Kapitel 10
Bruder Malachi beugte sich über die siedende Masse aus geschmolzenem Metall und hielt den Atem an, da aus dem Schmelztiegel scheußliche Dämpfe emporwallten. Der Feuerschein bestrahlte sein Gesicht und machte, daß es ganz rötlich aussah; Schweiß lief ihm in Bächen über die Stirn und rann ihm gleichsam wie Tränen über die Wangen. Er trug eine große Lederschürze, damit ihm das Gewand nicht in Flammen aufging. Dicke Handschuhe schützten seine Hände und Unterarme bis zu den Ellenbogen. Seine linke Hand hielt den jetzt geöffneten Lederbeutel mit dem Roten Pulver, seine rechte den schwarzen, eisernen Rührstab.
»Fast soweit«, sagte er und zog den Kopf aus der starken Hitze.
»Schwefel. Ihr habt noch keinen Schwefel beigemischt. Nach Villanova muß man das zu Beginn eines jeden Prozesses tun.« Im tanzenden Licht des Infernos glühten Messer Guglielmos Augen unnatürlich.
»Lullus jedoch sagt, daß es erst jetzt geschehen darf. Es sei denn, Ihr haltet so wenig von Lullus wie von Magister Salernus, denn der sagt, daß der Prozeß nur bei Vollmond durchgeführt werden darf, wenn man eine zufriedenstellende Augmentation erreichen will.«
»Und wo, mit Verlaub, sagt er das?« Messer Guglielmos Stimme triefte vor Hohn.
»Glaubt Ihr etwa, er würde ein solches Geheimnis preisgeben? Es befindet sich im siebten Bild auf der einundzwanzigsten Seite. Er hat es im Vielfachen der Sieben verschlüsselt. Dort steht ganz eindeutig der Pfau unter einem Vollmond. Gleich hinter dem grünen Löwen.«
»Nicht in meiner Kopie, dort nicht.«
»Dann ist Eure falsch. Habt Ihr den Fehler auf der Seite bemerkt, wo die Taube herunterstößt?«
»Gut, das mag sein – aber Vollmond bedeutet, daß Silber mit im Spiel ist, wohingegen eine Durchführung des Verfahrens bei Vollmond nach meiner Verschlüsselungsmethode als schwangere Königin dargestellt sein müßte, und dergleichen habe ich nirgendwo erblickt.«
Selbst die blöden Helfer ließen sich von dem Streit fesseln und beugten sich vor, um den Prozeß zu prüfen. Bruder Malachi hörte auf zu rühren, schob den hohen Schemel neben dem Alembik an die Wand und setzte sich. Er lehnte den Rücken an die kühlen Steine und seufzte, hob den Arm und wischte sich den Schweiß mit der Armbeuge von der Stirn, ließ aber sein kostbares Beutelchen keinen Augenblick los. Seine behandschuhte Hand umklammerte immer noch den Stab, der auf seinen Knien ruhte.
»Also«, fuhr die giftige Stimme Messer Guglielmos dazwischen, »ohne das Fixativ kommt Ihr nicht weiter. Das müßt Ihr zubereitet zur Hand haben, frisch, sonst verdirbt Euch der Prozeß.«
»Euer Fixativ verwende ich nicht. Das ist nicht erforderlich. Es ist böse. Die Kraft aber, die das Universum erschaffen hat und es umwandelt, ist gut. Das Rote Pulver wirkt sonst nicht – und außerdem –«
»Schon wieder Ausflüchte. Feige Ausflüchte, das gehört sich nicht für einen Wissenschaftler. Jetzt könnt ihr Euch nicht mehr herauswinden. Ihr überbewerteter Möchtegern-Alchimist. Eure Art von Geschwafel könnte vielleicht einen Laien hinters Licht führen, doch dieses Mal habt Ihr es mit einem Fachmann zu tun. Hört Ihr?« Messer Guglielmo ging unruhig auf und ab, und seine Stimme stieg zu einem rauhen Gekreisch an. Bruder Malachi lehnte mit glasigen Augen an der Wand, und sein Atem kam in zittrigen Stößen.
»Nicht zu fassen, daß Ihr soweit gekommen seid, ohne den Wagemut zu besitzen, den der wahre Forscher braucht – ohne die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Ich bin es, der das Geheimnis der Geheimnisse fast ergründet hat. Ich habe Euch nicht gebraucht. Aber nein, der berühmte Theophilus, oder jemand, der sich für ihn ausgibt, dem fällt alles in den Schoß.« Er riß sich beim Auf- und Abgehen mit einer fahrigen Bewegung Haare aus dem Bart.
»Heute abend seid Ihr dran, Theophilus, und Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie ich darauf brenne, Euch scheitern zu sehen. Ihr reizt mich! Ihr reizt mich! Ihr erbost mich. Gescheitert, Theophilus, gescheitert! Und wenn Asmodeus mir zum Sieg verholfen hat, dann habe ich das Vergnügen, Euch langsam, langsam sterben zu sehen –« Er fuhr zusammen und blickte auf. Fray Joaquin, der geräuschlos eingetreten war, stand schattengleich vor ihm.
»Gescheitert? Ist er gescheitert?« fragte der Dominikaner mit dem Anflug eines grausigen Lächelns.
»Der Prozeß verändert sich gerade. Als nächstes kommt Schwefel dazu, wenn nämlich die Hitze am größten ist. Und wenn er darauf die Farbe wechselt, muß das Rote Pulver beigemischt werden. Aber ich habe keinen Vollmond, also wird es sich nicht so vervielfachen wie gemeinhin üblich –« erklärte Bruder Malachi matt.
»Hört Ihr, wie er jetzt schon Ausflüchte macht. Er versucht, sein Fell im voraus zu retten. Habe ich Euch nicht gesagt, daß ich seinesgleichen kenne.«
»Ihr sollt Asmodeus beschwören«, sagte der Mönch im schwarzen Habit.
»Meinen Asmodeus beschwören, damit er diesem Narren aus der Patsche hilft? Damit sich dieser Laie dann mit meinem Erfolg brüsten kann? Nach allem, was ich durchgemacht habe? Wenn ich das Risiko auf mich nehme, Asmodeus zu beschwören, dann nur zu meinem eigenen Triumph.«
»Ihr steht unter Befehl.«
»Ich habe keine Opfergabe. Der Graf hat sie noch nicht nach unten geschickt. Außerdem brauche ich Zeit, um den magischen Kreis anzulegen. Dieses Mal können wir uns keinen Fehler leisten.« Bei dem Gedanken an den dräuenden Dämon, wie er mit mächtigen Schwingen gegen die zerbrechliche Barriere schlug, erbleichte sogar der giftige Messer Guglielmo ein wenig.
Bruder Malachi neigte den Kopf und bekreuzigte sich. Seine Lippen bewegten sich in stummem Gebet. Der Rührstab lag auf seinen Knien.
»An die Arbeit, legt den Kreis an, Ihr Einfaltspinsel!« Fray Joaquin holte sich einen großen Schöpflöffel von dem breiten Holztisch in der Ecke und schlug ihn dem unseligen Messer Guglielmo um die Ohren. Der warf die Hände hoch, wollte seinen Kopf schützen, zog sich in die Ecke zurück und kauerte dort, bis sich das Gewitter verzogen hatte. »Aber – das Opfer?«
»Ihr wißt sehr wohl, daß nicht ich dieses bringe. Das will er immer selbst tun. Heute abend dürfte es etwas später werden. Ihr sollt den Prozeß hinhalten, bis er die Leiche der Frau nach unten bringt.«
»Frau? Ich dachte, er hätte noch ein Kind übrig?«
»Hat er auch. Das hier ist etwas anderes. Er hat jetzt eine Frau in seinen Gemächern, und wenn sie seiner Lust gedient hat, bricht er ihr das Genick und läßt sie mit der Opfergabe herunterbringen.«
»Das klingt mir nicht alchimistisch. Asmodeus mag keine Frauen.«
»Nein – er sagt aber, das hat etwas mit Kunst zu tun.«
Malachi quollen die Augen aus dem Kopf, doch sein Leib blieb schlaff an die Wand gelehnt, so als hätte er nichts gehört. Er holte tief Luft.
»Die Zeit ist gekommen«, sagte er, stand vorsichtig auf und machte ein großes Getue beim Überprüfen der Gerätschaften. »Der Prozeß ist reif. Ich werde Gold herstellen.«
»Jetzt?« sagte Fray Joaquin zu ihm gewandt. »So bald schon. Nehmt Euch in acht mit Euren Versprechungen.« Aber in seinen Augen glitzerte die Habgier.
»Er wird scheitern«, fauchte Messer Guglielmo. »Darauf freue ich mich schon lange.«
»Nein, das werde ich nicht«, sagte Bruder Malachi, beugte sich über den Schmelztiegel, schüttete das Rote Pulver hinein und rührte mit dem eisernen Stab in sich überschneidenden Dreiecken das Pentagramm Salomonis; dazu psalmodierte er jedes Mal etwas Unverständliches, wenn der dunkle Stab in der glühenden Masse einen Winkel zog.
»Ich will, daß er noch heute abend freigelassen wird. Nicht morgen nach dem Zweikampf.« Meine Stimme klang fest. Ich stand ein paar Schritt vor der offenen Tür zum Schlafgemach des Grafen, doch meine Knie zitterten, und mir war übel. Der kleine Bruder Anselm hatte mich zur Tür begleitet und mir die ganze Zeit über die Heilige Ursula und ihre jungfräulichen Märtyrerinnen als leuchtendes Beispiel vor Augen gehalten.
»Die Krone der Tugend ist dem Sündenpfuhl vorzuziehen«, predigte er. »Zudem bin ich zu dem wohldurchdachten Schluß gekommen, daß man diesem Grafen nicht trauen darf. Weiß Gott nicht. Er könnte durchaus versuchen, Euch hereinzulegen, wenn er erst einmal hat, was er begehrt. Denn hätte er nicht Euren Mann laut jauchzend herbeischaffen, ihn mit Lorbeer bekränzen und ein Fest der Poesie feiern sollen? Das darf man von einem Edelmann erwarten. Doch er? Er ist ein schlechter Verlierer. Er macht Ausflüchte, besteht auf einem Turnier. Ich glaube, er wird Euch betrügen, und wie steht Ihr dann da? Die Tugend futsch und der Ehemann auch, denn dessen Ehre gebietet, daß er Euch verstößt, falls ihm etwas zu Ohren kommt.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte ich. Mein Gott, sein Gerede konnte einen wahnsinnig machen! Wenn mich etwas aufbringt, dann jemand, der langsamer als ich ist und sich Gedanken über etwas macht, was auf der Hand liegt.
