Kapitel 13
Der Satz hier ist trocken, Gilbert – oder sollte ich Euch auch Gregory nennen wie Margaret?« Mutter Hilde holte ein paar bunte Manuskriptseiten von der Fensterbank, wo sie, mit alten Weinflaschen beschwert, in der Sonne getrocknet hatten. Unter der Fensterbank zog sich ein Seil vom Bettpfosten drinnen bis zu dem großen Balken, der die Stiege draußen stützte, und dort flatterte die Wäsche der Reisenden wie Fähnlein im Wind. Wie so oft im Süden waren die Sonne und der blaue Himmel beinahe zu farbenprächtig, um noch geschmackvoll zu sein, aber sie machten das beengte Zimmerchen heiter und vertrieben den muffigen Geruch nach Krankheit.
»Oh, gut, verwahrt sie bei den anderen«, antwortete Gregory, der emsig vor sich hinarbeitete und über der farbenprächtigen Darstellung einer Frau in einem Feld voller Schlangen gebückt saß. »Bei Margaret ist das die Macht der Gewohnheit, sie will nicht von dem Namen ablassen – hm, das könnte ein Wortspiel werden, ich muß nur noch etwas daran feilen – und da ich keine Macht über sie habe, hat sie auch nicht von der Gewohnheit abgelassen. Nein, noch besser, ich habe Ablaß erhalten und sie die Macht. Merkt Ihr etwas? Meine Geister regen sich wieder, wenngleich langsam. Aber nennt mich, wie Ihr wollt, Mutter Hilde.«
»Dann will ich Euch Gilbert nennen wie Malachi. Er sagt, unter dem Namen hat er Euch gekannt, als Ihr in Paris studiert habt.«
»Also, das finde ich nicht ganz gerecht, wo ich mich so sehr vorsehe, mich nicht zu verplappern und ihn Theophilus zu nennen.« Gregorys Stimme klang übertrieben gekränkt. Dann drehte er sich zu Margaret um, die sich mit ihrer Feder abmühte, die Zeilen mit den Krakeln aus Malachis Buch zu kopieren. »Margaret, wie steht es mit den nächsten Seiten? Das Bild hier ist fast fertig.«
Margaret hielt die Seite hoch und drehte und wendete sie im Licht, damit sie die Wirkung genießen konnte. Die war durchaus geheimnisvoll und kam dem Original ganz erstaunlich nahe, wenn man von ein paar Kleinigkeiten absah.
»Da sind sie«, verkündete sie fröhlich. Sie war so zufrieden, wie es Hochschwangere oftmals sind. Das Kleine kugelte sich jetzt auch nicht mehr – dazu fehlte der Platz. Aber sie sah, wie sich ihr riesiger Leib unter ihrem Gewand bewegte, während das Kleine vor Freude zappelte, wenn sie ihm bei sich erzählte, Kleines, es geht nach Hause. Und in großem Stil obendrein, dank Bruder Malachis hellem Kopf. »Sieh sie dir an. Sehen die nicht hübsch aus? Wieviele Bücher haben wir jetzt insgesamt?«
»Sechs«, sagte Mutter Hilde und zählte die Seiten so stolz wie eine Glucke die Eier in ihrem Nest. »Es dürften sieben werden. Das ist eine Glückszahl.« Sie lugte erneut aus dem Fenster. »Ei, und nicht nur die Wäsche ist trocken, sondern da unten kommen auch Malachi und Sim in den Hof, und sie sehen sehr zufrieden mit sich aus. Fürwahr, ist es nicht herrlich, wie schnell die heiße Sonne in diesem gesegneten Klima die Wäsche trocknet? Wie soll ich überhaupt noch in Feuchtigkeit und Kälte zurechtkommen?«
»Allerbeste Nachrichten!« platzte Bruder Malachi ins Zimmer und in die emsige Werkstatt. »Einen Kunden habe ich schon an der Angel. Ein Meisterstück. Ich vergoß Tränen, die ich mir heimlich abwischte. ›Mein kostbarster Schatz‹, so sagte ich. ›Nie würde ich mich von ihm trennen, wenn mir das Wasser nicht bis zum Hals stünde.‹ Oh, ich war gut. Sim hat meinen Sohn gespielt. Der Junge ist begabt. Ja, begabt! Ach, wenn ich doch nur einen so guten Start wie er gehabt hätte, wer weiß, was aus mir alles hätte werden können? Also, eines davon muß morgen abend auf jeden Fall fertig sein.« Er schlenderte zum Fenster und prüfte die Seiten, die beschwert auf der Fensterbank lagen. »Hübsch«, sagte er und nickte beifällig. »Wenn ich heute abend binde – und dazu brauche ich die Hilfe von Näherinnen, meine Damen dann können wir sie morgen am Feuer bräunen. Gilbert – wer von Euch, du oder Aimery, verstand sich eigentlich aufs Buchbinden?«
Gregory pustete auf eine feuchte Stelle bei seinem Bild, dort, wo die rote Tinte auf dem Schlangenkopf nicht trocknen wollte. Er antwortete ohne aufzublicken.
»Aimery – du bringst uns durcheinander, weil der auch Sauflieder geschrieben hat.«
»Dann werde ich dir wohl zeigen müssen, wie man das macht – wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns, wenn wir alle rechtzeitig fertig haben wollen. Übermorgen brechen wir auf. Das ist der andere Teil meiner guten Nachrichten. Eine Gruppe Kaufleute will mit Geleitschutz die Rhône hinauf gen Lyon ziehen. Sie haben sich Soldaten gemietet und sich einer päpstlichen Gesandtschaft angeschlossen, die nach Paris will. Ein neuerliches Bittgesuch an den französischen und englischen König, Frieden zu schließen. In ihrer Gesellschaft reisen wir so sicher wie in Abrahams Schoß. Die restlichen Bücher bräunen wir dann unterwegs.«
»Aber, Malachi, Schatz, warum willst du sie bräunen? Du verdirbst ja die hübschen Bilder. Die werden ja allesamt dunkel.«
»Genau, meine Herzenskönigin. Du weißt im voraus, was ich will. Wer kauft schon ein neues alchimistisches Buch? Niemand. Aber morgen wird wenigstens eines von ihnen uralt aussehen. Außerdem vertreibt die Hitze den Geruch nach frischem Leim.« Bruder Malachi rieb sich voller Vorfreude die Hände.
»Ja, ja. So geht es. Den nächsten großen Verkauf tätigen wir dann in Lyon. Dort waren einst viele auf der Suche nach dem Grünen Löwen. Gewiß hat nicht einmal der Krieg ihre Zahl übermäßig verringern können.« Er setzte sich aufs Bett, sortierte die getrockneten Seiten und summte vor sich hin.
Doch Margaret, die Bruder Malachis ganzen Plänen als vernünftige Frau stets skeptisch gegenüberstand, hörte mit ihrem emsigen Gekritzel auf. »Aber, Malachi«, sagte sie, »was wird aus Hugo und dem Rest der Brokesford-Männer? Seit er von dieser letzten Audienz zurück ist, führt er sich so albern auf wie eine Gans auf und hat, glaube ich, jeden Penny durchgebracht, den er mitgenommen hat, nur um sein strahlendes, neues Ich zu feiern, das Lösegeld inbegriffen.«
»Habe ich dir nicht immer gesagt, daß ein großer Geist an alles denkt? Ich habe ihn an die Kaufleute vermietet und ihm hinterher davon berichtet. Da war er gerade, wie sagt man, in flagrante delicto, schien die Nachricht aber recht gut aufzunehmen. Hör also auf, dir Sorgen zu machen, Margaret. Mein allumfassender Geist hat keine Einzelheit außer acht gelassen.« Er sortierte weiter und flocht nun Worte in sein Gesumm ein. Es war das ›Angelus ad Virginem‹.
Margaret machte sich mit gekräuselter Stirn wieder an die Arbeit und blickte nur erstaunt auf, als eine andere Stimme einfiel. Diesen Laut hatte sie noch nie gehört. Gregorys dröhnender Bariton gab den Kontrabaß ab, und er sang die Worte des Engels auf Latein. Da kannte sie ihn schon so lange und war nie auf den Gedanken gekommen, daß er musikalisch sein könnte. Obwohl es auf der Hand lag, da die meisten Geistlichen singen können. Die Worte verstand sie zwar nicht, doch das Lied kannte sie gut, denn auf Englisch war es auch sehr beliebt; es handelte vom Engel Gabriel.
»Schnöde, schnöde von dir, Gilbert. Jetzt muß ich den Diskant singen«, und schon wechselte Bruder Malachi, als sie zu der Antwort der Jungfrau kamen, zu einem hohen Falsett.
Margaret mußte einfach mitsingen; als der Refrain kam, setzte sie mit der Oberstimme ein, und ihr helles Englisch schwang sich über das sonore Latein. Die Männer sollten sich schließlich nicht einbilden, sie könnten höher singen als eine Frau. Als die lieblichen Harmonien aus dem Fenster in den leuchtenden, fremden Himmel wehten, da schwiegen ein paar der streitenden Stimmen auf dem Hof, es schien, ihnen hörte jemand zu.
»Ei, Margaret, ich wußte gar nicht, daß du so gut singen kannst.« Gregory blickte Margaret freudig überrascht an.
»Aha!« fuhr Bruder Malachi dazwischen. »Das ist der Beweis. Wenn du tatsächlich Margarets Lebensgeschichte nach Diktat niedergeschrieben hättest – was übrigens die erbärmlichste Lüge ist, die du mir jemals aufgebunden hast, Gilbert –, dann würdest du wissen, daß sie singen kann, und sehr gut obendrein. Quod erat demonstrandum – du hattest nichts Gutes im Sinn, als du in Margarets Haus herumgelungert hast.«
»Malachi, du hast Unrecht. Ich bin so rein wie frisch gefallener Schnee. Nur weil ich mitgeschrieben habe, heißt das noch lange nicht, daß ich auch zugehört habe.«
»Zuggeben, das hört sich mehr nach Gilbert an – aber immer noch lahm, wirklich lahm.«
»Malachi«, unterbrach Margaret, »macht lieber Schluß mit diesen hämischen Mutmaßungen. Sowie wir zu Hause sind, zeige ich Euch mein Buch. Das letzte Kapitel habe ich sogar ganz allein geschrieben, nachdem mir Gregory Lese- und Schreibunterricht erteilt hatte.«
»Du enttäuschst mich, Margaret. Ich hatte eine etwas gepfefferte Geschichte erwartet. Doch ich muß zugeben, daß du jetzt geschickt mit der Feder umgehst, und als ich dich kennenlernte, konntest du weder lesen noch schreiben. Gilbert und Frauen unterrichten! Da siehst du, wohin das führt.«
»Ja – auf den Dachboden eines fremdländischen Hurenhauses, wo ich alchimistische Bücher fälsche. Genau diese Art Ende hat mir mein Vater immer prophezeit«, meinte Gregory so bitter, daß Bruder Malachi das Thema wechselte.
