nicht nur für Metalle.«
»Soll das heißen, sie verändert auch andere Dinge?«
»Ja, man kann damit alles in etwas anderes umwandeln.«
»Aber jedes Ding ist es selbst und nichts anderes. Ein Topf ist ein Topf, und ein Löffel ein Löffel.«
»O ja, derzeit wohl. Doch der Topf war einmal Ton und wird eines Tages zu Staub. Und der Löffel war einmal Zinn, und wenn du ihn schmilzt, wird er wieder zu Zinn. Wenn du ihn erhitzt, wandelst du ihn um. Doch wenn du ihn immer weiter erhitzt und ihn überlistest, kannst du ihn in seine Grundelemente oder Essenzen zerlegen. Es gibt nur vier Elemente auf der Erde, vier Dinge, die unveränderlich sind: Erde, Luft, Feuer und Wasser. Daraus ist alles Übrige geschaffen, jedoch zu jeweils unterschiedlichen Anteilen vermischt, verstehst du?«
»Ich glaube schon – wie ein Kuchen. Man verrührt Zutaten in anderen Abmessungen und bekommt etwas anderes dabei heraus.«
»Ja, genauso, Margaret.« Bruder Malachis Gesicht hatte sich beim Reden verändert. Als schön konnte man ihn wirklich nicht bezeichnen. Frohgemut, aber nicht schön. Doch als er ernst wurde und die Arbeitsweise der Natur erklärte, da strahlte sein Gesicht Klugheit aus, und seine Liebe zu den geistigen Werten, von denen er sprach, machte ihn schön. Nun war mir klar, warum Hilde ihn liebte.
»Aber Kuchen verwandeln sich nicht. Sie werden lediglich schlecht. Aus einem Kuchen kannst du kein Gold machen.«
»Kuchen ist nicht aus Metall. Es ist dem Metall zu eigen, daß es nicht schlecht wird – und zu den Eigenarten des Kuchens gehört es, daß er sich auf diese Weise verwandelt.«
»Oder gegessen wird.«
»O ja, gegessen wird«, sagte er lächelnd und klopfte sich auf den Bauch, »doch das ist eine völlig andere Verwandlung.« Im Laboratorium roch es angebrannt.
»Oh, mein Kuchen verbrennt mir!« Mutter Hilde nahm hastig die Ellenbogen vom Tisch, denn sie hatte neben uns gelehnt das Buch betrachtet, und eilte zur Feuerstelle auf der Diele, wo sie feststellte, daß Ciarice das Kuchenblech bereits vom Feuer genommen hatte. Malachi ließ sich dadurch überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, angesichts der meisten häuslichen Katastrophen nichts Ungewöhnliches bei ihm.
»Verbrennen ist auch ein Verfahren, um Kuchen zu verwandeln – aber hast du dich schon einmal gefragt, warum sich Dinge verwandeln? Das will ich erforschen. Nicht das Was, sondern das Warum«, fuhr er fort.
»Wißt Ihr, warum?«
»Im großen und ganzen wissen wir alle warum, wir Alchimisten, doch gerade die näheren Einzelheiten wollen sich nicht fassen lassen. Es gibt nämlich noch eine fünfte Essenz – ein anderes Element.«
»Noch eines?«
»Ja, doch nicht auf der Erde. Hast du dich nie gefragt, woraus die Sterne gemacht sind? Sie verändern sich nie. Die Himmel sind aus einem ganz besonderen Stoff geschaffen – Astralstoff, der sich von allem hier auf Erden unterscheidet. Dir zuliebe vereinfache ich jetzt ein wenig, damit du es verstehst, doch ich weiß, daß du das kannst – Hilde versteht es auch. Dieser himmlische Stoff – von dem ist in jedem irdischen Ding ein klein wenig vorhanden. Nicht viel, eher wie die Prise Salz am Kuchen oder im Eintopf oder worin auch immer. Und doch ist es die Prise von der fünften Essenz oder Quinta essentia – oder Quintessenz, wie wir sie nennen – in einem Ding, die eine Umwandlung möglich macht. Kurzum, wenn ich aus irgend etwas die Quintessenz herauszuziehen vermag, kann ich sie auf jede Substanz anwenden, was wiederum bewirkt, daß ich diese zu ihrer höheren Form umwandle.«
»Aha – also verwandelt sich ein unedles Metall in Gold, denn das ist edler.«
»Genau. Doch das wäre natürlich nur eine einzige, sehr gewöhnliche Umwandlung.«