»Und ich sage Euch, Ihr seid einfältig. Frauen sind Einfaltspinsel. Darum sollten sie sich stets von Männern anleiten lassen.«
»Ist Euch nie in den Sinn gekommen, daß ich genau das mache? Und Ihr selber nennt es einfältig«, sagte ich. »So sagt mir denn, welcher Mann recht hat, dann tue ich auch meine Pflicht, ja?«
»Unser Herr Jesus Christus«, sagte er, richtete den Blick gen Himmel und bekreuzigte sich.
»Oh! Ihr habt gut reden!« Zornentbrannt machte ich auf dem Hacken kehrt, doch er war mir ohnedies bis zur Schwelle gefolgt. Die Tür stand weit offen. Dutzende von flackernden Kerzen erhellten den Raum. An den Wänden, zwischen den Haken, auf denen sein scheußlicher Satinwams und die riesige Bruch mit den spitzen Ledersohlen hing, waren Fackelhalter angebracht. Ein silberner Kandelaber thronte mit einem Dutzend Kerzen bestückt auf einem runden Tischchen, und auf dem bestickten Tischtuch waren ein Krug mit Wein, ein einziger Silberpokal und ein kleines Nachtmahl angerichtet – kaltes Geflügel in irgendeiner Soße, eine zugedeckte Schüssel und Brot. Auf einem riesigen, vergoldeten Bett mitten im Zimmer ruhte eine hünenhafte Gestalt, mit nichts als einer Nachtmütze auf dem Kopf und einer großen, pelzgefütterten robe de chambre bekleidet, die er anzüglich aufspringen ließ.
»Ich habe gewußt, daß Ihr kommt«, sagte seine tiefe Stimme aus den Schatten.
»Ich will Gilbert jetzt haben, nicht morgen«, sagte ich fest und blieb an der offenen Tür stehen.
»Ich habe vor, Euch zu ihm zu bringen, wenn wir erst unser kleines – Gespräch – hier beendet –« Die Gestalt schob sich vom Bett. »Jean, du kannst gehen. Und mach die Tür hinter dir zu.«
Der Kammerdiener ging, und die Tür schlug mit einem dumpfen Laut zu. Auf einmal war mir am ganzen Leib kalt, mich fröstelte.
»Euch friert? Etwas Wein dürfte Euch warm machen.« Er deutete zum Tisch. Unter dem Geschirr mit dem Nachtmahl glänzten die Gold- und Silberfäden der Stickerei im Kerzenschein. Hinter dem Tisch stand ein Bänkchen mit Rückenlehne.
»Ich bin – nicht durstig. Ich will ihn wiederhaben. Ihr habt bereits geschworen –«
»Seid doch nicht so ängstlich. Zweifelt Ihr an meinem Wort? Da – hier ist der Ring.« Er mußte tüchtig an ihm drehen, sonst hätte er ihn nicht herunterbekommen, so tief hatte er sich eingegraben. Das verdarb die große Geste, was ihn kurz zu ärgern schien. »Ich lege ihn auf den Tisch, so, als Pfand.« Seine Bewegungen waren so behutsam und geschmeidig, als wollte er ein wildes Pferd zähmen – er ließ mich keinen Augenblick aus den Augen, während er ihn auf den Tisch legte.
»Und das Siegelwachs auch. Könnt Ihr es dort sehen?« sagte er mit der beschwichtigenden Stimme eines Dompteurs. »So setzt Euch doch und trinkt ein wenig Wein.«
»Der könnte vergiftet sein«, summte ein kühles Stimmchen in meinem Kopf.
»Habt Ihr Angst vor dem Wein? Seht her. Wir haben nur einen einzigen Becher. Einen Liebespokal. Heute nacht trinken wir beide daraus. Seht Ihr? Ich trinke zuerst.« Er trank den Wein mit einem großen Schluck, dann schenkte er aus dem Silberkrug nach.
»Der schon ausgeschenkte Wein war in Ordnung. Hüte dich vor dem Wein im Krug.« Das silbrige Summen in meinem Kopf schien von weither zu kommen.
»Kommt, setzt Euch«, sagte er wieder in diesem gelassenen, furchterregenden Ton.
»Ich bin nicht müde«, erwiderte ich. »Ich bin gekommen, um über Gilbert de Vilers zu reden. Ich will Pferde haben, ich will Euren Ring haben. Ich will sobald wie möglich fort von hier. Ein Edelmann hätte mir diese Dinge ohne diese – Scharade angeboten.«
»Setzt Euch!« brüllte er, und sein Jähzorn machte mir Angst. Ich nahm Platz.
Er drängte sich neben mich auf das Bänkchen, und das konnte seinen Umfang kaum fassen. Ich spürte, wie sich all diese Speckwülste unter dem Hausmantel an mich preßten. Der fiel nämlich auf und offenbarte eine eigenartig haarlose Brust – nein, nicht haarlos. Rasiert. Pfui. Wie abstoßend. Und sein Leib roch so ekelerregend süßlich. Was war das nur? Pu. Fliederwasser. Wenn ich hier jemals herauskomme, dachte ich, kann mir Flieder für immer gestohlen bleiben. Hirn, Hirn – laß dir etwas einfallen. Rasch, rasch.
»Ihr seid nicht durstig? Dann probiert – einen Kapaunschlegel.« Er bohrte die Finger in das Fleisch des toten Vogels und grub einen Bissen aus, den er mir zwischen Daumen und Zeigefinger an die Lippen hielt. Ich merkte, wie meine Augen groß wurden und sich mir der Magen umdrehte.
»Ich – ich bin nicht hungrig.«
»Nicht hungrig?« fragte er, verspeiste den Bissen selbst und wischte sich mit der Serviette die Lippen. »Köstlich.« Er schmatzte mit den eigentümlich roten Lippen. »Diese Soße – ich bin Soßenkenner.«
»Ich will Sir Gilbert jetzt haben.«
»Jetzt? Diesen haarigen, barbarischen Affen?« Er merkte, daß sich meine Augen wie gebannt, doch entsetzt zu den nackten Speckrollen stahlen, die der offene Hausmantel enthüllte.
»Frauen finden das bezaubernd«, sagte er und musterte meine Miene. »So bin ich am ganzen Leib. Ihr solltet es selbst ausprobieren. Der Schmerz – ist – gar köstlich.«
Ich war so angewidert, daß ich den Mund nicht halten konnte.
»Genau wie ein dicker, großer, häßlicher Säugling«, rutschte es mir heraus, und dann zuckte ich zurück und wartete auf den Hieb.
Aber er freute sich darüber, und beim Lächeln glänzten seine gräßlich roten Lippen feucht von Speichel.
»So ist es. Ein niedlicher, niedlicher Säugling. Wie könnte ein so süßer Säugling Euch wohl etwas Böses antun? Es wird Euch unendlich gefallen. Der höchste Augenblick Eures Lebens –«
Lieber Gott, steh mir bei, steh mir bei, betete ich stumm. Hol mich und Gregory hier heil und ganz heraus. Ich habe nicht gewußt, daß Du derart abstoßende Menschen geschaffen hast. Zeit. Ich brauche Zeit.
»Ich – hm fand Eure ›Ode an den Sommer‹ sehr schön«, machte ich einen Versuch. Ich spürte, wie die Spannung in dem abscheulichen Leib ein wenig nachließ.
»Was daran hat Euch am besten gefallen?«
»Das – äh – das Sommerliche. Sie war so ausnehmend sommerlich.«
»Und –?«
»Das mit den Vögeln – das war hübsch – ehem, das ›tirili‹. Und die Blumen. Ich mag Blumen.« Alle außer Flieder, dachte ich. Den will ich nie wieder riechen.
»Blumen – hübsche Blümchen wie Margueriten«, sagte er und zog die Nadeln aus meiner Haube. Ich erschauerte schon wieder, als er mein Haar streichelte.
»Trinkt von dem Wein«, sagte er und bot mir den Kelch mit der anderen Hand an. »Dann friert Euch nicht mehr.«
»Schreibt – schreibt Ihr viel Gedichte? Ich – mag Gedichte – und einen Mann, der sich – schön ausdrücken kann. Manche sagen, daß – daß es nichts Anziehenderes gibt.«
»Gedichte? Hat Euch denn niemand gesagt, daß ich der größte trouvère in der Geschichte der trouvères bin, der größte trouvère, den es je in sechs Königreichen gegeben hat? Die, welche man früher für groß hielt, Graf Raymond von Toulouse, Guilhem von Poitou und das übrige Gesindel – ich soll sie alle übertreffen, so sagt man, wie der Habicht sich hoch über den Spatzen schwingt. Viele nennen mich den ›König der Troubadoure‹. Habt Ihr noch niemals ›Ich huldige Madames Elfenfüßchen‹ gehört?«
»N-nein. Ich bin eine Hinterwäldlerin.«
»In der Tat, das will ich meinen.« Nach und nach ließ er sich ablenken. Wenn ich ihn doch nur tief genug in sein Poesiegeschwafel verstricken könnte.
»Ihr habt gewißlich einen sehr zierlichen Fuß.« Er betrachtete meinen Hals. Mich überlief eine Gänsehaut.
»Also, so zierlich nun auch wieder nicht.«
»Stellt Euch vor, ich hätte die Ode nur auf Euren zierlichen, kleinen Fuß geschrieben. So wäre es, wenn Ihr ihn mir gezeigt hättet.«
»Ich würde – sie wirklich gern hören.«
»Ach, mein hübsches Blümchen, nur wenn Ihr versprecht, mir zur Belohnung Euer köstliches, weißes Füßchen zu zeigen.«
Mich ekelte immer mehr. »Zeit, spiele auf Zeit«, sang das liebliche Stimmchen in mir.
»Vielleicht werfe ich ihm zuerst den Fuß hinunter«, hörte ich ihn bei sich murmeln. »Wie passend.«
»Eure schöne Ode«, hakte ich nach.
»Oh? Oh, ja.« Er räusperte sich und fing an. Mittendrin unterbrach ich ihn, um ihm Beifall zu spenden.
»Das mit den perlengleichen Zehennägeln, das ist sehr hübsch«, sagte ich. Alberner, als ich mir je hätte träumen lassen, dachte ich bei mir.
»Aber, aber, wir wollen doch nicht unterbrechen, nicht wahr?« drohte er mir mit dem Finger. Jetzt ist er gnädiger gestimmt, dachte ich. Noch ein wenig, und ich kann ihm vielleicht seinen schmutzigen, kleinen Plan ausreden und Gregory zurückbekommen. »Einen Künstler darf man nie unterbrechen –« fuhr er in dem ungemein rollenden Tonfall fort, den er sich anscheinend fürs Gedichtrezitieren vorbehielt. Doch er war mit dem albernen Ding nur zu schnell am Ende.