Der Morgen unseres Aufbruchs dämmerte hell und klar herauf. Wir hatten jetzt gerade Mitte April, aber man konnte in der Morgenluft bereits die Sommerhitze spüren, und ich hoffte darauf, daß der Tag bedeckt sein würde. Große Schleppkähne dümpelten am Ufer und wurden mit Waren beladen. Die Ochsengespanne, die sie den Fluß hinauf gegen die mächtige Strömung ziehen würden, waren schon angeschirrt, und die Knaben, die sie antreiben sollten, fläzten sich mit ihren langen Peitschen am Ufer. Noch nie hatte Hugo so prächtig ausgesehen, neben sich hoch zu Roß Robert, und beide bis an die Zähne bewaffnet. Hugos Rüstung erstrahlte hell, das Ergebnis von Roberts nächtlicher Plackerei in letzter Minute, und nie hatte das Fähnlein von Brokesford fröhlicher geflattert. Die wartenden Söldner jubelten ihm zu, während die päpstlichen Ritter und ihr Gefolge ihn feierlich und förmlich begrüßten. So fehl am Platze war ich mir noch nie vorgekommen wie in dieser Gesellschaft, so unförmig, daß ich kaum auf dem Pferd sitzen konnte, und zu allem Überfluß waren Hilde und ich auch noch die einzigen Frauen in der ganzen, großen Reisegesellschaft. Neugierige, Verwandte und Gassenjungen drängten sich herzu, um den Aufbruch des riesigen Zuges nicht zu versäumen.
Auf einmal lief ein Murmeln durch die gaffende Menge, denn eine Mauleselsänfte mit einem Kardinalswappen näherte sich mit geschlossenen Vorhängen dem Kai. Ihr folgten sechs livrierte Diener, und zwei Jungen rannten vor ihr her, um ihr Platz zu machen. Die Sänfte kam neben Hilde und mir zum Stehen, und ich spürte die Blicke der Gaffer, als die reich beringte Hand einer schönen Frau die Vorhänge teilte.
»Lady Margaret«, erklang die bekannte Stimme mit dem derben Akzent in Englisch, »ich bin gekommen, Euch Lebewohl zu sagen.« Ich sah Cis, die sich in die verdunkelte, unbequeme Sänfte gequetscht hatte, daß sich die Falten ihres prächtigen Gewandes um sie bauschten. Heute prangte sie in leuchtend lila Seide. Seide und Goldstoff. Sie wandte mir beim Sprechen den Kopf zu, und die Gaffer bemühten sich, einen Blick auf die üppig mit Perlen bestickte und kunstvoll mit Schließen versehene Haube zu erhaschen, unter der sich auf der Stirn ein paar freche, goldene Löckchen kräuselten, während sich ein paar Strähnen aus ihren leuchtenden, aufgesteckten Zöpfen gelöst hatten. Auf ihrem Schoß lag ein winziges, weißes Hündchen mit einem vergoldeten Halsband.
»Na Margaret«, sagte ich (denn Na heißt in jenem Land Lady und En Lord), »macht meinem Namen Ehre, und damit Gott befohlen.«
»Ihr seid immer freundlich gewesen, Lady. Nicht wie die anderen. Aber ich sage allen Lebewohl, sogar Sir Hugo, wenn er sich wie ein Mensch aufführt. Der hat mir nie für die Audienz gedankt, die ich ihm verschafft habe – hat nur geknurrt, er meinte es nicht persönlich, aber er hätte sich gleich gedacht, daß ich ihn mit einem Haufen von knoblauchstinkenden Nichtsen zusammenführen würde. Aber Euren Dankbrief, den mir der kleine Junge da gebracht hat, den habe ich bekommen, und da bin ich. Ich – ich werde wohl niemals wieder jemand Englisch sprechen hören. Sagt bitte meinen Freunden, daß ich wie eine Königin lebe. Nein – besser als eine Königin. Von solchem Reichtum, wie ich ihn hier gesehen habe, könnte eine Königin in England nur träumen. Sagt ihnen, daß ich jetzt eine Dame bin, daß ich Truhen und Diener und einen Schoßhund habe.«
»Nehmt Euch gut in acht.« Wie fremd ihr Gesicht jetzt in der prachtvollen Umgebung wirkte. »Ihr seid durch Männergunst rasch aufgestiegen, und mir ist zu Ohren gekommen, daß die Frauen hier Giftmischerinnen sind. Ihr solltet Euch Katzen halten wie die dunkle Dame.«
»Katzen?« Sie lachte, und der Laut trug ihr noch mehr neugierige Blicke von der Menge ein, die nichts verstand. »Die taugen für Hexen. Ich habe meine kleinen Hunde. Das ist schon der dritte. Wir sind vielleicht nicht so gerissen wie diese Fremden, Lady, aber wir englischen Dorfmädchen sind gewitzt – und lernen schnell.«
»Wir? Dann hast du also Bescheid gewußt?«
»Von Anfang an. Das habe ich an Euren Versprechern gemerkt. Ihr seid auch nicht da geboren, wo Ihr jetzt seid. Daran und an Eurem weichen Herzen. Ihr habt mich doch auf diesen Gedanken gebracht. Ich leide nicht umsonst, habe ich mir immer wieder gesagt. Das kann mir einst nützlich sein. Aber Ihr habt den besseren Mann. Da«, sagte sie und suchte in ihren Gewändern. »Ein Geschenk. Das soll Euch auf der Reise Glück bringen. Ich habe es vom Papst segnen lassen, und obendrein noch von meinem Kardinal.« Sie hielt mir ein kleines, versilbertes Medaillon an einer Kette hin und beobachtete mein Gesicht, als ich ihr dankte. Sie hat sich schon neue Gepflogenheiten zugelegt, seit sie dieses gefährliche Spiel unter Fremden mitspielt, dachte ich. Und sie und ich, wir beide wußten, daß sie sich von mehr verabschiedete als von uns. Eines Tages, vielleicht schon bald, würde sie sich den Luxus eines aufrechten Herzens nicht mehr leisten können. »Ich wußte, Ihr würdet es nicht verschmähen«, sagte sie, als ich es nahm. »Denkt zuweilen an mich.« Und dann bedeutete sie ihren Männern aufzubrechen und schloß die Vorhänge. Ich sah, wie die Sänfte vor Hugos Pferd anhielt. Die Vorhänge öffneten sich kurz, sie nickte wie eine große Dame und ließ Hugo hochrot und wutschnaubend zurück.
»Nein, wer hätte das gedacht?« Gregory folgte der Sänfte mit den Augen und schob sich auf seinem Klepper dichter an mich heran. Er ritt eines der Sänftenpferde und führte das andere am Halfter. Sie boten einen schönen Anblick, die drei, denn alle waren sie gleichermaßen knochig. Und das umfängliche Samtwams und die wollene Bruch des Comte de St. Médard schlotterten an ihm. Wenn er nicht so vornehm zu Pferd gesessen hätte, man hätte ihn glatt für einen Spielmann in den abgelegten Kleidern seiner Herrschaft halten können.
»Sie hat uns ein Geschenk gemacht. Binde du es um, bitte. Ich habe schon einen Talisman und komme mir mit mehreren Ketten albern vor.«
»Hm. Die Jungfrau Maria. Wenn man bedenkt, woher es kommt, dürfte es etwas zu bedeuten haben, ich weiß nur nicht recht, was«, sagte er und wölbte eine dunkle Braue. »Doch wer bin ich, daß ich einen Reisesegen verschmähe. Der Himmel weiß, oft hat man mich bislang nicht gesegnet.« Und damit hängte er sich das kleine Medaillon um.
Wir kamen nur langsam voran, denn wir mußten uns nach dem Tempo der Schleppkähne richten. Vor und hinter den Ochsengespannen verteilte sich die Reisegesellschaft am Ufer, vorneweg und hinten die Reisigen, welche auch die Flanke der hohen Würdenträger deckten. Als die Sonne auf uns herabbrannte, boten Hilde und mir nicht einmal mehr unsere großen Strohhüte Schutz. Ich merkte, daß Gregory mich jetzt immer so besorgt ansah.
»Der Schweiß rinnt dir in Strömen übers Gesicht, Margaret, und du bist ganz rot. Du solltest im Schleppkahn fahren und nicht reiten.«
»Das ist völlig unwichtig, Gregory – wenn man schwanger ist, setzt einem die Hitze einfach mehr zu. Aber – sind schon Sommersprossen zu sehen?« Er musterte mich prüfend.
»Nur ein paar. Auf deiner Nase.«
»Oh, heilige Muttergottes, doch nicht etwa viele?«
»Ei, tausend und abertausend, Margaret. Doch keine Bange, es sind sehr hübsche.«
»Wenn das nicht gemein ist! Ich werde Hilde fragen, wieviele Sommersprossen ich schon habe. Was wieder einmal beweist, daß kein Verlaß auf Männer ist, wenn es wirklich darauf ankommt.«
»Aber ja doch, und um es dir zu beweisen, werde ich jetzt mit Messer Pietro sprechen und dich beim nächsten Halt von dem Pferd da herunterholen und in den vordersten Schleppkahn verfrachten.«
»Wehe dir. Mir geht es sehr gut so. Hast du vergessen, wie leicht ich seekrank werde? Das Schlingern bekommt mir ganz sicher nicht.« In Wahrheit sah er mir immer noch bleich und zu gebrechlich aus, und ich wollte ihn auf keinen Fall alleinlassen. Wie jemand, der einen wertvollen Ring wiedergefunden hat, den er schon verloren glaubte, wollte ich ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Aber meine Ausflüchte klangen wohl etwas zu weit hergeholt. So blickte er zunächst die Schleppkähne an, die so stetig auf den rauschenden Fluten getreidelt wurden. Daraufhin blickte er mich eindringlich an, es war ein langer, belustigter Blick, dann huschte ein eigenartiges Lächeln über sein Gesicht. Oh, schon wieder ertappt, dachte ich.
»Ich muß dein Gesicht sehen können«, bekannte ich und musterte erneut sein Profil, so als wollte ich es mir auf ewig einprägen. »Es hat mir zu lange gefehlt.«
»Habe ich dir heute schon gesagt, daß du eine dumme Frau, aber ein ganz großer Schatz bist?« gab er mit einem Lächeln zurück.
»Heute noch nicht, aber gestern. Und morgen hoffentlich auch.«
Aber ein paar Tage zu Pferd, selbst bei diesem langsamen Tempo, forderten bei ihm ihren Tribut. Ich sah die Spuren der Erschöpfung in seinem grauen Gesicht, und so verheimlichte ich ihm, daß sich das Kind in meinem riesigen Bauch auf diese eigenartig ungeduldige Art bewegte, die kundtat, daß es geboren werden wollte. Bruder Malachi bemerkte unsere Überanstrengung und versuchte, uns das Reiten durch Reisegeschichten leichter zu machen, Reisen, die er vornehmlich auf der Suche nach dem Geheimnis der Geheimnisse unternommen hatte, oder um Leuten zu entgehen, die ihm das Geheimnis zu entreißen trachteten. Er schlug uns ganz in seinen Bann, denn er wußte von länglichen Äpfeln in Ägypten zu berichten, die aufgeschnitten die Kreuzesform zeigen, und von der todbringenden Schlange, Krokodil genannt, die einen Menschen auf einen Sitz verschlingen kann, und auch von den Gänsen, die in den Ländern des hohen Nordens auf Bäumen wachsen und die richtige Fastenspeise abgeben.
»Gibt es denn keinen Ort, wo Ihr noch nicht gewesen seid, Malachi?« fragte ich.
»Ei, das Tartarenland und Indien – viele Orte. Afrika – das möchte ich gern einmal sehen. Und auch China, obwohl man sagt, es ist eine Legende. Das sind Orte, wo die Weisheit zu Hause ist. Da gibt es Dinge, die zum Geheimnis hinführen könnten.«
Und Mutter Hilde auf dem Sattelkissen hinter ihm nickte frohgemut.