»O ja, das ist mir jetzt klar. Könnte man sie auch auf Menschen anwenden, Bruder Malachi?«
»Durchaus – hast du dich nie gefragt, warum Menschen dahinwelken und sterben? Der Stein der Weisen, den ich suche, würde die Kranken heilen, da Gesundheit einen höheren Menschheitszustand darstellt. Er würde die Alten verjüngen – ei, der Mensch könnte Tausende von Jahren leben!«
»Tausende von Jahren? Würde das nicht langweilig werden?«
»Nicht, wenn man auch den Geist umwandeln könnte – der erhabenste Geisteszustand ist Weisheit, Margaret. Die Menschen würden weise werden – in Tausenden von Jahren könnte man eine Menge Weisheit ansammeln.«
»Könntet Ihr sie auch gut machen, Bruder Malachi?«
»Na ja, das vermutlich auch.«
»Dann seid Ihr nicht wirklich hinter dem Gold her. Das ist nebensächlich.«
»So nebensächlich wie nur etwas, Margaret. Wer braucht schon Gold? Gut – ich, für meine Experimente, und damit ich Fleischkuchen oder einen Winterumhang kaufen kann, und darum will ich zuvörderst Gold machen. Doch Gold ist nicht wirklich wichtig. Nein, nicht im mindesten.«
Ich blätterte wieder um und betrachtete die rätselhaften Bilder. Fast ganz zum Schluß kam das seltsamste Bild von allen. Ein von oben bis unten grüner Löwe verschlang die Sonne.
»Seht nur, Malachi, hier ist Euer Grüner Löwe. Was tut er da, er verschlingt ja die Sonne.«
»Der Grüne Löwe. Fast zum Schluß. Er ist das Symbol der Transmutation, Margaret. Er läßt sich nur sehr schwer herstellen. Ich habe auch davon ein wenig in einem Kolben. Es gibt eine Methode – die Methode in diesem Buch, wenn ich es erst einmal lesen kann, wie man ihn dazu bringt, daß er Sol verschlingt – na, das solltest du jetzt wissen – wer ist Sol?«
»Gold, nicht wahr? Dann nehmt Ihr also Gold, um Gold zu bekommen?«
»Der Grüne Löwe ist von den Tieren der Umwandlung das mächtigste – mächtiger noch als der Drache. Nur er kann die Sonne verschlingen, das edelste und das einzige unveränderliche Metall, um dessen Quintessenz freizusetzen – den Stein, das Rote Pulver oder Elixier der Transformation. Das ist die Seite mit dem Geheimnis der Geheimnisse, Margaret. Dort steht es – dort bei dem Grünen Löwen.«
Ich zog den Umriß des Grünen Löwen mit dem Finger nach. Er hatte etwas seltsam Anrührendes.
»Ich muß ihn haben, Margaret, genauso wie du deinen Gilbert wiederhaben willst. Wenn du mir also gestattest, deine Florin umzuwandeln, so können wir dich mitnehmen. Es liegt ein Schiff im Hafen, das nach Bayonne abgeht, sobald der Kapitän genügend Ladung hat, und das dürfte keine Woche mehr dauern. Gerade ausreichend Zeit für die Vervielfachung. O nein – ich brauche nicht alle zehn. Nimm die beiden Florin hier und kaufe dir Pilgermantel, Hut und Stab und was du sonst noch mitnehmen mußt. O ja, du wirst an Bord dein eigenes Kissen und Decken brauchen, und kaufe auch Zwieback oder sonstwie Haltbares, damit du nicht hungern mußt, wenn es nur noch Pökelfleisch gibt. Ob sich Master Wengrave derweil um deine Mädchen kümmert, was meinst du?«
»Als ob es seine eigenen wären.« Ich spürte, wie mir der Mut sank. Eine Wahnsinnsidee war das. Meine kleinen Kinder alleinzulassen! In die Fremde zu ziehen, wo es nur fremde Menschen gibt, gräßlich! Doch wenn es sein mußte, dann nur mit Malachi und Hilde. Malachi spricht so viele Sprachen. Außerdem hat er etwas an sich, daß er an fernen Orten wie eine Katze immer auf den Füßen landet, und das macht ihn zum idealen Reisegefährten. Ach, warum konnte Gregory sich nicht selber nach Haus begeben, wie es sich für einen anständigen Menschen geziemt? Einen Grund – es mußte doch einen Grund geben, warum ich nicht reisen konnte.