»Und jetzt, Euer Versprechen.«
»Es ist so eng hier. Ich komme so schwer an – ob Ihr wohl ein wenig rücken könntet –«
»Auf dem Bett wird es Euch, dessen seid versichert, leichter fallen.«
O weh, das hatte ich nun von der Poesie. Vom Regen in die Traufe.
»Das Bett? Ich bin noch nicht fertig mit Essen.« Und ich stopfte mir Brot in den Mund. Es war staubtrocken.
»Trinkt ein wenig Wein zum Hinunterspülen. Köstlichen Würzwein.«
Schon wieder der Wein! Er packte mich beim Hinterkopf, daß es schmerzte, und versuchte, mir den Wein einzuflößen. Wie eigenartig der roch. Das ist mit Sicherheit kein Gewürz, dachte ich. Das kenne ich doch irgendwie. Was ist das?
»Trinkt«, sagte er und drückte mir den Becher mit aller Kraft an die zusammengebissenen Zähne.
Man hämmerte an die verschlossene Tür.
»Weg da!« brüllte er. »Ich bin beschäftigt und möchte nicht gestört werden.«
»Herr, Herr. Fray Joaquin schickt Euch eine Botschaft. ›Er hat es geschafft‹, läßt er Euch ausrichten. Ihr hattet ihm aufgetragen, Euch Bescheid zu geben, was auch immer Ihr gerade machtet.«
»Geschafft! Bei Fortuna!« Er ließ mich los, sprang auf und zur Tür und rief es durch das Holz. Er hatte kaum den Kopf abgewandt, da schüttete ich den Wein in die Ecke und stellte den Pokal wieder auf den Tisch.
»Schafft ihn her – aber verdeckt sein Gesicht mit der Kapuze. Niemand darf ihn erkennen, und vor allem – kein Sterbenswörtchen von ihm hören.« Er drehte sich zu mir um und rieb sich die Hände. »Ein doppelter Sieg, und alles in einer Nacht. Der Schwarze Meister hält Wort.«
Der Schwarze Meister? Kein Wunder, daß das Brennende Kreuz so summte. Ich hatte es in ein Tuch gewickelt, damit es nicht so laut zu hören war. Während ich zusah, wie er mit großen Schritten zum Tisch zurückging, schien er sich zusammenzuziehen und zu schrumpfen, und an seiner Stelle war da eine formlose Masse, die nach Schwefel, vermischt mit dem süßlichen Fliederduft, stank. Die Welt schien zu verblassen, und da sah ich es ganz klar und deutlich unter der gewöhnlichen Oberfläche des menschlichen Fleisches. Das Böse. Die Inkarnation des Bösen. Die Besucher des Rittersaals ließen sich nicht träumen, was sich hinter der alltäglichen, glänzenden, schurkischen Fassade verbarg. Sie sahen nur die Oberfläche – die Fahnen, die vergoldeten, gebratenen Pfauen, das fürstliche Leben – und wenn sie weltläufig waren, so nahmen sie vermutlich an, daß er ein, zwei geheime, kleine Laster hatte. Doch welcher hohe Herr hatte die schließlich nicht? Wer aber, wer auf der ganzen Welt, ahnte auch nur das Unsägliche, das sich unter dem albernen, gespreizten Gehabe dieses bösen Menschen verbarg? Und jetzt wußte ich auch, daß der Graf nicht auf Liebe aus war, nicht einmal auf das schäbige Zerrbild von Liebe. Er wollte meine Seele und mein Leben. Meine, Gregorys, Malachis, jedermanns Seele. Seine eigene hatte er schon lange nicht mehr, falls er überhaupt einmal eine gehabt hatte, und er würde nicht ruhen und rasten, bis er allen, die in seine Reichweite kamen, die ihre ausgesaugt hatte.
»Ah, Ihr habt den Wein getrunken. Gut.« Und zu meiner Überraschung schenkte er den Rest aus dem Krug in den Pokal und stürzte ihn auf einen Zug hinunter.
»Genug der Poesie. Ist Euch schon heiß? Nein. Ein wenig warm im Gesicht vielleicht?«
»Was um alles in der Welt war in dem Wein?« fragte ich und stand erschrocken auf.
»Genug spanische Fliege, um einen ganzen Zwinger voller Hündinnen in Hitze zu bringen. Kommt her.« Das also war es! Das Zeug hatte ich im Haus meines Schwiegervaters gesehen. Der gebrauchte es zum Züchten von Jagdhunden. Flink wie ein Reh lief ich hinter das Bett. Unbeholfen setzte er mir nach, war aber trotzdem noch schneller als ich. Ich machte einen Satz über das Bett – er hinter mir her. Ich riß den Kandelaber vom Tisch und hielt ihm die brennenden Kerzen entgegen.
»Weiche, Satanas, sonst stecke ich dich in Brand!« schrie ich.
Er lachte und schlug mir das Ding mit einem einzigen Hieb seiner Pranke aus der Hand. Die Kerzen zischten und verloschen, als er den Leuchter in die Ecke stieß.
»Noch – immer – nicht – heiß?« keuchte er. Sein Gesicht war ganz rot angelaufen. Er stolperte, und ich witschte an ihm vorbei und sauste um das Bett herum zum Fenster.
»Wollt Ihr etwa springen?« Sein Atem kam stoßweise – in allzu heftigen Stößen. Das Zeug, das er getrunken hatte, wirkte bereits. Die Nachtmütze saß ihm schief auf dem Kopf. Ich kletterte aufs Fensterbrett.
»Dazu fehlt Euch der Mut«, frohlockte er hämisch und beugte sich vornüber, um Luft zu holen. Ich blickte nach unten. Es schien Meilen um Meilen ins Dunkel hinabzugehen, und unten nur scharfe Felszacken. Die helle Angst ergriff von mir Besitz. Ich muß es tun. Ich muß es tun, dachte ich. Mein Hirn raste. Doch der Blick nach unten hatte mich um meinen Vorsprung gebracht. Er schnappte meinen Fuß und zog, und ich schlug hart auf dem Fußboden auf, prellte mich und schrie. Ich trat nach ihm und zerkratzte ihn mit den Fingernägeln und kreischte fürchterlich, als er mich hochhob und aufs Bett warf.
»Hübsch –« keuchte er. »So habe ich sie gern –« doch er konnte kaum noch sprechen. Sein ganzer Leib war rot und fleckig. Laß ihn sterben, lieber Gott, laß ihn ersticken und an dem verdammten Zeug krepieren, betete ich. Er hielt inne, beugte sich atemlos vornüber und erbrach sich, und ich dachte schon, daß mein Gebet erhört worden wäre. Ich sprang vom Bett und wollte rasch die Tür entriegeln, doch er warf sich auf mich wie ein wildes Tier. Er merkte nicht einmal mehr, daß ich mit dem Türgriff auf ihn eindrosch, als er an meinen Kleidern riß.
Aber er wurde langsamer. Ich spürte, wie sein Atem in großen Stößen ging wie ein Blasebalg, während er mich zu Boden drückte. Er stank nach Flieder und Erbrochenem, doch dann rollte er sich auf einmal von mir herunter, krümmte sich und gab zuckend das Teufelsgebräu von sich, das er getrunken hatte.
»Der schafft es nicht mehr«, sang die Stimme in mir. Hinterher brauche ich ein neues Kleid, dachte ich. Er hob den häßlichen Kopf und starrte in die Ecke. Auf einmal schien er wie gelähmt, sein Kopf wie gefroren, und seine Augen glotzten ins Dunkel. »Du kommst hier heraus, Margaret. Also, wenn du kein Glück hast?« zwitscherte das Stimmchen. Glück? Das Kleid hier gehört auf der Stelle ins Feuer.
»In der Ecke. Da –« sagte er, und in seiner Stimme lag furchtbares Entsetzen.
Und ein Bad. Ich werde ein richtiges Bad brauchen. Ich kroch von der Tür fort. Mein Haar hatte sich vollkommen gelöst, und meine Kleider hingen mir in Fetzen vom Leib. Ich tastete mich ab. Blaue Flecke hier und da, doch im großen und ganzen heil und unversehrt. Wirklich nichts passiert. Das Kleine fing schon wieder an sich zu kugeln. Es geht uns beiden gut, dachte ich. Das hat etwas zu bedeuten. »Jauchz«, sang das Kind und rollte und kugelte sich. Du närrisches, kleines Ding, sagte ich bei mir zu ihm. Merkst du denn nie, wenn du in der Klemme sitzt? Und wir sind bei weitem noch nicht wieder heraus. Doch auf einmal liebte ich es so ungestüm, daß diese Liebe mich völlig in Anspruch nahm.
Der Graf stieß einen gräßlichen Schrei aus. Was um alles in der Welt war mit ihm los? Warum streckte Gott ihn nicht einfach mit einem Blitz nieder, und Schluß, aus? Man sollte meinen, Er wüßte, wie man das macht.
Und dann sah ich es in der Ecke stehen. Ein Kind. Ein hübsches, blondes Mädchen stand da, als ob es leibte und lebte und zeigte anklagend auf ihn. Es hatte nichts an und keine Augen mehr, und in seiner kleinen Brust klaffte ein Loch, wo einst das Herz gesessen hatte.
»Ich war es nicht«, sagte der Graf. »Ich mußte es tun – man hat mich dazu gezwungen.« Zu dem Mädchen gesellte sich ein anderes Kind, ein kleiner Junge und gleichermaßen verstümmelt, und dann noch einer mit dem zerschmetterten Kopf unter dem Arm. »Ich war es nicht, es war Fray Joaquin, den wollt ihr haben. Er war es. Er hat mir gezeigt wie, und als ich erst Asmodeus beschworen hatte, da wollte der mehr und mehr. Versteht ihr? Ich bin nicht schuld, ich nicht. Man hat mich dazu gezwungen –«
Jetzt kauerte er am Boden und wich vor den kleinen, wimmelnden Gestalten in der Ecke zurück, deren Zahl kein Ende zu nehmen schien. Er machte den Versuch eines einschmeichelnden Lächelns, doch sein Mund verzerrte sich nur grotesk, und in seinen Augen stand nacktes Entsetzen. Aber die kleinen Wesen reagierten einfach nicht. Oh, sogar jetzt noch stockt mir die Feder, so gräßlich war es. Eines nach dem anderen drängten sich die stummen Gespenster ins Zimmer und um ihn herum, totenstill waren sie und wiesen auf ihn, derweil er mit Ausflüchten, nichts als Ausflüchten durchs Zimmer kroch …
Nun schrie und gurgelte er. »Nicht mich, nicht mich!« kreischte er, kam hoch und stürzte zur Tür, wollte entfliehen. Doch eine grimmige, pfeifende Wolke, gleichsam eine Gewitterwolke, eine brodelnde Masse Gift, versperrte ihm den Weg. Seine Augen rollten wie die eines scheuenden Pferdes, dann versuchte er, sich durch sie hindurchzustürzen.