»Wenn du diese Orte aufsuchst, Malachi, dann komme ich mit. Ich habe festgestellt, daß mir Reisen zusagt. Hast du meine ganzen Sämereien gesehen, Margaret? Einige haben Seltenheitswert. Vielleicht wachsen ein paar sogar in England.« Bei jedem Halt, bis die Winterwinde den raschelnden, vertrockneten Pflanzen die Samenkörner abgestreift hatten, war Mutter Hilde auf die Suche nach Saatgut gegangen. Wir sahen, wie sie strahlte, wenn sie eine Pflanze gefunden hatten, die ihr gefiel, und wie sie die Samen in einen bunten Stoffetzen wickelte. Und ihr Gedächtnis war so gut, daß sie allein beim Anblick des Samens schon das Aussehen der Pflanze beschreiben konnte; nur wenn sie sich einmal zu ähnlich sahen, brachte sie ein oder zwei kleine Stiche – gleichlaufend oder gekreuzt – auf dem Lappen an, um sie auseinanderzuhalten. Am Ende des Tages schlug sie ihre Päckchen dann in ein großes Tuch ein, und das wickelte sie zuweilen an trüben Tagen auf und zählte ihre Schätze wie ein Geizhals. Und als alles wieder grünte und blühte, hatte sie sich mit gleicher Inbrunst auf Beutezug bei den einheimischen weisen Frauen begeben, wo sie mittels Gestik und Mimik noch mehr Sämereien eingetauscht hatte, wodurch ihre Sammlung weiter anwuchs.
»Die Welt ist voll von Dingen, die man nicht kennt«, sagte sie dann wohl verträumt. »Gar nicht so übel, wenn Malachi das Geheimnis endlich finden würde. Dann könnten wir länger leben und überall hinreisen, und nicht auszudenken, was für Sämereien ich da bekommen würde! Jammerschade, daß zu Hause keine Apfelsinen wachsen wollen. Wenn man sie im Winter nur warmhalten könnte, wie wunderschön wäre es doch, wir hätten hinten am Haus einen Apfelsinenbaum…« Und schon war sie wieder unterwegs, sie, die mit ihren Einfällen das reine Kind war. Seltsam, wie nahe Weisheit und Kindlichkeit beieinander liegen können, und Mutter Hilde, für mich die weiseste aller Frauen, ist dafür das beste Beispiel.
»In ein paar Tagen sind wir in Vienne. Von da ist es nach Lyon ein Katzensprung. Die Kaufleute entladen ihre Waren und kehren flußabwärts heim. Und wir verkaufen wieder ein Buch – was für ein Glücksfall, daß wir schon zwei losgeworden sind! – und heißa, auf geht es nach Paris in Begleitung der päpstlichen Granden! Das Glück ist uns hold, meine Lieben! Gilbert, du hast mich noch nicht einmal zu meiner klugen Planung beglückwünscht. Du solltest Gott für den hellen Kopf danken, der dir eine so bequeme Rückreise ermöglicht. Fürwahr, ist das nicht ein herrlicher Tag? Ich komme mir ganz vergeistigt vor – nur noch reine Vernunft, die sich in den Äther schwingt! Oder möchtest du Paris nicht so gern wiedersehen? Keine Bange, seit damals hast du dich völlig verändert. Kein Mensch erkennt dich dort wieder, das kannst du mir glauben. Du brauchst nur die Kapuze hochzuschlagen und dir den Bart nicht zu schneiden. Ja, ja. Du siehst ganz anders aus. Sorge dich nicht um den anderen Morgen, so sage ich immer, es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.«
Das mit der eigenen Plage eines jeglichen Tages – diese Stelle mag ich überhaupt nicht. Ich habe lieber keine Sorgen und Plagen, doch so läuft es meistens nicht. Wir waren immer noch weit von jeder Ortschaft entfernt, da konnte ich mir nichts mehr vormachen. »Gregory, hilf mir«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen, denn der Schmerz, der mich durchfuhr, konnte nur eine Wehe sein. »Das Kind kommt.«
»Unmöglich«, sagte er. »Wir sind noch nicht zu Hause.«
»Wer um Himmels willen hat dir eingeredet, daß es erst kommt, wenn wir zu Hause sind? Es kommt jetzt.«
»Bist du sicher?«
»Gregory, ich habe schon zwei geboren. Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Bitte, sage jetzt Malachi und Hilde Bescheid.« Und er wandte das Pferd und ritt nach vorn, wo Malachi Hilde von der Tochter des Hippokrates erzählte, welche in einen häßlichen Drachen verhext worden ist und auf der Insel Langos in der Nähe Griechenlands wohnt und auf einen Ritter wartet, der so tapfer ist, daß er sie küßt und ihr ihre wahre Gestalt wiedergibt. Ich hing jetzt vornübergebeugt im Sattel und umklammerte mit beiden Händen meinen riesigen Bauch, so als könnten die alles aufhalten. Die Zügel waren mir entglitten, und die kleine Stute, die merkte, daß etwas nicht in Ordnung war, warf den Kopf hoch und wollte davontraben. Die Stöße machten es nur noch schlimmer. Ich merkte, daß Gregory herangeritten kam und nach den Zügeln griff.
»Versteck mich, bitte, bitte. Laß es mich nicht vor aller Augen bekommen«, schluchzte ich. Wortlos bedeutete er Malachi und Hilde, ihm zu folgen. Hinter uns löste sich Hugo aus der Marschkolonne und kam herangaloppiert.
»Das Kind kommt«, sagte Gregory.
»O nein, das geht nicht. Es ist sehr gefährlich, die Kolonne gerade jetzt zu verlassen. Sag an, Margaret, kann das nicht bis später warten.«
»Es will aber nicht warten«, sagte ich ganz rot im Gesicht, während mir die Tränen aus den Augen liefen.
»Na gut, Bruder. Wer hätte gedacht, daß ich deinetwillen einmal eine so große Dummheit begehen würde«, sagte Hugo und ritt nach vorn zum Söldnerhauptmann; darauf bedeutete er seinen Männern, die Straße mit uns zu verlassen. Und in einem Gehölz, in welchem sich die geschwärzten Ruinen eines ehemaligen Dörfchens versteckten, stellten sie Wachen auf, während Gregory mich von der kleinen Stute herunterholte. Ich ächzte. Mit einem raschen Blick erfaßte ich sein entsetztes Gesicht, dann widmete ich mich meiner Arbeit. Irgend jemand hatte mir seinen Umhang untergelegt.
»Nicht zusehen, nicht zusehen«, keuchte ich. »Das gehört sich nicht.«
»Jetzt geht es nicht mehr um Sitte und Anstand, Margaret«, sagte Hilde. »Der Kopf tritt schon durch. Und nun keinen Mucks jetzt. Der Himmel weiß, wer uns hier belauschen mag. Da, beiß darauf, wenn du schreien mußt.« Es war ein Gürtel, Gregorys Gürtel. Heilige Muttergottes, ich danke dir für Hilde! Wer schwanger auf Reisen gehen muß, sollte lieber die beste Wehmutter von ganz London mitnehmen. Und als ich dann ihre Hände spürte, diese festen, kundigen Hände, da war mir auf einmal klar, daß sie nicht nur Malachi zuliebe mitgekommen war. Die großherzigste Freundin auf der ganzen Welt hatte mich auf eine wahnwitzige Suche begleitet, weil sie von vornherein wußte, daß ich es allein nicht schaffen konnte.
»Weiter pressen, Margaret. Den Kopf haben wir schon fast. Gilbert! Würdet Ihr freundlicherweise wegschauen? Das ist Frauensache, nichts für Ehemänner. Wenn Ihr neugierig seid, seht es Euch in einem Buch an.« Die Anstrengung war groß, größer als ich sie irgendwie in Erinnerung hatte, denn Gott läßt uns jedes Mal wieder die Mühen vergessen, damit wir uns nicht vor dem nächsten Mal fürchten. Aber die ganze Zeit den Mund zu halten – das war eine Qual. Da fühlte ich, wie jemand meine Hand ergriff. Seine Hand. Das durfte nicht sein, ich wußte es, und es gehörte sich ganz und gar nicht. Wieviele Male hatten Hilde und ich die Männer schon aus dem Wochenzimmer ausgesperrt? Jedermann weiß doch, daß ein Mann, der seine Frau beim Gebären sieht, sie nicht mehr lieben kann.
»Das ist – also, wenn Ihr schon dabeisein müßt, dann setzt Euch wenigstens neben sie und schaut in die andere Richtung. Es gehört sich nicht, mir bei der Arbeit zuzusehen«, schimpfte Mutter Hilde. Er setzte sich anders hin, meine Hand ließ er jedoch nicht los. Sein Gesicht zeichnete sich vor dem Himmel ab, ganz verschattet war es vor Sorge, und sein dunkles Haar wehte vor dem Lichtkreis der Sonne. Er musterte mein Gesicht eingehend. Dann beugte er sich vor und ergriff auch noch die andere Hand. Ich umklammerte beide und zog mich hoch.
»Gut so«, sagte Mutter Hilde. »Weiter so.« Gregory sah so entgeistert aus, daß ich schon etwas ganz Schnippisches über den männlichen Teil der Menschheit sagen wollte, doch da ging mir jählings auf, was mit ihm los war. Er dachte, ich müßte sterben.
»Halt meine Hand fester, Gregory – so ist das immer – keine Bange – ich bin stark – ich schaffe das schon –« Und so machte ich ihm zwischen Keuchen und Stöhnen Mut. Er sagte kein einziges Wort, hielt mich mit seiner ganzen Kraft, so als wollte er mir davon abgeben. Und er gab mir Kraft. Bei jeder neuen Wehe fühlte ich, wie ich aus ihr schöpfte.
»Tut mir leid«, flüsterte ich. Die Haare klebten mir schweißig im Gesicht, und ich hatte jeglichen Sinn für Anstand verloren. »Jetzt findest du mich nie wieder hübsch.«
Er fand seine Stimme wieder. »Ich werde dich immer lieben, Margaret. Immer. Was auch geschieht. Und – und du bist immer noch hübsch.« Du ritterlicher Lügner, dachte ich.
»Ei, wer hätte das gedacht, Margaret. Dieses Mal hast du einen Jungen. Sir Gilbert, ein Sohn und Erbe. Und gleich beim ersten Mal. Habt ihr ein Glück.« Hilde hielt den Kleinen an den Fersen hoch, bis sein Greinen kundtat, daß er atmete. Gregory wandte den Kopf, um ihn anzuschauen. Nie werde ich seinen entsetzten Blick vergessen.
»Das –« stammelte er. »Soll er wirklich so aussehen? Ist das normal?«
»Aber ja doch. Ihr habt bei Eurer Geburt ganz genauso ausgesehen.« Mutter Hilde wischte den Kleinen ab, so gut es mit dem Tuch ging, das sie mit Wasser aus ihrer Flasche befeuchtet hatte. Sie entband die Nachgeburt und schnitt die Nabelschnur durch. Gregory wirkte wie gelähmt.
»Da, sieh dir das an, Margaret«, sagte Mutter Hilde und streckte mir den nackten Kleinen hin. Seine mageren, roten Ärmchen und Beinchen bewegten sich ziellos. Ich sah sofort, was sie meinte. Abgetrocknet sah das flaumige Haar ganz bräunlich aus und stand in alle Richtungen ab wie der häßliche Flaum eines kleinen Schwans. Der Kleine wirkte ungeheuer entsetzt. Sein Mündchen arbeitete, und er hatte die Augen weit aufgerissen, so als staunte er. Zweifellos das merkwürdigste, komischste Kindergesichtchen, das ich meiner Lebtage gesehen hatte. Oh, wie liebte ich ihn!
