Kapitel 9
Führt die Abgesandten des Grafen de Foix herein.« Der Sieur d'Aigremont hatte sich auf dem erhöhten Sitzplatz am Ende seines großen Rittersaals zu einem äußerst eindrucksvollen Bild aufgebaut. Sein schwerer Umhang war über die Lehnen eines großen, thronartigen Holzstuhls drapiert, auf dem er saß, und brachte gleichzeitig das Hermelinfutter und den erlesenen, hellblauen Stein des goldbestickten Wamses zur Geltung, der auf den Speckwülsten seines gewaltigen Oberkörpers schimmerte. Seine großen, ringgeschmückten und mittlerweile haarlosen Hände ruhten untätig auf den Armlehnen, so als wüßten sie nichts Besseres zu tun, als eine Ambrakugel an die Nase zu halten. Und doch spürte man unterschwellig ihre gefährliche Kraft – so als wären sie jederzeit bereit, einen ausgewachsenen Mann zu erdrosseln, wenn die Wut ihn überkam. Das scheinbar lässige Arrangement von Händen, Umhang und Wams war sorgfältig geplant, denn er wollte das, worauf er sich am meisten einbildete, gefällig ins Bild setzen: seine muskulösen Beine, die Beine eines kräftigen Reiters, Jägers, Kriegers und Tänzers, in weißer Seide, welche sich über seinen mächtigen Schenkeln spannte und mit auffallenden, goldenen Strumpfbändern befestigt war.
Welche Ironie, daß auf einem Leib von so ungewöhnlicher Größe und Mächtigkeit ein unverhältnismäßig kleiner Kopf saß. Doch wie um das auszugleichen, waren die Hängebacken so schwer, daß sie den wulstigen Hals völlig verdeckten. Wäre da nicht der breite, juwelenbesetzte Kragen an der verborgenen Nahtstelle zwischen Leib und Kopf gewesen, man hätte schwerlich ausmachen können, wo der Leib aufhörte und der Kopf begann. Ein ausladendes, dunkelblaues prächtig mit Perlen besticktes Samtbarett beschattete die berechnenden Schweinsäuglein und verbarg dem Betrachter das volle Ausmaß ihrer Boshaftigkeit.
Vor ihm knieten die Botschafter, zwei Ritter, noch ganz staubig von der Reise und überbrachten die Botschaft, die man dem Papier nicht anvertrauen konnte.
»Mich einem Friedensvertrag mit den Engländern anschließen, äh? Hat er soviel Angst, der Prinz von Wales könnte von der Gascogne aus gen Osten marschieren, daß er Frankreich nicht unterstützen will?«
»Mon Seigneur de Foix sagt, so wie ihn der König von Frankreich kürzlich unterstützt hat, gibt er seine Ländereien nicht der Plünderung preis, ohne dabei etwas gewinnen zu können. Er reitet mit seinem Vetter, dem Captal de Buch, und schließt sich um seiner Seelen Seligkeit willen den Rittern des Deutschen Ordens an. Er betet, daß zwischen Euch und ihm Friede herrschen möge und daß Ihr Euch ihm zu einem Feldzug anschließt, auf dem jedermann Gold und Ehre winken.«
»Und während er fort ist, soll ich ihm die Kehrseite decken, äh? Wie kommt er auf die Idee?«
»Möchtet Ihr denn nicht löblicherweise Navarra rächen, der dieser Tage im Verlies des Königs von Frankreich schmachtet, desgleichen die erschlagenen normannischen Edelleute des Bündnisses; Navarra steht auf Seiten der Engländer; ein Bündnis mit dem englischen Prinzen in Bordeaux würde Euer Gebiet verschonen und Zeugnis für Eure Liebe zu Eurem Herrn ablegen. Das allein schon sollte Euch geneigt machen, den Worten von Mon Seigneur Foix ein günstiges Ohr zu leihen, selbst ohne die Beweise seiner Liebe zu Euch, welche Ihr so huldvoll entgegengenommen habt.«
»Wie sollte ich die Worte des wohledlen, jungen Grafen de Foix anders als mit äußerst geneigtem Ohr hören? Bleibt und genießt meine Gastfreundschaft, während ich mir sein Ansinnen durch den Kopf gehen lasse.«
Als man sie hinausführte und bevor die nächsten Bittsteller eintraten, wandte er sich an Fray Joaquin, der dicht hinter ihm stand.
»Fürwahr, ein liebender Vetter! Ist die Botschaft von Navarra schon entschlüsselt?«
»Heute morgen, Herr. Er sagt, Ihr sollt Euch mit niemandem außer ihm verbünden; er rechnet mit baldigem Entkommen und hat Pläne für die Rückeroberung seiner Länder im Norden wie auch der Euren.«
»Gut. Wir halten sie hin, dann schicken wir dem Grafen von Foix eine Botschaft unserer ewig währenden Liebe. Ich brauche jetzt Zeit – Zeit und Geld damit ich das Heer ausrüsten kann, welches ich zur Unterstützung meines Herrn aufzustellen geschworen habe. Dieser verdammte Räuberhauptmann, dieser elende, englische Herzog! Wenn der nicht wie Satanas in meinen nördlichen Gebieten hocken würde, ich hätte das Geld bereits in den Händen. Und nun habe ich diesen unseligen Grafen de Foix am Hals! Gaston Phoebus, Gaston Phoebus! Warum in des Dreiteufels Namen muß ihn jedermann Apoll nennen, nur weil er ein hübsches Profil hat? Mich sollte man Reynaud Phoebus nennen! Mich! Wer ist der bessere Dichter? Wer ist der größere Schöngeist? Ich, nicht dieser degenerierte Laffe. Freundschaft – pfui –, wenn ich ihn doch nur zwischen meinen Fingern hätte, ich würde ihm schon zeigen, was ich von ihm halte.« Die Finger des Sieur d'Aigremont verkrampften sich, als risse er den gebratenen Flügel eines Silberreihers auseinander. Dann wandte er sich wieder an Fray Joaquin.