»Worauf wartet ihr noch, meine Kleinen?« Aus der gewittrigen Masse kam die grimmige Stimme einer Frau. »Vernichtet ihn, jetzt. Er war es.« Mich schauderte, und der Atem stockte mir, während ich zu der tobenden, wölkenden Masse aufblickte. Es war die Weiße Dame!
»Zu mir, zu mir!« schrie der Graf, und als es daraufhin an der Tür hämmerte und krachte, verschwand ich eiligst unter dem Bett. Ich konnte wildes Gepfeif hören und so etwas wie ein Klappern im ganzen Raum, und dann ging der Graf krachend zu Boden, so als hätten ihn unsichtbare Hände angegriffen. Ich sah die Stiefel seiner Wachen und Hände, die versuchten, ihn aufzuheben, während er sich wand und ihnen entkommen wollte, als hätte ihn eine unsichtbare Macht in ihrer Gewalt. Ich sah, wie er sich auf dem Fußboden wälzte und so dicht bei meinem Versteck aufschrie, daß ich die Hand ausstrecken und ihn fast hätte berühren können. Dabei war eines äußerst merkwürdig, sein nackter Leib wies tausend und abertausend winzige rote Stellen auf, genauso als hätten ihn kleine Kinder gebissen …
»So helft mir doch, verjagt sie!« kreischte er, und dann hörte ich ihn zum Fenster rasen, einen langgezogenen, gräßlichen Schrei, dem ein dumpfer Aufschlag auf den Felsen unten folgte. Flüche und Fußgetrappel, während die Männer zur Tür hinaus und zu den Felsen unterhalb des Fensters rannten.
»Gut gemacht, meine Kleinen«, seufzte die sich rasch auflösende Wolke und wehte durchs Zimmer. Ich steckte den Kopf unter dem Bett hervor, und da hörte ich ein grimmiges Flüstern in meinem Ohr.
»Ich habe festgestellt, daß es Schlimmeres gibt, als unter seinem Stand zu heiraten.«
»Ja, Madame Belle-mere«, erwiderte ich, und mein Atem wurde immer noch stoßweise vom kalten Steinfußboden zurückgeworfen.
»Ihr sollt zu ihm kommen.« An der Tür stand Fray Joaquin und blickte sich im Laboratorium um. Alles schien unverändert. Messer Guglielmo schnob vor Arger und Neid immer noch Wut, und der fette, kleine Alchimist hockte, bleich vor Müdigkeit, auf dem Schemel an die Wand gelehnt und hatte die Füße hochgezogen, so daß er eher wie ein Sack voll Rüben wirkte denn ein Meister des Großen Werkes.
»Zu ihm kommen? Wozu denn?« Bruder Malachi tat überrascht. Er lehnte immer noch an der Wand, und dankbar für die Kühle des Steins wischte er sich mit dem Ärmel die Stirn. Handschuhe und Rührstab lagen vergessen in einer Ecke.
»Ganz meine Meinung«, kam Messer Guglielmos unwirsche Stimme aus der Schar von Köpfen, die sich um den rasch abkühlenden Schmelztiegel drängten. »Verteufelt wenig Gold nach den ganzen Unannehmlichkeiten, die Ihr mir gemacht habt.«
»Aber trotzdem Gold, und das von bester Qualität. Das ist mehr, als Ihr mit Eurer Quintessenz von zweitausend Eiern geschafft habt. Ihr seid ein Parasit, er aber ist ein Genie«, fuhr ihn Fray Joaquin an.
»Es wäre mehr geworden, wenn wir Vollmond gehabt hätten«, beschwerte sich Malachi. »Der Mond verstärkt die Wirkung des Pulvers.«
»Also, ich für mein Teil habe dergleichen noch nie gehört. Das steht nicht bei Geber, und bei Villanova auch nicht. Und was Magister Salernus anbetrifft –«
»Euer Geber hat Euch noch keine Spur von Gold eingetragen.« Fray Joaquins Hirn raste. Warum sollte er diesen wertvollen Kerl dem Grafen überlassen? Ein langer Weg vom Keller bis zum Schlafgemach im Turm. Ich muß mir dieses Plappermaul Messer Guglielmo und seine wertlosen Teufel vom Hals schaffen, alsdann verfrachte ich diesen Theophilus einfach zum Stall, und dann nichts wie weg. Ich bin soviel in geheimen Geschäften für den Grafen unterwegs gewesen, daß niemand Verdacht schöpft, bis es zu spät ist. Ich kann ihn praktisch überall für ein hübsches Sümmchen verkaufen – oder besser noch, einen Ort ausfindig machen, wo ich ihn an die Arbeit setze. Rasch, entschlossen. So geht das.
»Fesselt ihn. Verhüllt ihm das Gesicht. Der Graf wartet.«
»Ei, das Gesicht verhüllen? Ist das nicht ein wenig melodramatisch? Und wenn ich nun stolperte und mir den Kopf verletzte? Mein Kopf ist empfindsam wie eine zarte Pflanze –«
»Die Stummen werden Euch führen. Das ist ein Befehl. Auf diese Weise könnt Ihr unterwegs niemandem das Geheimnis verraten.« Und auch nicht mitbekommen, was da vor sich geht, wenn ich mich mit Euch davonmache. Was für eine gute Idee.
Bruder Malachi dachte, wahrscheinlich bringt er mich um, sowie er meint, daß er die Rezeptur hat. Zumindest habe ich Margaret etwas Luft verschafft. Jetzt brauche ich wohl selber welche. Wie gut, daß Messer Guglielmo seine Experimente nicht niederschreibt.
»Habt Ihr – äh – die einzelnen Schritte noch im Kopf?« fragte Bruder Malachi, während ihm die Stummen die Hände auf dem Rücken fesselten.
»Natürlich. Glaubt Ihr etwa, ich würde ein so wichtiges Geheimnis dem Papier anvertrauen?« Ich breche in aller Herrgottsfrühe auf, dachte Messer Guglielmo. Mit Sicherheit gibt es Leute, die mir für das Geheimnis weitaus mehr zahlen als der Graf. Ei, der wird mich umbringen, wenn er es erst hat. Ich sollte lieber noch heute nacht aufbrechen, sowie man diesen Kerl, diesen Theophilus, zum Grafen bringt.
»Vergeßt nicht, daß Ihr den Schwefel in genau dem Augenblick beimischt, wenn der Kampf der Roten Drachen sichtbar wird.«
»Unfug. Ich habe doch genau gesehen, daß Ihr bis zur zweiten Farbveränderung des Löwen gewartet habt.«
»Ganz falsch. Habt Ihr denn nicht aufgepaßt? Ist das hier eine Kleinkinderschule?« Malachi richtete sich zwischen den beiden Stummen zu voller Größe auf. Seine Stimme triefte vor Überheblichkeit.
»Haltet Ihr mich für einen Einfaltspinsel? Ich erkenne den Roten Drachen, wenn ich ihn sehe.«
»Macht, daß der Mann den Mund hält«, fuhr Fray Joaquin die Stummen an. »Ich muß allein mit Messer Guglielmo reden.« Bruder Malachi beugte den Kopf wie ein Ochse auf der Schlachtbank, und sie führten ihre Arbeit bis zu Ende aus.
Fray Joaquin zog den wutentbrannten Alchimisten in das dunkle, kleine, innere Gelaß, wo die Familiari beschworen wurden. »Seid Ihr sicher, daß Ihr die Formel im Kopf behalten habt?« fragte er.
»Natürlich«, gab Messer Guglielmo zurück.
»Ganz sicher? Der Mann da ist ein Schwindler. Habt Ihr nicht gehört, wie er Euch durcheinanderbringen wollte? Der Graf muß sich darauf verlassen können, falls dieser Schwächling unter der Befragung den Geist aufgibt.«
»Klar.«
»Gut«, sagte Fray Joaquin und stieß Messer Guglielmo das gemeine, kleine, nadelscharfe Stilett zwischen die Rippen.
Und als der Alchimist am Boden lag und ihm hellrosa Schaum auf die Lippen trat, richtete Fray Joaquin folgende Worte an den frischen Leichnam: »Jetzt kennt nur noch ein Mensch das Geheimnis der Geheimnisse.« Und dann wischte er das Stilett ab und ging zurück in die Werkstatt.
Bruder Anselm hatte sich vor der Tür zum Schlafgemach des Grafen so klein wie möglich gemacht. Er war seiner Pflicht nachgekommen: Er hatte der Frau ins Gewissen geredet. Jetzt kämpfte er mit sich, was er tun sollte: zu Bett gehen oder die Ereignisse abwarten? Es gab noch eine dritte Möglichkeit, doch die war äußerst dramatisch und vielleicht unklug. Er könnte ins Zimmer platzen, das Kreuz schwenken und ihre Sünde laut brandmarken wie ein Prophet des Alten Testaments. Das bedeutete natürlich den sicheren Tod, doch der wäre süß und glorreich. Ei, man käme wohl schnurstracks in den Himmel wie ein heiliger Märtyrer – deshalb spielte er kurz mit dem Gedanken. Eine der Wachen vor der Tür blickte ihn grimmig an, und da überlegte er es sich. Schließlich hatte er Compostela noch nicht gesehen, und es wäre zu betrüblich, wenn er es soweit geschafft hätte und dann den besten Teil versäumen müßte. Wenn sie nur erst aufbrechen könnten; von hier war es nur ein Tagesmarsch bis Port de Cize, diesem außergewöhnlichen Berg mit seinen tausend und abertausend Pilgerkreuzen, dem Tor zu Spanien und der ersten Station auf dem Weg nach Compostela selbst. Man durfte sich schon sehr glücklich preisen, wenn man es nur bis dorthin schaffte, falls man bedauerlicherweise starb, ehe man das Heiligtum aller Heiligtümer erreicht hatte.
Er zog sich ins dämmrige Dunkel zurück. Und dort erspähte er noch eine Gestalt, die in der Nähe der Tür herumlungerte. Die alte Amme, die Reisegefährtin der Wittib – die, welche allzu freundschaftlich mit dem Beichtvater der Wittib verkehrte –, da war sie und verbarg sich im Dunkel hinter einer Biegung des Ganges. Und war da nicht noch jemand bei ihr? Der häßliche, kleine Junge?