»Aber, aber – brauche ich denn keine Reiseerlaubnis vom Bischof?«
»Selbstverständlich – und die bekommst du auch. Schließlich schreibe ich jeden Tag Ablaßbriefe für den Papst. Ein Brief vom Bischof ist ein Klacks. Ei, ich dürfte doch irgendwo noch einen Gipsabdruck seines Siegels haben.« Er durchstöberte eine Schachtel und trieb mehrere Gipsabgüsse auf, die er von Dienstsiegeln abgenommen hatte, darunter auch die päpstlichen Siegel, die er im Ausland in Metall hatte gießen lassen. »Es wird ganz amtlich aussehen. Margaret – de Vilers, nicht wahr? – hat die Erlaubnis, sich auf eine Pilgerfahrt zu begeben. O ja, ich reise doch nie ohne einen Beutel voller prachtvoll aussehender Dokumente.« Dann wurde er meiner Miene ansichtig.
»Was ist los, Margaret? Du und Angst? Ich habe dich schon für viel weniger über glühende Kohlen gehen sehen. Sieh mich an – Ich fürchte mich zu Recht. Ich werde nämlich alt. Ich liebe meine Bequemlichkeit und meine Hilde und mein gemütliches Zuhause. Aber wenn ich kein Narr bin und nicht umsonst gelebt haben will, muß ich den Grünen Löwen verfolgen, wohin auch immer er mich führen mag, selbst bis in den Tod. Und du, du behauptest, du liebst Gilbert und willst ihn wiederhaben. Doch wenn du zu ängstlich für das Wagnis bist,, dann sag es jetzt, und ich versuche es dir und meiner Freundschaft zu Gilbert zuliebe allein. Und dabei habe ich in derlei Dingen nicht einmal eine so glückliche Hand wie du. Sag an – willst du hierbleiben?«
Mir schwirrte der Kopf, er hämmerte. Es hämmerte wie der Huf schlag von Soldaten auf Verfolgungsjagd. Ich zögerte. »Ich – ich glaube – sie sind bei Master Wengrave ohne – ohne mich – sogar noch besser aufgehoben. Man könnte mich umbringen. Oder entführen und zur Ehe zwingen. Dann würde er dort sterben. Ich – nur ich – habe seinen Schrei gehört, niemand sonst. Nein – er braucht mich. Ich muß gehen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, so wahr mir Gott helfe.«
Tief unten in der Burg auf den zerklüfteten Felsen, in einem Geheimlaboratorium gleich über den Folterkammern, bebte Messer Guglielmo Petrini, Adept der Schwarzen Magie, Philosoph, Alchimist und zuweilen Dämonen- und Geisterbeschwörer, am ganzen Leib, so gereizt war er. »Asmodeus noch einmal anrufen?« übertönte seine aufgebrachte, schrille Stimme das stetige Knirschen und Keuchen eines riesigen Blasebalgs, den ein hünenhafter Stummer mittels eines Seil- und Flaschenzugsystems bediente. »Wofür hält er mich, für einen Schwachkopf? Ich habe ihm gesagt, es war absolut das letzte Mal – der Dämon wird zu stark.« Alles an dem kleinen Mann zitterte, das dunkle, kleingelockte Haar, die buschigen Brauen und der steife Bart, und selbst noch das Augenlid zuckte mitsamt dem linken Winkel seines höhnisch verzogenen Mundes. »Ich sage Euch, ich verdiene Respekt. Wenn er nichts als simple Zaubersprüche haben will, dann soll er sich an die Dorfhexe wenden, aber nicht an den berühmtesten Alchimisten auf der ganzen Welt. Wenn er rasch Gold haben will, so soll er seinen Beutel ein wenig auftun und mir anständige Gerätschaften und richtige Helfer beschaffen. Sechs maskierte Stumme! Nicht auszudenken!«