»Tu nicht so erstaunt. Die Idee, jetzt geboren zu werden, die stammt doch von dir«, schimpfte ich ihn aus. Dann hielt ihn Mutter Hilde neben Gregorys Gesicht, daß er ihn besser anschauen konnte. Ich sah, wie seine Augen Gregorys Miene musterten. Viele Leute halten Säuglinge für so blind wie Katzenjunge, doch wenn sie das sind, warum haben sie dann nicht die Augen zu wie junge Katzen? Ich glaube, sie können sehen, weil man merkt, daß sie sehen, und weil nicht einmal Säuglinge dumm sind. Die beiden blickten sich mit großen Augen an, Vater und Sohn, und ihre Mienen spiegelten äußerstes Erstaunen wider. Beide Augenpaare wurden groß, beiden fiel die Kinnlade auf die gleiche Weise herunter. So etwas Komisches habe ich meiner Lebtage nicht wieder gesehen. Ich konnte nicht anders. Und wenn es noch so wehtat, ich mußte einfach lachen. Ich wollte es unterdrücken und hustete dabei ein wenig, was die armen, lockeren Muskeln in meinem Bauch durchschüttelte wie Wellen im Meer.
»Du lachst auch noch?« Gregory traute seinen Ohren nicht. »Über deinen eigenen Sohn?« Er hatte etwas unendlich Rührendes, wie er sich für das winzige Wesen gegen eine eingebildete Beleidigung in die Bresche warf.
»In meinem ganzen Leben habe ich keinen komischeren Säugling gesehen. Gib ihn mir, Mutter Hilde, ich will ihn anlegen, ehe er anfängt zu greinen.« Und als der Kleine zu saugen anfing und dabei recht kräftige Schluck- und Schmatzlaute machte, mußte ich schon wieder lachen, während Gregory sich entsetzte und mit großen Augen sagte: »Ist der aber gierig.«
»Das mußt du gerade sagen«, gab ich schläfrig zurück, denn auf einmal war ich sehr müde, »wo du selber so zuschlagen kannst.«
»So aber nicht«, sagte er, als der Kleine nach einem mächtigen Rülpser einschlief.
»Margaret, er muß getauft werden«, mahnte Mutter Hilde.
»Das mache ich«, antwortete Gregory und sah auf einmal sehr selbstgefällig aus. »Mir ist gerade ein guter Name eingefallen.«
»Kennt Ihr die Formel für Nottaufen?« Mutter Hilde gab immer auf alles acht. Es tut nicht gut, wenn man zu solchen Zeiten einen Fehler macht, denn schließlich geht es um eine Seele.
»Natürlich. Darin war ich eine Art Fachmann, wie Ihr Euch vielleicht entsinnt«, sagte Gregory. Und ehe ich auch noch aufbegehren konnte, hatte er schon seinen Bruder und Malachi als Zeugen geholt und dem schlafenden Kleinen Wasser aus dem Wasserschlauch an seinem Sattel auf den Kopf gespritzt.
»Peregrinus, ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.«
Vor Schreck fielen mir fast die Augen aus dem Kopf, doch da waren sie auch schon beim Vaterunser angelangt. Es war nicht mehr zu ändern.
»Wie hast du den Kleinen genannt?« sagte ich mit wachsendem Argwohn.
»Der Name paßt wunderbar, in Anbetracht der Umstände. Peregrin.« Gregory wirkte so gönnerhaft, als hätte er dem Kleinen eine große Wohltat erwiesen.
»Peregrin? Was für ein Heiliger ist das?« Ich war entgeistert. Zumindest hätte er mich vorher fragen können.
»Das ist Latein und bedeutet Pilger – Reisender – oder Wanderer«, sagte Bruder Malachi, der den Namen anscheinend auch ungemein passend fand.
»Peregrin? Du hast mein schönes Kindchen Peregrin genannt? Nicht nach einem Evangelisten oder einem Heiligen oder einfach nach einem heiligen Märtyrer?«
»Fürwahr, Margaret, er paßt einfach wunderbar«, strahlte Gregory. »Du mußt doch zugeben, daß nur wenige Säuglinge vor ihrer Geburt soviel herumgekommen sind – oder noch mehr herumkommen werden, ehe sie zu Hause sind.«
»Gar nicht so übel«, meinte Hugo. »Ganz und gar nicht übel, außer daß man ihn lieber nach einem Helden hätte nennen sollen – sagen wir, Oliver oder Floris oder vielleicht Gawain.«
»Oh, noch schlimmer. Alle von einem Stamm, die ganze Familie. Der Name eines Heiligen paßt immer gut.« Eine Verschwörung, ja, darum handelte es sich. Eine männliche Verschwörung.
»Wie auch immer, wir sollten lieber aufbrechen. Wir müssen die anderen einholen.«
»Einholen, Hugo? Glaubt Ihr wirklich, ich könnte in diesem Zustand reiten? Das ist, als würde man auf einem Furunkel sitzen. Außerdem bin ich entsetzlich müde.«
»Sir Hugo, in diesem Zustand darf eine Frau nicht bewegt werden. Sonst blutet sie zu stark.«
»Wir werden alle noch viel stärker bluten, wenn wir die anderen nicht einholen. Aber ich gebe ihr Zeit bis morgen. Wir stellen eine Wache auf und lagern hier, ohne Feuer zu machen. Aber morgen sitzt sie auf einem Pferd, Zustand hin, Zustand her.«
Mir galt es gleichviel. Morgen lag in weiter Ferne. Ich schlief mit dem Kleinen im Arm ein und merkte nicht einmal mehr, wer mich am Abend auf ein Bett aus Zweigen legte. Irgendwann wachte ich im Dunkeln auf, weil der Kleine sich rührte, und stillte ihn unter dem Sternenzelt. Mir war, als hörte ich in der Ferne etwas. Getöse. Irgend etwas Schlimmes. Aber es mochte auch Einbildung sein.
Am nächsten Morgen waren wir in aller Herrgottsfrühe reisefertig. Ein Brunnen, halb voll Schutt, hatte genug Wasser gespendet, daß wir den größten Schmutz des vergangenen Abends auswaschen konnten, und ich sah einen nassen Umhang hinter Gregorys Sattel hängen, als er mich auf die kleine Stute hob und mir Peregrin hochreichte. Ich war zu erschöpft und zu wund, als daß es mich gekümmert hätte, wie unmöglich mein Kleid aussah, während wir schweigend dahinritten, um am Ufer wieder auf die Straße zu stoßen. Dort jedoch, am Flußufer, bot sich uns ein gräßlicher Anblick. Das ausgebrannte Wrack eines der Schleppkähne, die uns voraufgezogen waren, trieb mit der Strömung flußabwärts. Es geriet in die Strudel und verfing sich einen Augenblick lang an einem Feldvorsprung, ehe es unseren Blicken entschwand. Doch in diesem Augenblick hatten wir alle mehr gesehen, als uns guttat. Auf dem verkohlten Wrack sichteten wir die abgehackten Gliedmaßen von entkleideten Leibern, die so unanständig angeordnet waren, daß sich meine Feder selbst jetzt noch sträubt. Und am Bug des Schleppkahns hatte man wie ein gräßliches Zerrbild von einer Gallionsfigur einen abgeschlagenen Kopf angebracht. Die Züge waren nicht mehr zu erkennen, doch oben auf dem Kopf saß eine Art Nachbildung einer Bischofsmitra aus Pergament. Wasserspritzer hatten bewirkt, daß sie nicht verbrannt war, doch die Tinte lief in großen, schwarzen Rinnsalen übers Gesicht. An der Schläfe des gräßlichen Kopfes baumelte ein Siegel wie ein Blutklumpen. Der päpstliche Gesandte. Ohne Peregrin würden auch wir unbestattet auf den eilenden, grünen Fluten dahintreiben.
»In der Regel dürften das englische Truppen gewesen sein«, sagte Gregory ruhig zu seinem Bruder.
»Du hast recht. Dieses eine Mal waren wir es nicht. Unsere Leute vergeuden keinen Schleppkahn. Das waren nicht Hawkwood oder die Gascogner; die würden ihm keinen Hut aufgesetzt haben.«
»Und sie hätten auch nicht auf das Lösegeld für einen Mann vom Rang eines päpstlichen Gesandten verzichtet.«
»Wahrscheinlich lagern sie immer noch betrunken von ihrer Siegesfeier weiter flußaufwärts«, sagte Hugo so ungerührt, als ob er sich übers Angeln unterhielte.
Und auf diese Weise erfuhren wir, daß der Erzpriester mit einem Heer aus dreitausend Söldnern und Abenteurern das Rhônetal hinuntermarschierte, auf die größte Beute der Christenheit zu: die Papststadt Avignon.
Über die darauffolgenden Tage möchte ich nicht schreiben, denn in meiner Erinnerung verschwimmen sie so sehr, daß sie einer oder tausend sein können – ich entsinne mich wirklich nicht mehr, obwohl man mir hinterher berichtet hat, es wären sieben gewesen. Wir verließen das Flußufer und schlugen uns tief hinein in das zerstörte Land, machten einen Bogen um die furchtbare Räuberstreitmacht. Wir sichteten sie nicht, außer daß wir einmal in der Ferne eine Rauchsäule ausmachten. Aber ihr Zerstörungswerk sahen wir überall: Verbrannte Obstgärten, bis zum Boden abgeholzt, die Ruinen von Klöstern, Dörfern und Kirchen. In diesem toten Land gab es nichts mehr, überhaupt nichts. Als eines der Pferde lahmte, waren die Männer so hungrig, daß sie ihm die Kehle durchschnitten, das Fleisch von den Rippen säbelten und es auf der Stelle roh aßen, denn wir hatten Angst, ein Feuer zu machen. Als meine Arme erlahmten, band ich mir den Kleinen vor die Brust. Und als ich nicht mehr sitzen konnte, banden sie mich im Sattel fest. Aber immer ritt Gregory neben mir, schweigsam und aufrecht führte er die Stute. Und jetzt zehrte ich von seinem Überlebenswillen; mein Mann, meine Kraft, mein Schutz und Schild.
Des Nachts schlief er mit gezogenem Schwert neben uns, neben dem kleinen Pilger und mir. Wir lernten, uns wortlos zu verständigen, denn was er dachte, das dachte auch ich, und wir konnten gemeinsam handeln, ohne daß ein einziges Wort zwischen uns fiel. Eines Nachts wachte ich auf, denn ich hatte einen kurzen, erstickten Schrei gehört, und da war die Decke neben uns leer. Gregory hatte jemanden überrascht, den es vom Heer des Erzpriesters verschlagen hatte, war ihm in den Rücken gefallen, als er auf unser Lager zugekrochen kam, und hatte ihm den Kopf abgeschlagen, ehe sein Bruder auch nur das Schwert ziehen konnte. Von der Beute, mit der der Mann beladen war, hätte man gut und gern einen Ritter freikaufen können, doch der Mann trug Kinderhände an einer Schnur aufgereiht, die sie schnell verscharrten, damit ich sie nicht zu Gesicht bekam. Aber natürlich gab es nichts, was ich nicht früher oder später auch erfuhr, denn unsichtbar für sie umwehte uns immer noch die Weiße Dame, wenn auch recht durchscheinend und formlos. Ein ums andere Mal hörte ich sie in der Dunkelheit wispern, schließlich mußte sie mir ihre Meinung und ihre Anmerkungen zu den Geschehnissen kundtun. Groß von Nutzen war sie jedoch nicht; sie hatte noch weniger Ahnung als wir, wo wir uns befanden.