Nicht lange danach hörte er eine Frau furchtbar schreien und darauf das Geräusch einer Rauferei. Da stellte man sich lieber taub. Schließlich wußte sie, auf was sie sich einließ. Die Wachen lachten in sich hinein und blickten sich vielsagend an. Dann hörte man die erschrockene Stimme des Grafen »à moi, à moi! rufen, und in die beiden Wachen kam Bewegung; sie schlugen die Tür mit einem einzigen, gewaltigen Hieb ein, stürzten ins Zimmer und versuchten, den um sich schlagenden, zuckenden Leib des Grafen festzuhalten, der unter einem Anfall von Fallsucht zu leiden schien. Bruder Anselm konnte den Blick nicht losreißen. Hinter ihm standen schweigend zwei Gestalten im Dunkel. Dann stürzte sich der Graf mit einem gräßlichen Schrei aus dem Fenster, so als verfolge ihn etwas Unsichtbares und Dämonisches. Die Gestalten an der Tür zogen sich vorsichtshalber zurück, als die Wachen ihm nicht mehr nachsahen, sondern sich umdrehten, Alarm schlugen und in der Dunkelheit einen Suchtrupp hinter dem Leichnam herschickten.
Die Alte spähte ins Zimmer. »Margaret? Margaret?« konnte er sie sagen hören, und unter dem Bett hervor gab eine gedämpfte Stimme in dieser barbarischen, unverständlichen Zunge Antwort. Die Frau eilte ins Zimmer, der Junge ihr auf den Fersen. Margaret kam unter dem Bett hervor, das Kleid zerrissen und das Haar unbedeckt, und von einer anständigen Kopfbedeckung keine Spur mehr. Bruder Anselm wandte den Blick ab, es war unanständig, ihre langen, halb aufgelösten Zöpfe anzustarren.
»Weiche von mir, Satanas«, murmelte er. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, hineinzuplatzen und ihnen Vorhaltungen zu machen, denn sie schienen das Zimmer zu durchwühlen.
»Den Siegelring da vom Tisch, Mutter Hilde, und das Siegelwachs auch.« Margaret durchsuchte systematisch die Kleider auf den Haken.
»Was tust du da, Margaret?«
»Ich mache mich auf die Suche nach Gregory, und ich weiß, daß er es dort unten kalt hat.«
»Hunger auch«, sagte Sim und wickelte den Kapaun und das Brot in eine Serviette. Und wenn er es nicht will, dann esse ich es später selber, setzte er bei sich hinzu.
»Mmpf. Sieh doch bloß, was für protzige Sachen.« Margaret rümpfte die Nase. »Und fast alles stinkt nach Fliederwasser. Oh, hier ist etwas Hübsches – Sim, weißt du, wo Malachi steckt?«
»'türlich. Ich bin ihm bis zur Tür gefolgt.«
Margaret hob den Kandelaber auf und versah ihn mit neuen, brennenden Kerzen aus den Wandhaltern. Sie nahm die Kleider über einen Arm, mit dem anderen hielt sie den Kandelaber hoch und ging zur Tür. Dort vertrat ihr die kleine Gestalt Bruder Anselms den Weg; er hatte sich zu voller Größe aufgeblasen und hielt eine Hand hoch.
»Halt!« rief er auf Französisch. »Seid Eurer Sünden eingedenk und bereut!«
»Oh, Mist«, sagte Margaret auf Englisch und dann befahl sie dem kleinen Mönch: »Kommt mit.« Etwas in ihren Augen veranlaßte Bruder Anselm, sich zu fügen. Irgendwie blitzten sie im Schein des hocherhobenen Kandelabers genau wie die Augen eines jagenden Falken.
Während sie die gewundene Treppe zu den Geheimkammern hinunterstiegen, wurde das Gerenne und Gelaufe des aufgewachten Gesindes immer lauter, und dann hallte die erste, schrille Totenklage durch die dunklen Gänge des Chateaus.
»Fort mit Schaden«, sagte Margaret mit trotzig vorgerecktem Kinn und ging doppelt so schnell weiter. Am Ende einer langen, offenen Treppe an der Innenmauer des sogenannten ›Neuen Turms‹, der nur neuer als der Alte Turm war, kam sie zu einer niedrigen Tür mit Ungeheuern aus Gußeisen. Mutter Hilde zupfte sie am Ärmel, doch sie bemerkte es kaum.
»Margaret, sei vorsichtig. Denk daran, Malachi hat gesagt, daß es hier von finsterem Gesindel nur so wimmelt«, mahnte Mutter Hilde. »Reize sie nicht. Angenommen, sie tun ihm etwas, nur weil du sie verärgert hast.«
Aber Margaret war so erbost, daß sie ohne einen Gedanken an die Folgen an die Tür hämmerte.
Drinnen überlegte Fray Joaquin gerade, was er tun sollte, damit die Stummen keinen Verdacht schöpften, wenn sie feststellten, daß es in Richtung Stall und nicht zu den Gemächern des Grafen ging. Die merken doch, daß die Richtung nicht stimmt und könnten mich erdrosseln. Ich gehe allein mit dem Alchimisten. Vielleicht entkomme ich ihnen mit einer List. Ich sage einfach, daß ich die Ehre nicht mit ihnen teilen will…
»Aufmachen, sofort aufmachen, Bruder Malachi. Der Graf ist tot«, hörte er die Stimme einer Frau vor der Tür in Englisch rufen. Englisch verstand er zwar nicht richtig, aber er kannte die Worte für Tod und Geld in mehr als einem Dutzend Sprachen. Und jetzt hörte er Graf und tot, und bei dem Klang hüpfte ihm hoffnungsfroh das Herz. Himmlisch, himmlisch. Sein innigster Wunsch war in Erfüllung gegangen, und das genau zum richtigen Zeitpunkt. Aber wenn er sich nun verhört hatte? Er zog das Stilett und machte die Tür auf.
»Graf – tot?« fragte er, doch was er vor der Tür sah, ließ ihn innehalten, und die Stimme brach ihm. Dort in der offenen Tür stand eine Frau mit einem Kandelaber in der Hand. In ihren wilden Augen glitzerte das Licht von einem Dutzend Kerzen und glänzte auf ihrem seidig fließenden, offenen Haar. Durch ihr zerrissenes Kleid leuchtete das weiße Fleisch ihrer nackten Schulter. Mehr konnte er nicht sehen. Frauen. Ja. Mit dem Gold würde er Frauen haben. Die hatte er so lange entbehren müssen. Er würde seinen Namen wechseln – sich wie ein Edelmann kleiden. Inmitten von Dutzenden wohlriechender, barbusiger Frauen leben …
»Malachi. Ich will Malachi haben – Theophilus, wie Ihr ihn nennt.«
Zum Teufel mit dem kleinen Mann. Vielleicht hatte er die unbekleidete Frau mit dem Zauber beschworen, mit dem er auch das Gold machte. Erschrocken erkannte er sie. Es war die kleine, englische Wittib, und die war ganz verwandelt und strahlte blanken Wahnsinn aus. Das mußte er öfter tun, diesen furchterregenden Zauberspruch anwenden und ihm Frauen fürs Bett verschaffen, die ihm zu Willen waren. Darum ist er so friedfertig gewesen. Er will mich verhexen. Macht – Macht ist besser als Gold. Und das hatte der gefährliche, kleine Mann die ganze Zeit über gewußt.
Kein Wunder, daß er so sorglos mit dem Geheimnis des Goldmachens umging. Er hatte ein noch größeres in Reserve.
Margaret sah das Messer. Und sie sah auch Fray Joaquins Blick und wußte, daß er in seinem Wahnwitz ohne Vorwarnung zustechen konnte. Wie nur an ihm vorbeikommen?
»Der Ring.« Mutter Hildes Stimme an Margarets Ohr war leiser als ein Flüstern. »Bring ihn dazu, daß er den Ring aufsetzt.«
Margaret wählte ihre Worte sorgfältig.
»Theophilus – will – daß ich ihm seinen Ring – seinen Zauberring – den Ring der Macht – bringe.«
Klar, sie stand unter einem Zauberbann, so wie sie redete, so vorsichtig und langsam. Aber er würde sie hinters Licht führen.
»Theophilus möchte, daß ich den Ring bekomme«, sagte er sanft und einschmeichelnd. Verhexte Frauen sind benommen und leicht zu täuschen. »Habt Ihr ihn?«
Margaret sah das gemeine Messer immer noch in seiner Hand glänzen. Wenn sie die Frage bejahte, könnte er sie durchaus erdolchen und durchsuchen. Sie antwortete – und hoffte, ihn damit zu mystifizieren: »Ich habe ihn bei mir und auch wieder nicht. Ruft Theophilus.«
»Theophilus hat gerade zu tun. Gebt ihn mir, ich will ihm den Ring schon geben.«
»Niemand außer Theophilus darf den Ring tragen«, sagte Margaret in geheimnisvollem Ton. Langsam erwärmte sie sich für die Rolle. Der Mann war ein Esel erster Güte. »Na, dann wollen wir einmal sehen, ob wir ihn dazu bringen können, daß er ihn ansteckt«, summte das silbrige Stimmchen ihres arbeitenden Hirns.
»Die – Macht – ist – zu – groß. Niemand darf sie besitzen. Wer – ihn – ansteckt – und – ihn – dreimal – dreht – wird –«
»Ja, ja?« Er konnte sich kaum noch beherrschen.
»Die – Welt – beherrschen.« Sie sah, wie seine Augen vor Habgier funkelten. Und wenn du glaubst, daß er wirkt, wieso kommst du dann nicht auf die Idee, ich könnte ihn mir selbst anstecken und die Welt beherrschen, du dummer Mann, dachte sie. Warum müssen Frauen immer Zauberringe herumschleppen und magische Quellen und heilige Bücher der Weisheit hüten, und was dergleichen albernes Zeug mehr ist, anstatt selber Nutzen daraus zu ziehen? Beiß an, beiß an, du verfluchter, verblendeter, lächerlicher Unhold.
»Gebt ihn mir«, flüsterte er.
»Macht – Euch – bereit – Meister«, sagte Margaret salbungsvoll. Fray Joaquin schob sich das Messer in den Ärmel.
»Das Kästchen«, bedeutete Margaret Hilde hochfahrend. Hilde machte eine völlig ausdruckslose Miene, zog das Kästchen hervor, öffnete den Deckel und streckte es ihr hin. Die Edelsteine auf dem Ring glitzerten im flackernden Licht.
»Uraburus. Die Schlange verschluckt ihren Schwanz. Das Universum – Meister.« Er griff mit zitternden Händen nach dem Ring, steckte ihn an den Mittelfinger und drehte ihn dreimal.
»Verneigt – Euch – vor – dem – Meister des Ringes«, sagte Margaret und fiel auf ein Knie wie vor einem König. Wirk, wirk, du verfluchter Ring. Oder sollte die dunkle Dame mich getäuscht haben? Mutter Hilde und Sim waren Margarets Beispiel rasch gefolgt.