Damit tat er die Apparate, die überall im Geheimlaboratorium herumstanden, verächtlich ab. Die Aludel, in der es siedete, stand auf dem Alembik und ließ ihr Destillat in ein Kupfergefäß tropfen. Auf der offenen Feuerstelle standen zwei Kessel mit einem Gebräu, das unbeschreiblich stank. An Wand und Decke und über einer Sammlung von Glas- und Tonbehältnissen waren, so als wollte man ihre Essenz auffangen, widerliche, doch bekannte Dinge aufgehängt – Fledermausflügel, große Käfer und Platten aus gehämmertem Kupfer, die von den aufsteigenden Säuredämpfen grün angelaufen waren. Auf dem Arbeitstisch lehnte ein aufgeschlagenes Buch mit Fettflecken von Fingerabdrücken und Kerzentropfen, in welchem Fray Joaquin eine komplizierte Zeichnung aus Fünfecken und sich überschneidenden Kreisen erblickte. Der Raum war ungewöhnlich breit und verbarg sich hinter einer winzigen Eisentür in den Tiefen eines großen Turmes. Sein Fußboden aus schwarzen Fliesen schimmerte im hellroten Widerschein des Feuers, doch die niedrige Decke des Raumes, die auf mächtigen Steinbögen ruhte, verlor sich in ewigem Dämmer. Abgebrannte Fackeln in Haltern und übereinandergeklebte, verlaufene Kerzenstummel legten beredt Zeugnis dafür ab, daß hier viel Nachtarbeit geleistet wurde.
Bei diesen Worten zuckte Fray Joaquin die Schultern in dem schwarzen Umhang. »Wenn er einen endlosen Vorrat an Gold hätte, warum hätte er dann wohl Euch zum Goldmachen angestellt? Beeilt Euch lieber; er hat König Karl im Norden unterstützt und dabei enorme Verluste gehabt – ganz zu schweigen von seinen Spielschulden und dem, was ihn das von ihm selbst verfaßte Lustspiel ›Die vier Jahreszeiten‹ gekostet hat.«
»Habe ich ihm etwa eingeredet, er soll Dichterkönig werden? Oder fremde Höfe besuchen, dabei von Kopf bis Fuß nach Duftwässern riechen, Epen deklamieren und seine Rivalen erdrosseln? Sagt an, ist das eine ehrbare Beschäftigung für einen Kriegsherrn? Und ich muß mich die ganze Zeit mit dem unfähigsten Glasbläser diesseits des Fegefeuers herumschlagen. Und mein Gewand! Seht Euch das an! Er hat mir zwei neue Gewänder im Jahr versprochen, dazu einen pelzgefütterten Umhang. Billige, stinkende Wolle von toten Schafen. Man sollte meinen, es hätte einen Vorbesitzer gehabt.«
»Hat es auch. Euren Vorgänger, der es trug, hat er gepfählt. Laßt Euch gesagt sein, Ihr verzieht zu lange. Und jetzt wollt Ihr Asmodeus nicht wieder anrufen. Es tut nicht gut, den Grafen zu erzürnen.«
»Erzürnen? Wieso erzürne ich ihn? Ihr braucht ihm doch nur zu sagen, daß wir alles versucht haben, daß der Dämon jedoch langsam und übellaunig ist. Alsdann schickt Ihr einen schnellen Boten mit einer Lösegeldforderung an die Familie in England des Inhalts, daß der Graf das Lösegeld nur aus der Hand seiner Frau Margaret entgegennimmt. So kommen wir zu dem gleichen Ergebnis, laufen aber keinerlei Gefahr. Der Mann ist doch einfältig. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, daß der Äther hier zu dünn ist, weil dauernd experimentiert werden muß – daß es gefährlich ist, sich mit den mächtigsten Geistern der Hölle anzulegen. Beim nächsten Mal geht es nicht mehr mit ein paar blauen Flecken ab. Asmodeus könnte sich wirklich losreißen. Sagt, wißt Ihr noch, woher der Brief kam?«
»Natürlich. Ich habe es aufgeschrieben, nur damit uns kein Fehler unterläuft.« Fray Joaquin zog ein Wachstäfelchen aus dem Ärmel.