Danach beschlossen wir, den Fluß ganz und gar zu meiden und uns ins Gebirge zu schlagen, wo wir der Sonne und den Sternen nach Norden folgen wollten. Bei Malachi hörte sich das einfach an, denn der behauptete, den Weg schon einmal gezogen zu sein, er stelle eindeutig eine Abkürzung nach Paris dar, und Hugo lachte und schlug ihn auf den Rücken, und das war denn auch das letzte Lachen für lange Zeit. Doch als wir auf bewohnte Dörfer stießen, wollten uns die mürrischen Bewohner keine nützliche Wegweisung geben, und ich fürchtete schon, daß wir uns hoffnungslos verirrt hätten. Aber Malachi sagte, er wüßte genau, wo er sich befände, und tat so zuversichtlich, daß wir Flüsse durchquerten und in der Richtung, die er uns wies, über Felsenpässe kletterten, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Mir aber stand bei all diesen Unbilden die heilige Jungfrau Tag und Nacht zur Seite, so daß meine Milch nicht versiegte und der kleine Wanderer nicht verhungern mußte.
Als wir die Berge endlich hinter uns ließen und sich vor unseren Augen ein üppiges, bestelltes Tal auftat, da wußten wir, daß wir den Pfad des Irrens hinter uns gelassen hatten. An einer Biegung des grünen, rasch fließenden Flusses, der sich durch das Tal schlängelte, ragten die Mauern und Türme einer blühenden Stadt empor. Nein – keine Stadt. Als wir dem Glockengeläut folgten, das über die Felder hinwogte, konnten wir über den Mauern die Kirchtürme und Kuppeln eines riesigen Klosters ausmachen, das uns willkommen hieß wie das himmlische Jerusalem. Wir ritten durch das kleine Dorf und machten vor dem großen Portal halt, schmutzig und abgerissen wie wir waren. Hugo in seiner eingebeulten und schwarz angelaufenen Rüstung beugte sich im Sattel vor und klopfte an das Gitter, um unsere Ankunft zu melden. Das Gitter ging auf, und ein argwöhnisch spähendes Gesicht lugte zur Hälfte heraus.
»Wer seid Ihr?« fragte eine Stimme auf Französisch, zwar mit starkem Akzent, aber doch in der langue d'oil. Ei, dachte ich, müssen wir einen langen Weg zurückgelegt haben, wenn wir bereits im Norden angelangt sind.
»Wir gehören zu der päpstlichen Gesandtschaft, die auf dem Weg nach Paris vom Erzpriester vernichtet wurde. Im Namen Gottes, habt Erbarmen mit uns.« Hinter dem Portal berieten sich Stimmen in Latein. Mich dünkte, ich hörte Worte wie »Normannen – Engländer« oder so ähnlich, dann rief die erste Stimme wieder durch das Gitter:
»Ihr müßt geloben, daß Ihr unseren geweihten Boden unbewaffnet betretet.« Als wir uns damit einverstanden erklärt hatten, ließ man uns ein, und wir stiegen im Außenhof, im Schatten einer mächtigen Mauer ab, das heißt Gregory hob mich und den Kleinen aus dem blutgetränkten Sattel, ehe er mit den anderen seine Waffen abgab. Selbst die Messer zum Essen nahm man ihnen noch fort. Zu solch gefährlichen Zeiten konnten die Mönche kein Risiko eingehen, nicht einmal mit ihrer Gastfreundschaft. Während die Pferde in die Ställe geführt wurden, brachten uns Laienbrüder zu einem niedrigen Haus aus Stein, das sich im Schatten des Torhauses an die Außenmauer duckte. Es wirkte ausgesprochen bescheiden, dieses Pilgerhaus mit seinem Strohdach und den schmalen Fenstern ohne Läden. Und so wirkten auch die Leute, die im sonnenbeschienenen Dreck vor der Schwelle herumlungerten: Ein alter Soldat mit nur einem Bein schwatzte mit zwei uralten Kerlen, deren einzige Pilgerreise von kostenloser Unterkunft zu kostenloser Unterkunft führen durfte.
»Mit Verlaub, was ist das? Ein Bettlerquartier? Seht her, Kerls, Ihr habt Euch in meinem Rang getäuscht. Wo ist Euer Haus für vornehme Gäste?« Hugos Stimme klang ganz schrill, so empört war er. Als er sich umdrehte und einen samten gekleideten Edelmann mit Schnabelschuhen erblickte, wie er sich zierlich einen Weg von den Ställen zu einem elegant aussehenden Gästehaus dicht bei der Kirche suchte, da schwoll ihm das Blut in den Adern am Hals.
Die Brüder, die uns begleiteten, musterten erst das Gästehaus für den Adel. Darauf musterten sie Hugo von Kopf bis Fuß. Sie rümpften die Nase, wie es Franzosen tun, wenn die Soße versalzen oder der Wein voller Korkenstückchen ist. »Euer Rang?« sagte einer mit unverkennbar sarkastischem Ton. Unrasiert und schmutzig und in dem wattierten, rostfleckigen Waffenrock, den er unter dem Brustharnisch getragen hatte, sah Hugo nicht besser aus als der Sohn eines Flickschusters, der unter die Söldner gegangen ist. Dünner war er auch geworden, und so paßte ihm der Waffenrock, als stammte er von einem Leichnam. Wir übrigen sahen womöglich noch schlimmer aus.
»Hugo, reize sie nicht«, zischte Gregory mit zusammengebissenen Zähnen, doch Hugo ließ alle Vorsicht fahren.
»Mein Rang, du niedrig geborener, französischer Psalmendudler! Du beleidigst einen Edelmann, den Erben von Brokesford!« Er war im Gesicht rot angelaufen, und seine Hand fuhr zu der Stelle, wo sein Schwertknauf hätte sein müssen. Gregory und Malachi ergriffen ihn bei den Armen, wollten ihn zurückhalten, doch er blies sich auf wie ein zorniger Ganter, und ihre Bitten sich zu beruhigen fruchteten nichts, im Gegenteil.
Als der Aufruhr immer lauter wurde, erschienen weitere Brüder auf dem Schauplatz und berieten sich. Auf einmal machte einer von ihnen, der nach mehr aussah, eine Handbewegung, und die beiden Laienbrüder lösten sich aus der Gruppe und führten uns in unser Quartier. Das Gebäude wurde durch eine Innenmauer in zwei große, kahl wirkende Räume unterteilt, jeder mit eigenem Eingang. Offensichtlich war der eine für Frauen, der andere für Männer. Als Hilde und ich im niedrigen, steinernen Eingang standen und uns die schlichten, weiß getünchten Wände des Raumes ansahen, in dem es lediglich eine Bank, eine Reihe von Strohsäcken und eine blinde, alte Frau gab, die in der Ecke vor sich hinsummte und ein Bündel in den Armen wiegte, da konnten wir Hugo draußen vor dem Haus immer noch brüllen hören.
»Ihr dickköpfigen Trottel, ihr habt ja keine Ahnung, wie man einen Mann von edlem Geblüt behandelt! Geschähe euch nur recht, wenn man Euch das ganze Ding über dem Kopf anzündete! Mir steht eine besondere Unterkunft zu, hört ihr, nicht diese Bruchbude!«
»Eine besondere Unterkunft?« hörte ich sie antworten, als das Gebrüll nachließ. »Ja, Mylord, da mögt Ihr recht haben. Wir haben einen Fehler gemacht. Ihr sollt eine besondere Unterkunft bekommen. Laßt Euch dorthin führen, wohledle Gäste.«
Ich war jedoch so müde, daß mir selbst ein Strohsack in einem kahlen Raum wunderbar vorkam. Erst als wir nach Stunden aufwachten, stellten wir fest, daß man die Tür von außen verriegelt hatte.
»Bruder, es tut mir leid«, sagte Gregory. Die Ketten rasselten, als er seine langen Beine auf dem Steinfußboden im Gefängnis des Abtes ausstreckte. Ein Lichtstrahl hatte sich durch den schmalen Schlitz über ihnen gestohlen und warf einen hellen Streifen auf die schwere, eisenbeschlagene Tür. Gregory war sehr niedergeschlagen zumute. Er hatte sich das Latein auf der anderen Seite der Tür angehört, und das verhieß nichts Gutes. Soweit er die Unterhaltung mitbekommen hatte, ging es darum, ob der Abt ihnen die Haut bei lebendigem Leibe abziehen oder sie schlicht köpfen sollte, um sie dann als Warnung für andere Söldner an der Mauer aufzuhängen. Das Ende. Wenn das nicht niederschmetternd war. Hugo focht das jedoch nicht weiter an. Warum sollte er ihm die letzten Minuten auf Erden mit dieser bösen Nachricht vergällen? Soviel zumindest schuldete er ihm.
»Unfug, Unfug«, sagte Hugo fröhlich. »Alles ein Fehler. Das klärt sich bald auf. Laß mich nur mit dem Abt reden, dann kommt Licht in die Sache. Mehr braucht es nicht. Wahrscheinlich habe ich sie erbost, als ich ihre ziemlich schäbige Gastfreundschaft angeprangert habe. Diese fremdländischen Mönche kennt man doch. Empfindlich, alle, wie sie da sind. Das kommt im Nu in Ordnung, ich muß mich nur entschuldigen. Uns steht eine bessere Unterkunft zu, und die bekommen wir, sobald er davon hört. Schließlich reisen wir mit einem päpstlichen Geleitbrief. Er schuldet uns Rücksichtnahme.«
»Hugo, der päpstliche Geleitbrief schwimmt flußabwärts auf dem Kopf des Gesandten. Wir können nichts beweisen; wir können nicht einmal beweisen, daß wir keine Söldner sind. Ohne das Dokument sind wir verloren.«
»Tod und Teufel, Gilbert. Du bist immer noch krank, das ist es. Ich habe bessere Mittel, mir die Zeit zu vertreiben. Ich finde, ich sollte ein Gefängnislied dichten. Das ist der letzte Schrei; damit kann ich berühmt werden. Also – ›du edle Seele bist zu hehr für Stein und Ketten‹ – das bin natürlich ich. Und dann sollten Vögel darin vorkommen, die frei herumflattern. Das ist Symbolik. Habe ich dir eigentlich erzählt, daß ich drei Unterrichtsstunden in Symbolik genommen habe? Der Trick ist, daß sich die Symbole reimen. Ich hätte wohl noch mehr Unterricht nehmen sollen. Habe ich dir erzählt, daß er zu Petrarcas Füßen gesessen hat?«
»Mehr als einmal, Hugo.« Statt sich zu grämen, wurde Gregory immer gereizter. Hugo blieb Hugo, bis zum bitteren Ende.
»Also – humta, humta – tatata – hm. Zuerst muß man das Versmaß hinbekommen. Habe ich dir schon gesagt, daß man für Gedichte ein Versmaß braucht?« Gregory biß die Zähne zusammen.
»Bruder, ich versuche meine Seele von lebenslanger Sünde zu reinigen, indem ich dir beichte. Kann das Gedicht nicht warten?«
»Beichten? Wieso denn? Du führst dich auf wie ein Verurteilter. Also – was reimt sich auf Vogel, nein, besser auf oiseau?«
Die Lauscher vor dem Spalt beugten sich vor. Der kleine Luftschacht in der Zelle war beinahe unsichtbar, doch jedes Wort, das ein Gefangener sprach, war in dem winzigen Raum dahinter zu hören.