»Was befehlt Ihr, oh, Herr des Ringes?« Margaret konnte es nicht lassen, sie mußte noch dicker auftragen. Es überkam sie einfach. »Das wollen sie doch alle«, sang das Stimmchen. »Gib's ihm reichlich.«
»Frauen –« flüsterte er. »Zuerst will ich Euch – und dann noch mehr.« Nein, zuerst sollte er lieber Theophilus umbringen, der das Geheimnis kannte. Und er drehte den knienden Frauen den Rücken zu und blickte den gefesselten Alchimisten an. Nein – warte, war er jetzt nicht der Herrscher über alles? Theophilus würde sein Sklave sein und Tag und Nacht Gold machen. Warum sollte er in der Hitze schuften und sich ansengen? Er würde wie ein Edelmann leben – Edelleute plackten sich nicht in Laboratorien ab. Nein, nein, einen wertvollen Sklaven brachte man nicht um. Aber angenommen, der Ring wirkte nur bei Frauen? Er warf einen Blick durch die offene Tür. Er hatte nicht einmal gehört, wie Sim Bruder Anselm grimmig zuflüsterte: »Auf die Knie, du Dummkopf«, und ihm einen tüchtigen Tritt ans Schienbein versetzt hatte, damit dieser sein Englisch auch verstand. Und Bruder Anselm, der im Chor immer so flink mit den Responsorien einsetzte, merkte, daß es Zeit zum Knien war. Vielleicht war ja eine Reliquie mit großer Macht in dem Kästchen. Also gesellte er sich zu den Knienden.
Fray Joaquin sagte mit heiserer Stimme zu Margaret: »Der Ring – befiehlt er allen?«
»Allen«, sagte Margaret. Wie lange sollte das noch dauern?
»Auch Theophilus?«
»Dessen Macht ist dahin – er ist nicht im Besitz des Ringes.«
»Hiergeblieben – ich muß doch sehen –«
»Ja, o Herr.«
Fray Joaquin machte kehrt und ging ins Laboratorium, und jetzt konnten die Zuschauer auch im Schein vom Feuerrost unter dem großen, gemauerten Alembik Bruder Malachis gefesselte Gestalt zwischen zwei muskulösen, schwarz gekleideten Gestalten ausmachen. Sie sahen, wie der schwarze Dominikaner die Fesseln durchschnitt und ihm die Kapuze abnahm. Hoffentlich hat er alles mitbekommen, dachte Margaret. Nachdem Fray Joaquin Bruder Malachi endlich befreit hatte, intonierte Margaret, um ganz sicherzugehen:
»Verneigt Euch vor dem Meister des Ringes.« .
»Dem Meister des wa –?« fragte Malachi blinzelnd, doch dann hielt er inne, als er den Ring auf der Hand erblickte, die Fray Joaquin ihm hinstreckte.
»Oh, Meister, ich ergebe mich«, sagte Malachi und fiel schwungvoll auf die Knie.
»Du bist mein Sklave, Theophilus.« Meiner Treu, was kommt jetzt noch, dachte Malachi.
»Küsse den Saum meines Gewandes.« Vermutlich vom Regen in die Traufe, dachte Bruder Malachi bei sich. Doch als er zierlich den Saum von Fray Joaquins ziemlich schmutzigem, schwarzen Umhang in die Nähe seiner Lippen hob, entglitt ihm das Kleidungsstück, denn Fray Joaquin war auf die Knie gesunken.
»Übel – mir ist – übel«, keuchte er.
»Hmm. Ein machtvoller Ring«, sagte Bruder Malachi und erhob sich. Und bei Fray Joaquin fand in der Tat eine gewaltige Umwandlung statt. Er streckte jetzt die Gliedmaßen steif aus, zuckte am ganzen Leib, und sein Gesicht – nun eine gräßliche Fratze – war schwarz angelaufen.
»Oh, Malachi«, sagte Margaret, »was für ein scheußliches Zeug.«
»Noch viel zu gut für ihn«, sagte Bruder Malachi bitter. »Hast du gewußt, daß er die Kinder beschafft hat, die sein Meister für seine Teufelsanbetungen brauchte?«
»Was ist denn, was ist denn?« fiel ihm Bruder Anselm mit quengeliger Stimme ins Wort.
»Der Ring der Macht – er war leider zu mächtig für ihn«, sagte Bruder Malachi obenhin. »Man muß sich unter den richtigen Gebeten jahrelang läutern, wenn man ihn gefahrlos tragen will.« Er stupste den Leichnam mit dem Zeh an, um zu sehen, ob er auch wirklich tot war. »Laßt Euch das eine Lehre sein. So geht es mit der Eitelkeit menschlicher Begierden.« Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, etwas recht Salbungsvolles anzufügen.
»Alles ist Eitelkeit«, stimmte ihm Bruder Anselm zu und bekreuzigte sich.
»Malachi, wo ist mein Gregory? Könnt Ihr mich zu ihm bringen?«
»Nichts leichter als das. Aber es ist feucht und glitschig. Wir brauchen Fackelträger. Wir müssen die Stummen bitten, daß sie uns helfen.« Er blickte sich um. Die Stummen hockten im Kreis auf dem Boden. In ihrer Mitte Mutter Hilde, die auf den Hacken kauerte. Alle machten rasche Handbewegungen. Malachi fiel auf, daß einer eine Geste machte, als würde er erdrosselt, dann formten seine Hände ein Häuschen, und seine Finger liefen wie kleine Füße.
»Hmm«, sagte Bruder Malachi. »Sie verstehen kein Wort Englisch und die liebe Hilde keine Silbe einer Fremdsprache, und doch scheinen sie sich auch ohne diese recht gut zu verständigen.«
»Teufelssymbole«, sagte Bruder Anselm bänglich. »Ich habe das Teufelszeichen gesehen.«
»Unsinn, sie unterhalten sich. Hilde, mein Schatz, was sagen sie?«
»Der hier sagt, daß es keinen Spaß macht, stumm zu sein und hier unten im Dunkeln zu leben und Menschen zu erdrosseln. Er will nach Haus, zum Hof seines Onkels, wo es einen schönen Obstgarten gibt.«
»Das hat er alles gesagt?«
»Natürlich. Der andere sagt, daß die Kerle hier unten allesamt gemein wie Teufel waren, außer dir. Er will wissen, woher wir kommen.«
Bruder Malachi lächelte. Er machte mit den Händen die Wellenbewegungen des Meeres, dann ein kleines Boot und etwas, das für ihn wie eine Insel aussah.
Die Stummen warfen den Kopf zurück und schüttelten sich, als wollten sie lachen. Einer von ihnen brachte sogar eine Art Husten zustande.
»Sie sagen, du hast einen furchtbaren Akzent, Malachi«, meinte Hilde.
»Sag ihnen, daß der Graf tot ist und daß sie nach Hause können, wenn sie möchten. Frag sie, ob sie uns helfen wollen, zunächst einmal Gilbert aus dem Verlies zu holen.«
»Sie sagen, daß aus den Verliesen noch kein Mensch herausgekommen ist, zumindest nicht seitdem sie hier sind. Die sind zu tief. Man läßt die Leute hinunter und schneidet dann den Strick durch. So kommt niemand wieder heraus.«
»Sag ihnen, was drin ist, kommt auch wieder heraus.«
»Das bezweifeln sie, aber sie sagen, sie wollen mit uns kommen.«
»Ist er tot? Wirklich tot?« fragte ich und musterte die schwarz gewandete Gestalt, die ausgestreckt auf den Fliesen der alchimistischen Geheimwerkstatt lag. Ich spürte, wie der Haß aus mir wich und mich statt dessen ein eigenartiger Schwindel erfaßte und mich benommen machte.
»Ganz sicher, Margaret. Die vorletzte Umwandlung. Seine letzte, die Verwesung, geht mich nichts mehr an.« Bruder Malachi sagte das so leichthin, damit er mich nicht erschreckte, des bin ich sicher. Aber sein Gesicht war immer noch hager und stoppelig von seiner Gefangenschaft, oder von was auch immer, das in diesem Raum vor sich gegangen war. Selbst Mutter Hildes leidenschaftliche Umarmung und ihre Freudentränen hatten den unverkennbar schwer gezeichneten Malachi nicht richtig aufmuntern können; er sah aus, als hätte er dem leibhaftigen Teufel ins Gesicht gesehen.
»Gregory? Seid Ihr sicher, daß er dort unten ist?« fragte ich und wies auf die offene Tür, die nach unten ins Dunkel führte.
»Ja, er ist dort.« Bruder Malachi nahm den Arm von Mutter Hildes Schulter und bedeutete den Stummen, frische Fackeln für den Abstieg an den Fackeln in den Wandhaltern zu entzünden.
Ich schreibe lieber nicht alles auf, was ich in den gräßlichen Kellern unter dem Laboratorium gesehen habe, denn es war gar zu schauerlich und niederdrückend. Alles erinnerte mich an den Grafen und wie es in seinem Kopf ausgesehen haben mußte – zumindest in dem grausigeren Teil seiner Phantasie, die er sich für besondere Gelegenheiten aufgehoben hatte. Es empfiehlt sich eben immer, sich vorher Gewißheit über den Charakter der Leute zu verschaffen, bei denen man als Gast weilen möchte. Natürlich bewirkte der Ort, daß mein Herz hämmerte, so bang war mir, daß wir für Gregory zu spät kamen.
Als wir uns den großen Gruben näherten, steckten die Stummen die Fackeln in die Halter an der Wand über der letzten Grube und deuteten auf den Flaschenzug über dem Gitter. Beim ersten flackernden Lichtschein hörte ich eine Stimme von unten hochschallen. Erschöpft und heiser, und dennoch seine.
»Was ist es denn dieses Mal? Heldische Couplets? Eure sollte man feige Couplets nennen, Ihr wohlriechender Hanswurst.« Bei dem vertrauten Klang hüpfte mir das Herz.
»Gregory!« Ich warf mich auf das Gitter. »Ich bin's, ich bin's! Wir kommen dich holen.« So schallte mein Freudenschrei und verschwand in den Tiefen der steinernen Grube.
»Lieber Gott«, kam ein hohles Murmeln von unten hoch. »Ich halluziniere schon wieder. Nun ist das Ende nicht mehr fern.«
»Ich bin's, Margaret! Antworte mir! Wie tief ist es bis zum Grund? Wir müssen ein Seil holen, das lang genug ist, um dich herauszuziehen.«
»Oh, Margaret, wieviele Male habe ich dich im Dunkel wohl angerufen. Und ich habe dich auch antworten hören. Aber zum ersten Mal führen wir eine richtige Unterhaltung. Vermutlich ist es eine Gnade, daß mein Geist endlich aufgibt.« Die Stimme schien schwächer zu werden und im Dunkel zu vergehen.
»Gregory, um Gottes willen, ich bin es leibhaftig. Sag mir, wie tief ist es?«
»Zwei- bis dreimal Mannshöhe, Margaret.« Das hörte sich gedankenverloren an, so als träumte er.