»Dann seid Ihr auf den gleichen Gedanken gekommen?«
»Natürlich. Ich bin doch nicht dumm. Glaubt Ihr, daß man mit Teufelsbeschwörungen Erfolge erzielen kann? Wenn, dann hätten wir doch schon Gold. Teufel wollen nur betrügen. Wie kommt er bloß auf die Idee, daß Asmodeus uns nicht auch betrügt? Was haben wir denn vorzuweisen? Nichts als Gestank, Schweinerei und blaue Flecke. Ein Bote dürfte weitaus mehr Erfolg haben.«
»Es ist weit dorthin, praktisch am Ende der Welt«, sagte Messer Guglielmo, während er das Täfelchen betrachtete. »Ein zivilisierter Ort dürfte sich kaum ›Bruksfurd Manr‹ nennen.«
»Ich habe daran gedacht, Fray Raphael zu schicken. Der hat schließlich das Gelübde der Armut abgelegt, und es wird langsam Zeit, daß er sie am eigenen Leibe zu spüren bekommt.«
»Aber der Sieur d'Aigremont braucht ihn in der Geheimkammer – er hat keine Ausrede, warum er reisen muß – und dabei wäre ich ihn gern ein Weilchen los. Was für ein Quengler. Dauernd kommt er an und beklagt sich, in der Regel, wenn ich mitten in einem schwierigen Experiment stecke und nicht gestört werden darf. Da unten ist die Luft so schlecht, jault er. Habt Ihr ein Glück. Ich und Glück! Den ganzen Tag und die ganze Nacht in dieser Hitze schuften! Keine frische Luft! Gräßlicher Gestank! Unbeholfene Bauerntölpel als Helfer! Kein anständiges Essen, außer einem Bissen im Stehen! Ich falle um vor Müdigkeit! Seht mich doch an!« Er betrachtete das Anstoß erregende Gewand und bemerkte ein graues Haar in seinem langen, wilden, schwarzen Bart. Das riß er empört aus. »Grau! Ich altere im Dienst eines undankbaren Gönners!«
»Wenn Ihr wüßtet, was in den Geheimkammern vorgeht, Ihr würdet Euch nicht beklagen.«
»Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Hauptsache, ich bekomme das richtige Fixativ; was er sonst noch macht, geht mich nichts an. Es sei denn, er mißachtet meinen Rat und schafft es, ein so großes Loch zu machen, daß Asmodeus hindurchschlüpfen kann. Abgesehen davon kümmere ich mich ausschließlich um meine Wissenschaft. Wer sagt, daß Wissen nicht seinen Preis hat? Und ich zahle ihn – mit Leiden, Leiden.«
»Ihr tätet gut daran, ein wenig stiller zu leiden, Messer Petrini. Falls er glaubt, daß Ihr etwas mitbekommen habt, so läßt er Euch nicht ziehen, wenn das Gold gemacht ist.« .
»Sie kommen, doch sie gehen nicht wieder. Was geht es mich an? Sind doch nur Bauernbälger. Gibt ohnedies zuviel davon. Hecken wie die Kaninchen, die gewöhnlichen Leute.«
»Na gut, vermutlich bleibt die Reise an mir hängen. Das hatte ich schon befürchtet.« Fray Joaquin seufzte. »Ich erzähle ihm, ich hätte gehört, daß es im Norden hübsche, blonde Kinder gibt, nach denen ich mich umsehen möchte. Er will ja keine anderen, und hier in der Gegend werden sie allmählich knapp.«
An jenem Abend brach Fray Joaquin, begleitet von einem großen Hirschhund, auf dem schnellsten Pferd im Stall nach England auf.
»Mama, das ist aber ein häßlicher Umhang. Warum hast du keinen hübschen gekauft?« Alison wühlte in meinen Einkäufen herum, die ich auf dem Bett im Obergeschoß des Wengraveschen Hauses ausgebreitet hatte. Sie war kaum zu verstehen, da sie sich den Hut aufgesetzt hatte. Wenn sie die Arme ausstreckte, berührte sie kaum seinen Rand, zudem reichte er ihr noch bis übers Kinn. Die Bänder hingen ihr bis zur Mitte.
»Das ist ein Pilgermantel, Dummchen.« Cecily untersuchte den Geldgürtel und die schweren Schuhe. »Damit sieht man auf der Reise heilig aus. Dann helfen einem alle, und niemand tut einem was.«
»Niemand tut Mama was. Sie ist hübsch. Sonst berührt Bruder Malachi die bösen Menschen mit seinem Zauberstab. Puff! Und schon sind sie Frösche.«
»Woher hast du das?«
»Von Sim. Er sagt, Bruder Malachi kann alles.«
»Mama, du kommst doch bald wieder, ja?« Cecilys Stimme klang bänglich.