»Psst! Er will beichten!«
»Aber müssen wir das Gedicht auch aufschreiben?«
»Der Abt hat gesagt, wir sollten sie nach der ersten Befragung zusammenstecken und alles aufschreiben. Er will ganz sichergehen. Du schreibst das Gedicht auf, ich die Beichte.«
»Immer ich – das Gedicht ist gräßlich.«
»Nicht meine Schuld, oder?« Und zwei Griffel schwebten über den Wachstafeln, derweil Hugo es noch einmal versuchte, nachdem er oiseau gegen hirondelle ausgetauscht hatte.
»Bruder ich habe dich beneidet, weil du der Erstgeborene warst. Bitte, vergib mir.« Gregorys Stimme klang ernst. Einen ganzen Monat hatte er sich damit herumgequält und die Sünde von mehreren Gesichtspunkten aus betrachtet, die theologisch allesamt interessant waren.
»Der Erstgeborene? Klar hast du mich beneidet. Wieso auch nicht? Ist doch nur recht und billig. Ich bekomme den Titel, du gar nichts. So ist das nun einmal. Und so wird es immer sein. Du hast es nie verstanden, dich mit dem Unvermeidlichen abzufinden. Mir meinerseits ist das schon vor langer Zeit aufgegangen, und ich beneide dich nicht mehr.«
»Neid? Du und neidisch?« Vor Schreck verflog Gregorys gedrückte Stimmung.
»Klar doch. Ich habe dich um deine Freiheit beneidet. Glaubst du etwa, es ist ein Vergnügen, bei einem knauserigen, alten Tyrannen wie Vater Mädchen-für-alles zu spielen? Und als du das ganze Geld geheiratet hast, ohne dafür in den Krieg ziehen zu müssen, da bin ich fast durchgedreht vor Neid. Zum Glück ist er verflogen wie eine Krankheit. Und jetzt habe ich meine Muse gefunden – welche Muse, sagtest du, ist die Poesie?«
»Für deine Art von Poesie? Vermutlich Erato.«
»Aha, die Muse also. Sag, weißt du nicht einen anderen französischen Vogel, hirondelle inspiriert mich nicht gerade. Was hältst du von alouette?«
»Nun, haben sie etwas preisgegeben?« sagte eine kultivierte Stimme hinter den Lauschern.
»Mon Seigneur Abt!« Die Lauscher fuhren herum. Da stand nun in der Tat Abt Thibault höchstpersönlich in voller Jagdausrüstung, eine Ambrakugel in der behandschuhten Hand, um sich gegen den Gestank dieses Ortes zu schützen. In der anderen hielt er eine Leine, mit der er ein Paar englische Doggen in Schach hielt. Hinter ihm trippelten sein Lieblingswindhund und sein Privatsekretär, Frere Guillaume. Bei so viel Neuankömmlingen, Mensch und Tier gleichermaßen, herrschte in dem schmalen Raum hinter der Mauer drangvolle Enge.
»Einer von beiden – der Dunkle – will beichten, aber der andere will ihn nicht zu Wort kommen lassen, weil er gerade ein Gedicht macht.«
»Ein Gedicht? Bei Gott, der Mann hat sang froid. Nehmt Euch den Feigling zuerst vor. Wir müssen die Sache beschleunigen.« Die Ambrakugel machte eine matte, kreisförmige Geste. »Wir müssen herausfinden, für wen sie spionieren, ehe uns ihre Kumpane über den Hals kommen. Würde mich gar nicht wundern, wenn es der Erzpriester selber wäre, der seine Kriegskasse mit den Bestechungsgeldern des Heiligen Vaters aufgestockt hat. Da er den Heiligen Stuhl verschont hat, dürfte er hungrig sein« – er hielt inne und prüfte die Notizen des Schreibers, dann sagte er zu seinem Sekretär gewandt: »Wie gut, daß dieser Prahlhans ihre Pläne verraten hat. Ich bin gern gewarnt, wenn ich mich schon auf einen Angriff mit Belagerungsmaschinen vorbereiten muß. Frere Guillaume, habt Ihr angeordnet, daß man die Wachen verdoppelt?«
»Ja, natürlich, Mon Seigneur Abt.« Frere Guillaume verneigte sich beim Sprechen, obwohl ihm dabei bedauerlicherweise die vielen Leiber in dem Zimmer in die Quere kamen.
Als die schwere Tür aufging, verwunderte sich Gregory nicht, daß man ihn haben wollte. Als Letzter geboren, als Erster gehäutet, dachte er. So geht es immer in dieser Familie. Als sie das Ritual durchgingen und ihm die Folterwerkzeuge zeigten, sagte er spöttisch: »Gewiß doch. Was soll ich Euch gestehen?«
»Die Wahrheit«, sagte der Abt, reichte Frere Guillaume die Leine und roch an seiner Ambrakugel.
»Das kann ich auch ohne das ganze Zeug da«, sagte Gregory und wies auf die bescheidene, doch sehr moderne Sammlung von Wahrheitsbeschaffern. Der Abt sprach mit seinen Mönchen in Latein.
»Soviel ich weiß, habt Ihr gesagt, er wäre der Feigling.« Gregory bekam rote Ohren, sagte aber nichts.
»Ich finde, Ihr nehmt uns nicht ernst genug«, sagte der Abt und wandte sich wieder Gregory zu.
»Ganz im Gegenteil, ich nehme Euch überaus ernst«, antwortete Gregory.
»Dann sagt uns, wie Ihr hierhergefunden habt.«
»Das habe ich doch schon gesagt. Wir sind dem Erzpriester an der Rhône oberhalb von Avignon entkommen.«
»Das ist gelogen. Keiner entkommt dem Erzpriester«, gab der Abt zurück und gab das Zeichen für den nächsten Grad der Befragung. Gregory war ein wenig zu lang für das Streckbett, und so dauerte es ein Weilchen, bis man ihm alles angepaßt hatte.
»Meiner Treu, ist der aber knochig«, meinte einer der sich abmühenden Brüder in Latein, als er die nackte Gestalt musterte.
»Ein regelrechter Hungerleider«, pflichtete ihm sein Kollege bei. »Diese Räuber aus dem Bauernstand sind doch alle gleich – keinerlei Muskeln. Aber der andere sieht mir stämmiger aus. Es würde mich gar nicht wundern, wenn der wirklich von Adel wäre.« Vor Wut lief Gregory am Hals rot an, dann schoß ihm die Röte ins Gesicht. Wenn er eine empfindliche Stelle hatte, dann Blutlinien und die gerechte Ordnung des Universums.
»Seht Ihr das«, sagte Frere Guillaume zu seinem Herrn, »ich glaube, der Kerl versteht Latein.« Der Blick des Abtes huschte über Gregorys hochrotes Gesicht.
»Jetzt wird es in der Tat interessant«, sagte der Abt und roch erneut an seiner Ambrakugel. »Ein abgefallener Priester vielleicht. Dieser Tage schließt sich den écorcheurs Abschaum aller Arten an.« Er durchquerte den Raum, beugte sich zu Gregory hinunter und sagte in Latein:
»Sagt mir, wer Euer Herr ist.« Er winkte gedankenverloren, und die Höllenmaschine wurde um ein Rad weiter gedreht.
»Der Herzog von Lancaster.«
»Aha. Schon besser. Der englische Herzog. Und was tut Ihr hier so fern der Normandie? Und warum sollten wir Euch nicht allein schon dafür den Behörden in Dijon überantworten?«
»Weil wir mit einem päpstlichen Geleitbrief reisen. Und dann, warum Dijon? Liegt Paris nicht näher?«
»Paris? Wißt Ihr nicht, wo Ihr seid?«
»Nicht so recht. Wir konnten nicht weiter mit der Gesandtschaft reisen, da die Herrin, meine Frau, zu völlig unpassender Zeit in die Wehen kam. Wir haben uns solange versteckt, bis sie niedergekommen war, und haben dann einen Bogen um die écorcheurs gemacht. Wir dachten, wir hätten uns nordwestlich gehalten.«
»Ihr seid in St. Michel Archange in Burgund.«
»Burgund? Mein Gott. Dieser verfluchte Malachi. Er hat gesagt, er kennt sich in der Gegend aus.« Dem Abt fiel etwas Glitzerndes ins Auge. Ein versilbertes Medaillon von geringem Wert, das auf dem knochigen Oberkörper des écorcheur lag. Er erkannte es – eines von Tausenden, wie sie der Papst jedes Jahr segnete. Ein Pilgerandenken. In der Abtei gab es mehrere von der Sorte.
»Wem habt Ihr das gestohlen?«
»Nicht – gestohlen. Hat – man – mir als – Glücksbringer – für die Reise – geschenkt. Glück – haha.« Der Abt blickte von seiner Arbeit auf, als hinter ihm diskret gehüstelt wurde. Ein Laienbruder war mit einer Botschaft hereingekommen und unterhielt sich leise mit ihm. Gregory bekam ein paar Worte wie Beichte und Frau mit und daß der Abt jetzt etwas lauter sagte: »Ein eigenartiger Name, das. Nicht von der Art, wie sie bei seinesgleichen beliebt ist. Eher hätte man einen Heiligennamen erwarten dürfen –« Gregory spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Margaret. Sie hatten ihr wehgetan. Der Abt begab sich wieder an die Arbeit.
»Ihr seid ein Spion des englischen Herzogs?«
»Nein – welcher Spion – nimmt schon – seine schwangere – Frau mit?«
»Wer seid Ihr dann?«
»Sein Chronist.« Die behandschuhte Hand gab noch einmal das Zeichen.
»Sein Chronist?« Bruder Malachi sprach mit vollem Mund um den Kapaun herum. Er schenkte sich schon wieder aus einem von mehreren vollen Weinkrügen nach, mit denen der Tisch in dem behaglichen Haus für hochgestellte Gäste reich bestellt war. Das Haus duckte sich in den Schatten der riesigen, hoch gewölbten Abteikirche. Talgkerzen wehrten der Dunkelheit, und in der Herdstelle knisterte ein anheimelndes Feuer.
»Ja, das habe ich gesagt, und er sagte: ›Aha, ein Gelehrter. Das erklärt auch, warum Euer Sohn Peregrinus heißt. Ihr hättet ihn Fortunatus nennen sollen, denn er hat Euch zweimal das Leben gerettet.‹ Und dann waren wir, oh, ein Herz und eine Seele. ›Ihr werdet doch in Eurer Chronik nicht schlecht über mich schreiben, oder?‹ ›Ich bin ein großherziger Mensch‹, sage ich. ›Ich kann alles vergeben, wenn man mich gut behandelt. Meine Frau ist beispielsweise sehr müde und hungrig und hat nichts mehr anzuziehen.‹ Er sieht besorgt aus. ›Der Herzog dürfte wissen, wo Ihr Euch befindet.‹ ›Natürlich weiß er das, ich mache ihm regelmäßig Meldung‹, sage ich. ›Ich kann Eure Gedanken lesen, nichts davon, sie sind Eurer nicht würdig‹, füge ich noch hinzu, ›Äbte, die einen Chronisten erschlagen, sind bis in alle Ewigkeit gebrandmarkt. Dafür sorgt die Bruderschaft der Gelehrten. Ihr als gebildeter Mann wißt sicher, wie das vor sich geht. Ist ewiger Ruhm da nicht besser?‹ ›Ich habe selber einen Chronisten‹, knurrt er. ›Angenehm für einen guten Ruf zu Hause‹, sage ich, ›aber es würde mich wundern, wenn Ihr in einer der wirklich großen Chroniken auch nur mit einer Zeile erwähnt würdet. Mein Herzog aber ist Fürst in zwei Nationen – in seiner Chronik vorzukommen lohnt sich. Ich könnte mir denken, daß Ihr einen ganzen Absatz erhalten würdet.‹ ›Einen?‹ fragt er. ›Das wird mir kaum gerecht.‹ ›Der Herzog von Burgund hat lediglich zwei‹, sage ich. ›Daran könnt Ihr ermessen, wie knapp der Platz in einer wirklich bedeutsamen Chronik ist.‹ ›Nur zwei?‹ sagt er und blickt ganz argwöhnisch. ›Wieviele hat denn der Abt von Cluny?‹ ›Der jetzige?‹ sage ich ganz unschuldig. ›Ei, der hat nicht einmal eine halbe Zeile, und das nur im Zusammenhang mit dem Herzog.‹ Seine Augen werden schmal, und er denkt ein Weilchen nach, dann sagt er: ›Ich will drei‹, und da wußte ich, er hatte angebissen. ›Ich bin viel mehr wert als der Herzog von Burgund, mein geistlicher Ruf, Ihr versteht‹ –«
»Kostet diesen Wein, Sir Hugo«, kam Bruder Malachi dazwischen und nahm Sim die Flasche weg.