»Wenn wir ein Seil zu dir herunterlassen, kannst du dann hochklettern?«
»Ich glaube nicht, Margaret. Hier unten ist es – ziemlich beengt. Ich konnte mich leider nicht wie gewohnt sportlich betätigen. Meine Arme und Beine sind wie abgestorben. Ich habe nicht genug Kraft.«
»Dann binde es dir um, und wir nehmen den Flaschenzug und ziehen dich hoch.« Während ich dastand, hoben die Stummen das Gitter auf und legten es mit geübten Handgriffen beiseite. Als es fort war, hörte ich ihn sagen:
»Wenn das hier nicht wirklich ist, so ist es doch bislang der beste Traum von allen.« Als das Seil aber bei ihm ankam, stieß er einen Verzweiflungsschrei aus.
»Was ist?« rief ich zu ihm hinunter.
»Die verdammte Kälte – meine Finger wollen nicht – ich kann keinen richtigen Knoten machen.« Seine Stimme wurde zu einem dumpfen, hallenden Geräusch, einem rasselnden Husten, der nun aus der Grube hochscholl.
Ich kniete mich an das Loch, und einer der Stummen leuchtete mir mit der Fackel, damit ich sehen konnte. Sim mit seiner Vorliebe für alles Blutrünstige und Grausige war es leid, die Folterwerkzeuge aus der Folterkammer des Grafen zu inspizieren und hatte sich neben mich gekniet, um hinunterzulugen.
»Pu. Da unten stinkt es aber, was? He, was liegt denn da herum? Knochen?« Sim schien das zuzusagen.
Auf dem Grund der Grube konnte ich im matten, flackernden Licht so eben Gregorys zusammengekrümmte Gestalt ausmachen, die nicht einmal ein Hemd anhatte, das ihn hätte wärmen können.
»Natürlich sind das Knochen. Was glaubst denn du, was hier unten liegt? Rosen etwa?« Seine Stimme klang so bissig, daß ich neue Hoffnung schöpfte.
»Auch Totenschädel?«
»Mehrere.«
»Einen davon könnte ich gewiß brauchen.«
»Sim! Du bist gräßlich! Wir wollen ihn herausholen – nicht Andenken sammeln.«
»Mach Gebrauch von deinem Oberstübchen, Margaret. Ihr laßt mich einfach am Seil nach unten – ich binde es ihm um die Brust – dann hole ich mir meinen Schädel, und ihr zieht mich zusammen mit ihm wieder hoch. So einfach ist das. Weiber!« schnaubte er und tat wie ein erwachsener Mann.
Und es dauerte auch nicht lange, da hörten wir Sims Stimme aus der Grube hochschallen, und der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit antwortete mit unverständlichen, stotternden Lauten.
»Hoch den Arm, ja. Meiner Treu, habt Ihr einen ellenlangen Bart! – Wie lange braucht man, bis er so wird? – He, ich wollte Euch doch nicht weh tun – laßt das Schimpfen. – Wie konnte Margaret überhaupt so einen Kerl wie Euch heiraten? – Was haltet Ihr von dem hier? Der Kiefer ist noch dran, bloß Zähne hat er nicht mehr viele. – Nein, der da ist besser. Sollte lieber beide mitnehmen. – Haltet mal, ja? Eine Hand brauche ich natürlich fürs Seil. – Na los, nur keine Müdigkeit vortäuschen, helft mir mal ein bißchen. – He, Margaret! Schnapp dir meine Schädel, wenn er hochkommt, sonst fällt er noch drauf und zertrümmert sie!«
Und da lag Gregory auch schon neben den vergitterten Löchern und rang nach Atem wie ein Fisch auf dem Trockenen, und ein glücklicher Sim polierte seine Errungenschaften mit dem Ärmel. Gregory wirkte so schwach wie ein kleines Kätzchen, als ich ihn in den großen, pelzgefütterten Umhang des Grafen hüllte und seine Hände mit meinen rieb, um sie warm zu machen.
»Oh, Margaret, du bist es wirklich«, sagte er, doch seine Stimme klang beängstigend schwach. »Ich habe an dich gedacht – habe dich gesehen – habe dich rufen hören.« Die Haut über seinen Knochen spannte so straff wie Pergament. Wie konnte ein lebendiger Mensch nur so furchtbar dünn sein! Doch die Augen, die aus dem verfilzten Haar und Bart starrten, waren feurig und lebendig. Ich sah, wie er mich anstarrte und schaute und schaute, so als könnte er sich nicht sattsehen. Dann huschte der Anflug eines matten Lächelns über sein Gesicht. Und seine Augen funkelten wie einst halb zärtlich, halb boshaft.
»Ei, Margaret«, sagte er sanft. »Du hast zugenommen.«
»Ich? Habe ich nicht!«
»Komm, komm, du wirst doch nicht leugnen wollen, daß du um die Mitte herum ziemlich füllig bist. Hast es dir nach meinem Aufbruch zu wohl ergehen lassen, wie?«
»Ich und es mir wohl ergehen lassen? Vor Gram verzehrt habe ich mich! Mich verzehrt und dein Kind getragen! Glaubst du, das ist leicht? Seekrank bin ich gewesen! Und gelaufen und gelaufen bin ich! Den gräßlichen Menschen mußte ich hereinlegen! Und du? Nicht mit einem Gedanken daran gedacht, ob du seine verfluchten Gedichte nicht doch loben solltest; es hätte dir und mir die ganze Mühe erspart!«
Er ließ sich nach hinten sinken, und sein Lächeln war schwach, aber triumphierend.
»Ich habe meine Wertvorstellungen, Margaret.«
»Tragt ihn hoch!« wies ich die Stummen an. Zwei von ihnen übergaben Bruder Malachi und Bruder Anselm ihre Fackeln, hoben Gregory hoch und schwangen ihn so leicht zwischen sich wie einen Sack Kohlköpfe.
Sie legten ihn auf die Bank in die Alchimistenwerkstatt, und er begehrte kaum auf, als ich ihm das Gesicht wusch und ihm Haar und Bart stutzte. Ich sah, wie seine Augen von meinem Gesicht zu meiner umfänglichen Mitte hin- und herwanderten, und dann schaute er immer verwunderter drein. Anscheinend ging die Vorstellung, daß wir schon bald zu Dritt sein würden, nicht in seinen Schädel.
»Mach es ihm nicht so schwer«, hörte ich Mutter Hilde hinter mir sagen. Aber ich antwortete nur: »Ich mache es ihm ganz und gar nicht schwer!« und schnippelte schweigend weiter. Dann machte ich mich daran, seine Schwären zu verbinden und hätte am liebsten geweint. Doch das wollte ich ausgerechnet ihn nicht merken lassen.
»Du hast ihm wohl gesagt, daß dir seine Gedichte gefallen«, flüsterte er. Seine Stimme war furchtbar schwach, und dann bekam er einen Hustenanfall, der mir fast das Herz zerriß.
»Klar doch. Was denn sonst? Und das kann ich dir sagen, leicht ist es mir nicht gefallen.« Bei dem Gedanken an Fliederwasser wurde mir ganz übel.
»Gewiß hat er dir seine ›Ode an den Sommer‹ rezitiert.« Ich wusch ihn immer noch, dann machte ich mich daran, ihn anzuziehen. Er war so schwach, daß er nicht einmal dabei helfen konnte, die Arme in die Ärmel des schweren Obergewandes zu stecken.
»Oh, ja. Dieses gräßliche Gedicht mit den Vögeln und Pflanzen. Der Mann hatte nicht die leiseste Ahnung von Sommer. Und keine Spur von Gefühl.«
Gregory lächelte und hustete erneut. Dann huschte ein eigenartiger Ausdruck über sein Gesicht.
»Hatte? Ist er tot?«
»Ja, natürlich. Wieso wäre ich sonst wohl hier? Er hatte Gräßliches mit mir vor, aber als ich ihn deinetwegen aufgesucht habe, ist er aus dem Fenster gesprungen.«
»Ach, wirklich? Du hast ihn gestoßen?«
»Nein. Habe ich nicht. Er hat zuviel von seinem Liebestrank getrunken und ist dunkelrot angelaufen – und dann, na ja, dann ist er gesprungen. Wie du dir denken kannst, war ich sehr erleichtert.« Ich setzte mich auf die Hacken und sah mich an seinem Anblick satt.
»Ich bin auch erleichtert. Aber du hast immer noch eine Sünde auf deinem Gewissen.«
»Habe ich nicht!« Ich war empört. Doch er hustete und beugte sich vornüber, und da sah ich, daß er lachte.
»Du hast ihm gesagt, daß dir seine ›Ode an den Sommer‹ gefällt. Und das, Margaret, ist eine Lüge.«
»Wenigstens eine, die weiß, wie man sich Ärger vom Halse hält.«
»Du glaubst doch nicht etwa, er hätte mich herausgeholt, wenn ich gesagt hätte, mir gefielen seine geschwollenen Reimereien? O nein. Sowie ich ihm beigepflichtet hätte, wäre ich ein toter Mann gewesen. Ich habe an meinen Beleidigungen gearbeitet, Margaret. Gerade die haben ihn immer wieder zurückgehalten. Und solange er zurückkam, haben sie mich am Leben gelassen. Wenn er das Interesse verloren hätte, es wäre sofort um mich geschehen gewesen. Ich habe ausreichend Zeit gehabt, mir gute Beleidigungen auszudenken – aber manche hatte ich schon überstrapaziert. Viel länger hätte ich nicht durchgehalten.«
»Gottlob, du änderst dich nie.« Ich kniete mich neben ihn und nahm ihn in die Arme. Aber als ich meinen Kopf an seine Brust schmiegte, hörte ich bei jedem seiner Atemzüge das Gerassel. Lieber Gott im Himmel, weinte ich stumm. Meine Gabe ist zu schwach, ich kann ihm nicht helfen. Verschone ihn. Ich habe schon zuviel durchgemacht.
»Sim«, hörte ich Bruder Malachi sagen, »mich dünkt, für meine Mühewaltung hätte ich mir etliches verdient – also – hm – Marcus Graecus De igniis, sieht hübsch aus, das wollte ich schon immer haben. Von Aristoteles De lapidibus – nein, das habe ich, und das hier ist schlecht kopiert. Ei der Daus, ja, die Mappae Clavicula – von der habe ich immer nur einen Auszug gehabt. Und eine sehr annehmbare Kopie – dazu noch mit Illuminationen. Arnaldus von Villanova, den nehme ich natürlich auch mit. Opus de Chemia, prächtig, prächtig. Also – das hier – hm. Über die geheime Kunst der Teufelsbeschwörung – das bleibt für die Inquisition da, denn die ruft man gewiß herbei, daß sie diesen Schweinestall ausmistet. Geber, die Summa Perfectionis, ziemlich fleckig vom Gebrauch, aber besser als meine Kopie. Die kommt auch mit. Ja, das dürfte reichen.« Ich wandte mich in Richtung der Stimme und sah mehrere Bände vorn in Bruder Malachis umfänglichem Gewand verschwinden. Gregorys Augen folgten meinen. Er konnte kaum den Kopf drehen.