»Na, klar doch«, piepste Alisons Stimmchen unter dem Hut, dann kletterte sie hoch und ließ sich auf das Bett plumpsen. »Mama vergißt uns nie. Sie bringt uns Geschenke und Süßigkeiten mit. Ich will ein neues weißes Pony und Haarbänder in fünf Farben, Mama. Nicht vergessen, Rot und Grün mag ich am liebsten. Braun nicht.«
»Ja, ich bin so schnell wie möglich zurück. Vergeßt nicht, ich denke an euch und bete jede Nacht für euch, und seid schön brav bei Mistress Wengrave.«
»Das – ist schwer«, verkündete Alison und sprang auf fetten Füßchen mit ihren gesteppten Wollpantoffeln auf dem Bett herum. »›Steh auf! Verneige dich! Ruhe jetzt! LEI-ser Alison!‹ Keiner kommandiert uns so herum!«
»Stiefvater kommandiert uns noch mehr herum. Darin ist ihm keiner über«, berichtigte Cecily ihre Schwester.
Bildete ich mir das ein, oder war Alison wirklich pummeliger als vor einem Monat? Cecily war schon wieder gewachsen. Unter ihrem Kleid lugten magere Beinchen hervor. Ich muß den Saum schon wieder auslassen, dachte ich. Einen Umschlag habe ich noch, ehe Alison das Kleid erbt. Vielleicht sollte ich Litze aufnähen, wenn ich den Saum für Alison wieder einschlage. Dann sieht es eher wie ein neues Kleid aus. Lieber Gott, Frankreich ist so weit. Angenommen, ich überlebe es nicht, wer schlägt dann den Saum für Alison ein? Wer weiß dann noch, daß sie keine geerbten Sachen mag, es sei denn, man hübscht sie für sie auf? Nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Und schon stiegen mir die Tränen in die Augen, und ich schloß sie erneut in die Arme und sagte: »Ihr dürft keine Angst haben. Gottes Engel wachen über euch, während ich fort bin.«
»Engel? Können die auch Wecken backen?« Alison, die sich so leicht ablenken ließ, setzte sich hin und spielte mit meinem Rosenkranz und sang dabei Backe, backe Kuchen.
»Sorg dich nicht, Mama. Ich bin groß. Ich kümmere mich um Alison. Ich schaffe das schon.«
»– Eier und Salz –«
»Du bist Mamas tapferes, großes Mädchen. Denk daran, ich verlasse mich auf dich –«
»– ich bin auch groß – Butter und Schmalz –« sang Alison.
»Ich kann alles, was die Großen können. Alle erwachsenen Männer haben sich vor dem großen Pferd gefürchtet. Ich nicht. Ich bin darauf geritten! Ich schaffe das schon.« Cecilys Augen blickten ernst. Sie meinte jedes Wort.
»Du weißt, daß ich lieber hierbleiben möchte, nicht wahr?«
»Ja, du mußt weggehen. Ich weiß auch warum. Ich höre doch, was in den Ecken geflüstert wird, wenn sie meinen, ich verstehe das noch nicht. Übers Kloster, über den Prozeß und über die bösen Menschen, die uns die Mitgift wegnehmen wollen, die Papa hinterlassen hat. Du kommst doch zurück, ja? Und dann ist alles gut?«
»Ja, natürlich. Und Master Wengrave ist euer Pate und Papas lieber Freund. Ihr wißt, daß ihr hier sicher seid, und er will nur euer Bestes.«
»Ich weiß.« Cecily rieb sich heftig die Augen. Sie war erwachsen geworden – zu erwachsen für ihr Alter. Doch zuweilen läßt sich derlei nicht vermeiden.
»– Milch und Mehl, und 'nen Scheffel Rosi-hinen«, sang Alison. »Gut, was? Das habe ich mir ausgedacht. Der Kuchen in dem Lied schmeckt sonst nicht gut genug.«
»Ist das alles, woran du denken kannst – Essen?« sagte Cecily überheblich.
»O nein. Ich denke, daß Mama zurückkommt. Das tut sie nämlich«, sagte Alison und blickte dabei ihre Schwester an, als ob die überhaupt nichts begriffen hätte.