»Dieser Fasan ist ausgezeichnet«, verkündete Hugo und wischte sich den Mund mit dem Tischtuch. »Probiert einen Bissen, alter Fuchs«, und Hugo tauschte den Vogel gegen den Wein ein. »Das macht die Soße. Auf Soßen verstehen sich diese Franzosen wirklich.« Er unterdrückte einen wohltuenden Rülpser. »Also, ich für meinen Teil habe dem Mann angeboten, eine Dankesode auf ihn zu dichten, aber er hat gesagt, das wäre des Guten wirklich zuviel und hat gebeten, daß Gilbert und ich uns sein Skriptorium ansehen. Und seine Bücherei. Von oben bis unten voller Bücher – kein Wunder, daß diese Ausländer allesamt eine weiche Birne haben. Morgen müssen wir uns seine heilige Quelle und seine Sammlung von Schreinen ansehen, und auch das Wasserrad, das er für seine Mühle hat bauen lassen. Das größte in der ganzen Gegend, so sagt er. Was für ein Schaumschläger.« Robert, der dem Wein tüchtig zugesprochen hatte, ließ nun auch vom Essen ab, lag an die Wand gelehnt, zupfte mißtönend seine Laute und sang:
›Dû bist nûn mîn, ich bin dîn,
Des solt dû gewis sîn .. .‹
»Trinken wir auf Clio, die Muse der Geschichte«, schlug Bruder Malachi vor und schenkte sich nach.
»Und was ist mit Erato?« begehrte Hugo beinahe kläglich auf.
»Auf die auch«, sagte Gregory, »obwohl sie eine lästige Geliebte sein kann.«
»Geliebte? Und dabei dachte ich, du wärst ein langweiliger Ehemann«, sagte Hugo mit schwerer Zunge.
»Bin ich auch«, erwiderte sein Bruder. »Wenn sie mir doch nur Kunde von Margaret bringen würden, wie ich gebeten hatte. Das ist die einzige Schwierigkeit hier. Die nehmen es mit der Trennung der Geschlechter peinlich genau. Habe ich euch schon erzählt, daß wir morgen oben am Tisch zur Rechten des Abtes speisen? Zumindest die Lateinisch Sprechenden. Du sitzt oben am Gästetisch, Hugo. Nein, nein – er will dich damit nicht beleidigen –, er sagt, daß Klerikerwitze die meisten adligen Gäste langweilen, selbst wenn sie nicht in Latein sind.« Als zwei Laienbrüder eintraten, brach er ab.
»Der Herrin, Eurer Gemahlin, geht es gut, Mylord Chronist. Sie sitzt mit offenem Haar im Bett, stillt den Kleinen, ißt Süßigkeiten und beklagt sich. So sind die Frauen.« Gregory sah die entsetzte Miene des Mannes, und ein eigenartiges, ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Beklagt sich? Worüber denn?«
»Sie sagt, das Federbett ist nicht weich genug, und die Magd, die wir aus dem Dorf geholt haben, nicht flink genug, und in dem Bad, das wir ihr gerichtet haben, ist kein Rosenwasser. Sie sagt, es kommt sie schwer an, ohne Rosenwasser zu baden.«
»Bruder, das hört sich nicht nach deiner Frau an; das klingt wie meine.«
»Einen Augenblick«, gebot ihm Gregory Schweigen. »Ich möchte mehr hören.«
»Oh, wie konnten wir nur daran zweifeln, daß sie keine ganz große Dame ist? Sie sagt, das Leinenhemd, das wir ihr geschickt haben, ist zu grob und kratzt ihr die Haut auf, und sie will neue Windeln und einen Reisekorb für den Kleinen haben. Sie sagt, sie möchte ihren Kirchgang machen und ausgesegnet werden, und wir sollen ein Fest richten, sonst würde sie niemals glauben, daß unser Orden Ansehen genießt.«
»Oh, sie ist eine Tyrannin, eine Hexe«, murmelte der zweite Laienbruder. »Wer heiratet, ist ein Narr, ein Honigtopf hat ihn dem Teufel höchstpersönlich in die Hände gespielt.« Er schüttelte den geschorenen Kopf. »Und die schlimmsten Frauen«, fuhr er verbittert fort, »sind die von edlem Geblüt.«
»Nicht auszudenken, was sie zu mir gesagt hat.« Der erste wandte sich hilfesuchend an seinen Gefährten. »Ungezogen bin ich, hat sie behauptet! Man stelle sich vor! Gott bewahre mich vor den Schlichen und Tücken der Frauen!« Der erste Bruder bekreuzigte sich.
»Ich danke Euch für die Kunde. Schickt der Herrin, meiner Gemahlin, dieses Gericht von unserer Tafel und versichert sie meiner Gunst«, sagte Gregory in dem hochfahrenden, frostigen Ton eines großen Herrn. Als sie gegangen waren, lachte er. »Um Margaret brauche ich mir keine Sorgen zu machen, die hat ihren Spaß.«
»Spaß? Ich würde sagen, sie ist in Windeseile ein verwöhntes Balg geworden. Du wirst sie wieder schlagen müssen, Bruder.«
»Wofür? Hast du nicht selbst gesagt, daß sich deine Frau genauso aufführt? Wieviele Monate, glaubst du, hat Margaret sie wohl beobachtet? Du unterschätzt sie, Hugo. Sie ist eine hervorragende Schauspielerin, und Spaß macht es ihr auch. Sie überzeugt sie, daß sie eine große Dame ist, weil sie sich genau so benimmt, wie man es von ihr erwartet. Ich glaube, das Gericht wird ihr zusagen. Es sieht aus, als wäre es ganz aus Gemüse.«
Hoch oben in der Ecke erblickte ich einen Nebelwirbel. »Gut gemacht«, verkündete die Weiße Dame. »Ja – besser hätte ich das auch nicht hinbekommen.« Der Wirbel wirkte ausgesprochen selbstgefällig. »Eine richtige Dame erkennt man an ihren Wutausbrüchen.« In der Geisterstimme schwang ein Anflug von fröhlicher Überheblichkeit mit. Sie musterte das elegante, kleine Zimmer, den reich bestellten Tisch, die kleine Wiege und das hohe, weiche Federbett. Das Gästehaus für hochgestellte Damen besaß vor der Haustür sogar einen Garten mit hoher Mauer, damit selbst eine Gräfin oder Königin frische Luft schöpfen konnte, ohne die Brüder mit ihren farbenprächtigen Gewändern oder blitzenden Augen in Versuchung zu führen.
»Was sagt sie jetzt, Margaret?« fragte Mutter Hilde. Die saß auf einem prachtvoll geschnitzten, kleinen Stuhl und zählte glücklich die Schätze ihrer Pilgertasche durch. Mutter Hilde ist als Andenkensammlerin wirklich unübertroffen. Man könnte fast auf die Idee kommen, daß ihr ein Andenken lieber ist als ein Besuch der Stätte selbst. Sie behauptet, wenn man irgendwo nur gewesen ist, dann hat man diesen Ort lediglich im Kopf; wenn man aber ein Andenken hat, dann weiß jedermann, daß man dort gewesen ist und zollt einem Achtung. Natürlich könnte man sich auch eine Lügengeschichte über einen alten Stein oder ein Fingerknöchelchen ausdenken und damit die gleiche Wirkung erzielen – und man sollte meinen, nach all den Jahren, die sie nun schon mit Bruder Malachi zusammenlebt, sollte sie wissen, wie man das macht. Aber nein, sie sagt, Fälschungen helfen dem Gedächtnis nicht so auf die Sprünge, und sie muß sich doch sehr über mich wundern. Also wiederholte ich ihr die Worte der Weißen Dame, denn sie konnte sie nicht so deutlich hören wie ich.
Die arme Dorftrine, die man mir geschickt hatte und die Gott-weiß-was für einen Dialekt sprach, kauerte in der anderen Ecke so weit wie möglich von der feuchtnebligen Weißen Dame entfernt und zitterte und weinte. Offen gestanden, mit der war nichts anzufangen. Was war nur in die Mönche gefahren, daß sie mir solch ein rückgratloses, unnützes Geschöpf als Hilfe geschickt hatten? Keine Ahnung. Und von dem, was wir sagten, schien kein Wort in ihren Schädel zu gehen.
»Also, habe ich das richtig verstanden? Ihr seid in Burgund?«
»Ja, Madame Belle-mere.« Ich konnte das Wandbild – die klugen Jungfrauen mit ihren angezündeten Lampen – geradewegs durch sie hindurch sehen, denn sie wirkte längst nicht mehr so hitzig und erregt wie früher.
»Gut, das fügt sich ausgezeichnet. Meine Schwester, die, welche sich so gut verheiratet hat, lebt in Brabant. Sie hat ein prächtiges, großes Haus und nimmt Verwandte immer sehr gastfreundlich auf. Dorthin müßt Ihr gehen. Vom Hof zu Hainault gehen viele Boten dorthin und auch zurück, Ihr könnt also leicht auf diesem Wege heimkehren. Verstanden? Es ist wirklich ganz einfach.«
Mir wollte das gar nicht so einfach erscheinen, aber ich widerspreche Madame Belle-mere grundsätzlich nicht. Sie war es zufrieden und ging wie üblich ihrer Wege. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie schien mir ausgesprochen dünner, oder besser gesagt, flüchtiger und hatte sich seit dem Zwischenfall mit dem gräßlichen Grafen nicht mehr halb soviel manifestiert.
»Sie ist fort, Margaret. Laß uns das Gericht kosten, das Gregory uns geschickt hat. Ei, waren diese Laienbrüder nicht komisch! Ich kann mir schon denken, warum sie immer paarweise auftreten, sie sind sich gegenseitig Schutz und Trutz vor uns.« Sie hielt ein glattes Steinchen mit winzigen Farbeinschlüssen hoch. »Sieh dir das an, Margaret, das ist ein neuer. Sie haben innerhalb der Mauer, nahe beim Dorfeingang, eine heilige Quelle mit einem prächtigen Schrein darüber, an dem überall Krücken von Verkrüppelten hängen, die durch dieses Wasser geheilt wurden. Malachi hat sie mir heute nachmittag gezeigt, als er und diese Laienbrüder mich zu den Reliquien in der Kirche begleitet haben. ›Gut, gut, Malachi‹, habe ich zu ihm gesagt, ›als ich dir erzählt habe, daß ich gern reisen und neue Orte und Menschen kennenlernen möchte, da habe ich nicht diesen Ort und diese griesgrämigen Brüder gemeint. Aber da sich alles zum Besten gewandt hat, möchte ich ein Andenken haben.‹ Und so habe ich diesen kleinen Kiesel mitgenommen.«
Wenn ich doch auch hinauskönnte, dachte ich. Die scheinen der Meinung zu sein, ich muß das Bett hüten. Und weil ich noch nicht ausgesegnet bin, wollen sie vermutlich nicht, daß ich durch die Gegend laufe. Wenn sie mich hier noch länger einsperren, muß ich wohl einen weiteren Wutanfall bekommen. Die sind weitaus erquicklicher, als ich mir hätte träumen lassen. Ich merke schon, man kann sich richtig daran gewöhnen.