»Theophilus. Bist du's am Ende doch? Ich dachte, ich hätte dich nur halluziniert. Welche Narreteien haben dich in dieses Hundeloch geführt?«
»Mich?« sagte Bruder Malachi. »Ich bin auf der Suche nach einem Übersetzer für ein seltenes Werk, das ich erworben habe. Und rein zufällig bin ich Margaret hier zur Hand gegangen.«
»Theophilus, du alter Schuft. Ich hätte nie gedacht, daß du mich magst.«
»Tu ich auch nicht, Gilbert, nein. Du bist ein hoffnungsloser, übellauniger, scharfzüngiger, überheblicher junger Tunichtgut. Wo du auch immer bist, das Unheil folgt dir auf dem Fuße, trotz meiner häufig angebotenen – und in den Wind geschlagenen – guten Ratschläge. Meistens ist mir bereits der Gedanke an dich unerträglich. Heute jedoch mag ich dich. Du bist zu schwach, als daß du mich erzürnen könntest. Und den Tag, an dem du ›Ich huldige Madames Trampeltritten‹ gedichtet hast und ich Tränen gelacht habe, den vergesse ich nie. An jenem Tag habe ich dich auch gemocht. Und natürlich an dem Tag, als du mir deinen letzten sou gegeben hast, damit ich Paris den Rücken kehren konnte, und als du dich umgedreht hast und durch den Schnee zurückgestapft bist, da habe ich gemerkt, daß du deinen Umhang verkauft hattest. An jenem Tag, Gilbert, habe ich dich geliebt, und ich habe geweint, als ich meine Manuskripte in mein Bündel geschnürt habe. Doch im großen und ganzen bist du unausstehlich.«
»Jetzt erwartest du wohl, daß ich auch deine Gedichte lobe.« Gregorys Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Typisch Gilbert, diese Beteuerung, du weißt doch, daß ich gar keine mache.« Bruder Malachi hielt inne und blickte sich mit Bedauern im Laboratorium um. Er schüttelte den Kopf. »Die Glasgefäße, die würde ich gern mitnehmen. Weißt du eigentlich, wie schwer man in London an ein anständiges Philosophenei herankommt?«
»Wer ist der Tote, Theophilus?«
»Der da, Gilbert? Noch so ein Ungeheuer, das über die Welt herrschen wollte – kein Verlust für die Menschheit, ganz und gar nicht. Aber, wo ist mein Rührstab?«
Während Bruder Malachi auf den Knien und keuchend unter dem breiten Tisch voller merkwürdiger Glas- und Kupfergefäße herumkroch, meinte Mutter Hilde: »Lieber Malachi, wir sollten wirklich aufbrechen. Der Morgen graut schon bald, und ich für mein Teil kenne keinen Ort, dem ich lieber den Rücken kehren möchte.«
»Der Morgen!« rief ich aus. »Mein Gott! Hugo glaubt wahrscheinlich immer noch, daß er im Einzelkampf gegen den Grafen antreten muß! So wie ich ihn kenne, hat er die ganze Nacht geschlafen wie ein Klotz. Man sollte ihn wirklich wecken und ihn ins Bild setzen.« Wie leicht vergaß man doch Hugo. Und wenn das nicht ein Gewinn war.
»Hugo wer?«
»Hugo, dein Bruder.«
»Hugo und gegen den Grafen antreten? Er hätte nicht eine Minute durchgehalten. Der Mann ist zweimal so groß wie er und obendrein ein besserer Schwertfechter.«
»War.«
»O ja – war. Aber Hugo hier? In einem Kampf auf Leben und Tod mit dem Grafen? Doch bestimmt nicht meinetwegen.«
»Nicht ganz. Der Graf hatte seine edle Abkunft in Frage gezogen. Aber er ist deinetwegen gekommen.«
»Meinetwegen? Dann dürfte er nicht mehr ganz richtig im Kopf sein.«
»Vermutlich. Aber wahrscheinlich will er dir das selbst erzählen.«
»Margaret, in meinem augenblicklichen Zustand ist Hugo wohl der letzte Mensch auf Erden, den ich sehen möchte.« Ein Hustenkrampf schüttelte ihn, daß er sich krümmen mußte. »Der absolut letzte ist Vater. Bleib bei mir, Margaret, deine Hände sind so angenehm und warm.«
»Du warst doch immer der mit den warmen Händen.«
»Nicht mehr.«
»Ich werde dich nie verlassen; das weißt du doch, ja?« Ich kniete mich neben ihn und hüllte ihn in den schweren Umhang des Grafen und nahm ihn in die Arme. Er streckte eine Hand aus, zog meine unter den Umhang und schloß die Augen. In der Wärme des erlöschenden Feuers unter dem Alembik schlief er ein, und sein Atem kam in langen, rasselnden Stößen.
Bis zur Frühmette war es noch ein Weilchen. Noch strahlten die Sterne, als Hugo mitten in der Nacht aufstand. Das Reisen war ihm gut bekommen; er hatte die qualvollen, nächtlichen Wanderungen aufgegeben und seit Monaten wieder richtig geschlafen. Doch jetzt hatten ihn die Alpträume von der mächtigen Gestalt des Sieur d'Aigremont heimgesucht, der in den Schranken auf ihn zukam. Gerade als der Graf ihn vom Pferd geworfen hatte und selber abstieg, um ihm den Gnadenstoß zu geben, fuhr er entsetzt hoch: Ihm war eingefallen, daß er unter einem Fluch stand. Er hatte sich mit einer gräßlichen Sünde befleckt – Gott würde morgen nicht auf seiner Seite sein, selbst wenn er in jeder anderen Hinsicht der bessere Mann war. »Der Fluch, der Fluch«, murmelte er und ging mit großen Schritten zwischen den Strohsäcken auf und ab, auf denen seine Männer friedlich schlummerten. Robert, sein Knappe, drehte sich auf dem Strohsack am Fußende seines Bettes um. Er schnarchte vor sich hin. »Lieber Gott, ich wollte, ich wäre nur ein Reisiger – ein Niemand – mit unbeflecktem Herzen«, flüsterte Hugo neidisch. »Errette mich, Herr, errette mich. Vergib mir. Ich will mich bessern. Ehrenwort. Gilbert kann mir sagen, wie man das macht, wie man sich von diesem Fluch befreit. Irgendwo gibt es sicher einen heiligen Mann, den er kennt. Vielleicht gibt es auch ein Heiligtum für die Verfluchten – irgendeinen Heiligen. Ich will Buße tun, lieber Gott. Alles, was du willst.« Beten. Vielleicht half beten. Ein Rosenkranz, ja, das war das Richtige. Aber wer hatte einen? Cis, die schon. »Verdammte Schlampe! Wozu braucht sie ihn?« brummte er, beugte sich aus dem Fenster und wollte das dunkle Himmelszelt anstarren. Verschwunden mit diesem alten Geck, diesem Sieur de Soule, dem sogenannten Gesandten. Hatte sich einfach ohne eine Spur von Dankbarkeit oder Treue verdrückt. Was bildete sie sich eigentlich ein, wer sie war?
Der kalte Nachtwind schob eisige Wolkenbänke über das Antlitz des zunehmenden Mondes. Komm aus deinem Himmel heraus, Gott! schrie Hugo stumm. Zeig dich und sag mir, daß du mich hörst…
Unten im Hof war Hufgeklapper zu hören. Er blickte hinunter, und da dräute im Mondenschein eine vertraute, riesige Gestalt auf einem großen Rappen. Sie war völlig in einen weiten, schwarzen Umhang gehüllt, der zu beiden Seiten des Sattels herabfiel und dem Pferd im eisigen Nachtwind um die Beine flatterte. Hugo hörte seine tiefe Stimme rufen:
»Kommt! Ich jage heute nacht.« Und zwei weitere Reiter mit Umhang gesellten sich aus den Schatten zu ihm. Einer hatte einen gekräuselten Bart und buschige Augenbrauen. In dem anderen erkannte Hugo den Mönch, der sich am letzten Abend an den großen Stuhl des Grafen gelehnt und ihm ins Ohr geflüstert hatte. Ihre kleinen, gedrungenen Pferde hielten sich hinter dem riesigen Hengst des Grafen. Während Hugo zusah, schien ein Gefolge von feierlichen Gestalten auf großen, schwarzen Zeltern, so schwarz, daß sie auch kein Fleckchen Weiß aufwiesen, aus dem Nichts aufzutauchen und die ersten drei Gestalten zu begleiten. Auch sie trugen dunkle Umhänge, doch hatten sie ihre Kapuzen so heruntergezogen, daß man ihre Gesichter nicht erkennen konnte – das heißt, wenn sie überhaupt Gesichter hatten. Als sie langsam auf das innere Burgtor zuritten, ging dem entsetzten Hugo auf, daß sie dreizehn an der Zahl waren.
»Macht auf!« rief die tiefe Stimme des Grafen, und das Burgtor flog ohne das Dazutun des Torwärters weit auf.
»Feigling!« schrie Hugo ihm vom Turmfenster her nach. »Feigling! Ihr rückt vor mir aus!« Und alle, die er mit seinem Geschrei weckte, rannten zum Fenster und sahen, wie der Graf sein blutleeres Gesicht dem Turmfenster zuwandte und lange, lange zu Hugo emporstarrte, bis er sich am Ende wortlos umdrehte und aus dem Tor ritt.
»Verdammter Feigling, komm zurück!« Wutentbrannt raste Hugo die Treppe hinunter, nur in die Bettdecke gehüllt und die Nachtmütze noch auf dem Kopf. Unten war alles ungewohnt hell erleuchtet, und aus der Kapelle drangen Laute. Er hörte Singen, und ohne einen Gedanken an seine ungebührliche Aufmachung zu verschwenden, folgte er dem anschwellenden Gesang. An der Tür verhielt er den Schritt, doch die stand schon sperrangelweit offen, und er fuhr entsetzt zurück. Dort, auf einem hohen, schwarz umhüllten Katafalk, lag vor dem Altar der zerschmetterte Leichnam des Comte de St. Médard.
Keine Menschenseele, die in jener eisigen St. Crispin-Nacht die schwarze Kavalkade gesehen hatte, zweifelte daran, daß es der Schatten des Grafen höchstpersönlich auf seinem letzten Ritt zu den Pforten der Hölle gewesen war.