»Denk nur, Mutter Hilde«, sagte ich, »wenn nun jeder Pilger einen Kiesel mitnimmt, dann liegt die kleine Quelle in hundert Jahren kahl und bloß da.« Ich mußte sie einfach ein wenig aufziehen.
»O nein, Margaret«, versicherte sie mir. »Gott läßt neue Steine wachsen, damit jeder einen bekommt. Aber jetzt koste einmal von dem Würzwein, den der Abt geschickt hat. Der ist sicher gut für deine Milch.«
»Nicht so gut wie Ale, Mutter Hilde, und das weißt du sehr wohl. Ach, wenn ich doch schon zu Hause wäre.«
»Oh, ich weiß nicht so recht«, sagte Mutter Hilde mit gedankenverlorenem Blick. »Jetzt, wo alles gut geendet hat, würde ich gern noch ein paar neue Orte sehen. Und wer weiß? Vielleicht, eines Tages – China.«
»Mutter Hilde, du bist unverbesserlich.«
»Hältst du mich für schlecht? Warte nur, bis du so alt bist wie ich, Margaret – warte nur.«
Mitten in der Nacht hörte ich einen Laut, wie ihn Lion, mein Hund, macht, wenn er an der Tür kratzt und Einlaß begehrt.
»Lion, geh weg, ich schlafe«, murmelte ich und drehte mich in dem schönen, weichen Federbett um, das Mutter Hilde und ich teilten. Das Einschlafen fiel mir schwer. Das Dorfmädchen, das am Fußende lag, schnarchte so. Und sie schlief wie ein Klotz, so daß nicht einmal das Weinen des Kleinen sie aufwecken konnte. Genau die Art Mädchen, welche Mönche als Hilfe für eine junge Mutter aussuchen würden.
»Lion?« Ich fuhr jählings hoch. »Aber wir sind doch noch nicht zu Hause – wer ist da?« flüsterte ich. Mutter Hilde öffnete ein Auge.
»Ich würde mich doch sehr wundern, wenn das nicht dein Mann wäre«, sagte sie und machte es sich sofort zunutze, daß ich aufstehen mußte, zog die ganze Decke zu sich herüber und schlief wieder ein.
»Gregory? Bist du das?« flüsterte ich.
»Natürlich. Mach die Läden auf«, flüsterte es zurück.
»Warum bist du nicht eher gekommen?« fragte ich, während ich die hohen Läden öffnete und in die Dunkelheit spähte. »Mir haben sie gesagt, daß sie dir zu Ehren ein Fest geben und daß du mich nicht sehen willst, und da habe ich einen Wutanfall bekommen, und sie haben mir diese ganzen Sachen gebracht. Da war ich überzeugt, daß es dir gutgeht. Komm herein, du fehlst mir so.« Ich konnte ihn im Dunkeln, wo er zwischen Malachi und Hugo stand, so eben ausmachen.
»Das geht nicht. Der Mond scheint zu hell. Wir sind im Schatten der Kirchenmauer gekommen, damit man uns nicht sieht. Die Pforte zu deinem Garten haben sie so angelegt, daß sie von den Schlafsaalfenstern aus einzusehen ist. Aber das Fenster hier liegt um die Ecke herum und im Schatten.«
»Dann klettere durchs Fenster.«
»Geht nicht. Sie haben mich heute nachmittag auf die Streckbank gelegt – sagen wir, die ersten Grade der Befragung angewendet. Jetzt tun mir alle Knochen im Leib weh.«
»Oh, diese Lügner, diese Verräter! Und mir haben sie gesagt, es geht dir gut.« Nun merkte ich auch, daß Hugo und Bruder Malachi, die neben ihm standen, ihn aufrecht halten mußten. »Und betrunken bist du auch, ja?«
»Betrunken wie ein König – nein, betrunken wie ein Kaiser. Das macht es etwas besser. Aber nur keinen Aufstand, ich soll es vor dir geheimhalten.«
»Ja, wir mußten sogar schwören«, sagte Hugo. Er war kaum noch der Sprache mächtig und schwankte selber so sehr, daß er sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt.
»So macht die Kirche es immer, wenn sie foltert«, hickste Bruder Malachi. »Aber sie haben sich wirklich anständig entschuldigt, also mach im Nachhinein keinen Wind mehr. Wer gibt schon gern einen Fehler zu. Da ist es einfacher, die Beweise zu vernichten.«
»Das ist gräßlich, einfach gräßlich! Und ich soll dazu den Mund halten?«
»Unbedingt«, hörte ich Gregory sagen, als ich mich aus dem Fenster beugte.
»Malachi«, flüsterte ich zu ihnen ins Dunkel hinunter. »Ihr und Hugo schiebt ihn auf der Stelle durchs Fenster. Meine Kräfte sind zurückgekehrt, und damit auch meine Gabe.«
»Gabe, welche Gabe? Dummes Zeug!« hörte ich Hugo sagen.
Aber Malachi gebot ihm nur: »Haltet den Mund und schiebt, Ihr werdet Euer blaues Wunder erleben.« Gregory fiel als formloses, stöhnendes Bündel durchs Fenster. Ich streckte ihn aus und machte mich an die Arbeit, tastete seine Gelenke ab, berührte sie aber kaum. Ich fühlte Wärme, wie sie von Verletzungen ausstrahlt.
»Nicht allzu schlimm«, sagte ich bei mir.
»Margaret, was machst du da?« fragte er, während ich mir die Hände warm rieb und meinen Geist in den Zustand versetzte, welcher der Gabe förderlich ist.
»Ich heile deine Gelenke, so wie ich früher Master Kendalls Gicht geheilt habe.«
»Quatsch«, sagte er mit schwerer Zunge. »Wenn du nicht abläßt von diesen Phantastereien, wirst du noch ganz verrückt, und was wird dann aus mir?«
»Psst, du, ich arbeite.« Jetzt hatte ich den richtigen Zustand erreicht. Das vertraute, hellrote Licht begann in den Ecken des Raumes zu leuchten. Im Dunkeln schien es natürlich sehr hell. Dann loderte es ringsum auf, warm, tröstlich, heilend.
»Da bist du ja wieder«, sagte ich zu ihm, als die Hitze mir das Rückgrat hochlief und das Zimmer in liebliche Helligkeit tauchte. »Danke.« Mit halbem Auge bekam ich mit, daß Malachi von außen die Läden schloß, während Hugo etwas vor sich hinbrummelte. Ich spürte Gregorys Blick. Das sanfte Licht hüllte mich ganz ein. Wie könnte ich wohl an Gottes Güte zweifeln, wenn es bei mir ist und mich umgibt wie ein lebendiger Umhang? Ich legte meine Hände auf jede Stelle, dann setzte ich mich auf die Hacken und spürte, wie das Leuchten nachließ und sein liebliches Licht allmählich verblaßte.
»Margaret«, sagte er. »Es tut nicht mehr weh. Du hast mich geheilt.« Ich hörte, wie er sich bewegte und sich im Dunkeln abtastete. »Du hast mich geheilt – und betrunken bin ich auch nicht mehr. Hast du eine Ahnung, wie lange ich gebraucht habe, um mir diesen Rausch anzutrinken? Jetzt bin ich nüchtern wie ein Stock und liege da, und all meine Probleme fallen wieder über mich her. Du kannst mir glauben, die Schmerzen waren leichter zu ertragen! Ich habe meine Schmerzen gemocht! Und wenn sich je ein Mann seinen Rausch verdient hat, dann ich heute! Insbesondere heute! Nach allem, was mir bereits zugestoßen ist, stellt sich auch noch heraus, ich bin mit einer Frau verheiratet, die im Dunkeln leuchtet wie ein phosphoreszierender, alter Knochen! Was wird Vater dazu sagen? Was werden meine Freunde sagen, vor allem die, welche wissen, wie ich mich der Kontemplation gewidmet habe? Die lachen sich doch tot! Ei, ei, da geht Ex-Bruder Gregory, der Gott sehen wollte, statt dessen die Gnade verwirkte, und das wegen einer Frau, die leuchtet. Was tut er jetzt? Ei, der hat sich eine Ritterwürde gekauft und lebt von ihrem Geld! Wie steht es mit der Heiligkeit, ›Bruder‹ Gregory? Mein Gott! Ich traue mich nicht mehr nach Haus!«
Ich holte die Karaffe mit dem Würzwein vom Tisch. Sie war noch fast voll. »Da«, sagte ich und drückte sie ihm in die Hand. »Trink aus, du Undankbarer.«
Er lehnte den Kopf an die Wand und trank. Das Gluckgluck war im Dunkeln zu hören.
»Gut, aber nicht genug«, sagte er, und ich spürte seinen funkelndbösen Blick. Ich durchsuchte das Zimmer und tastete nach weiteren Krügen, verschiedenen Sorten von Rot- und Weißwein, die Hilde und ich nicht angerührt hatten.
»Trink die auch noch«, flüsterte ich wutentbrannt. »Und wenn du fertig bist, dann mach, daß du wieder aus dem Fenster kommst, du Schlange.« Es gluckste erneut, und dann hörte ich, wie der halb geleerte Krug abgesetzt wurde.
»Margaret«, sagte er, jetzt wieder mit undeutlicher Stimme. »Du siehst wunderschön aus, wenn du leuchtest.« Und dann hörte ich ihn beim Aufstehen stolpern. Er stieß die Fensterläden auf, und sein Lockenkopf zeichnete sich vor dem Sternenhimmel ab.
»Faß das aber nicht als Zustimmung auf«, sagte er, schob die Beine über die Fensterbank und ließ sich auf die Erde fallen.
»Geht es dir besser?« hörte ich Malachi draußen fragen.
»Schlechter«, sagte er, als ich die Läden schloß.
»Ooooooh! Männer!« Wütend stapfte ich über die kalten Fliesen und ließ mich wieder ins Bett fallen.
»Was hattest denn du erwartet?« sagte Mutter Hilde.
»Dann bist du die ganze Zeit wach gewesen? Du hast alles mitbekommen?«
»Natürlich. Das war nicht zu vermeiden. Lichter! Stimmen! Davon werden ja Tote wach – nein, das nehme ich zurück –, nur das Mädchen nicht, das dir angeblich hilft.«
Ich saß ganz zusammengekrümmt im Bett und drückte Knie und Kümmernisse fest an mich. »Wie konnte er nur so gräßlich sein? Kannst du mir das beantworten? Einfach nicht zu fassen, daß er so ekelhaft gewesen ist!« Und ich fing vor Wut an zu weinen.
»Ach, Margaret, du bist noch so blutjung«, seufzte Mutter Hilde und tätschelte mir die Schulter.
»Was meinst du damit? Wo ich doch alles für ihn getan und erlitten habe.« Ich hatte mich umgedreht und näßte das Kissen mit meinen Zornestränen.
»Margaret, du dummes, dummes Gänschen. Begreifst du denn nicht, daß er auch gern leuchten möchte?«