»Wie weit ist Messer Guglielmo? Ich bin es leid, auf das Gold zu warten. Habt Ihr ihm gesagt, daß ich ihn pfählen lasse, wenn er sich nicht beeilt?«
Fray Joaquins verschwörerisches Geflüster klang noch gedämpfter. »Er sagt, er braucht mehr Fixativ für das Quecksilber. Der Stoff, den Ihr ihm beschafft habt, hatte nicht die richtige Qualität. Er traut sich nicht, Asmodeus noch einmal anzurufen. Er verliert die Kontrolle über ihn; er ist durch Eure Gaben zu mächtig geworden und könnte sich losreißen und über die Welt hereinbrechen.«
»Außer Kontrolle? Messer Guglielmo ist eine Memme. Aber nicht mit mir. Hat etwa dieser Laffe Gaston Phoebus Schwierigkeiten mit seinem Orthon? Nein, der hat sich seinen Hausgeist gefügig gemacht – so gefügig wie nur möglich. Und dabei hat er Orthon nicht halb so gut gefüttert wie ich Asmodeus. Ich glaube, Messer Guglielmo tischt uns Lügenmärchen auf – er hält mich hin. Und was das Fixativ angeht, das ich ihm geschickt habe, so genügte es höchsten ästhetischen Ansprüchen. Der letzte von den Kleinen beispielsweise, der so schrie, als ich –«
»Nicht hier, Mon Seigneur, nicht hier. Aber ich glaube, ich habe die Antwort auf das gefunden, was Ihr in dieser Hinsicht braucht.« Fray Joaquin sah das Blut in den Schläfen seines Meisters pochen, während dieser begierig an die Taten der vergangenen Nacht in den Geheimkammern dachte. Der fette, alte Narr war nicht mehr Herr seiner Sinne, wenn die Gier ihn überkam. Das war die Schwäche, durch die ihn Fray Joaquin in der Hand hatte.
»Eine Antwort?« Speichel rann dem Grafen aus dem Mundwinkel, und er leckte sich die roten Lippen, als ob sie immer noch nach Blut schmeckten.
»Auf das Goldproblem. Die nächsten Bittsteller. Die Pilgergesellschaft. Behaltet alle unter einem Vorwand hier. Der fette Mönch unter ihnen ist der mächtigste Adept in ganz Europa. Habt Ihr schon von Theophilus von Rotterdam gehört?«
»Theophilus? Der das Geheimnis der Geheimnisse besitzen soll und aus Paris verschwunden ist, just bevor ihn König Johann verhaften wollte?«
»Eben dieser. Und er tat gut daran zu verschwinden, sonst hätte man ihn für den Rest seines Lebens zum Goldmachen eingesperrt.«
»Sagt ihm, ich lasse ihn foltern, wenn er das Geheimnis nicht preisgibt.«
»Das ist ganz und gar unnötig. Er sagt, er will das Geheimnis der Geheimnisse für das Leben von Sir Gilbert de Vilers eintauschen, welcher auch unter dem Namen Gilbert l'Escolier bekannt ist.«
»Gilbert l'Escolier? Woher in des Dreiteufels Namen weiß er, daß er hier ist?«
»Er sagt, der Stein verleiht das Allsehende Auge.«
»Das Allsehende Auge? Das ist weitaus besser als alles, was Orthon diesem Pipigräflein de Foix versprochen hat. Ich wäre der mächtigste Mann auf der ganzen Welt – nein, ich lasse ihn nicht ziehen. Wir werden Theophilus zwingen, sein Geheimnis preiszugeben. Und was diesen überheblichen Möchtegern-Dichter angeht, so habe ich nicht die leiseste Absicht, ihn Theophilus oder sonst jemand auszuliefern. Ich habe ihn ja noch nicht einmal richtig bearbeitet. Wißt Ihr, was er heute gesagt hat? Halsstarrig wie eh und je. Nein, nein, der verspricht ein sportliches Vergnügen – das beste schlechthin, und ich bin gewillt, jede Minute bis ins letzte zu genießen. Beschwatzt diesen Mönch – erweckt den Eindruck, daß ich einwillige, und bringt das Geheimnis in Euren Besitz. Alsdann erledigen wir beide.«
»Ich bin Euren Wünschen zuvorgekommen, Mon Seigneur. Ich habe nichts gesagt, doch die ganze Gesellschaft willkommen geheißen und sie hierhergeführt, daß Ihr sie Euch ansehen könnt. Bietet ihnen Eure Gastfreundschaft für einen längeren Aufenthalt an, und ich werde dem Mann das Geheimnis der Geheimnisse entreißen – wenn nicht mit List, dann mit Gewalt.«
»Tut, was immer erforderlich ist.« Der Graf entließ ihn mit lässiger Geste. Und Fray Joaquins schwarzer Umhang wehte wie ein großer Schatten hinter ihm her, als er in dem langen Gang verschwand, der zu den Geheimkammern führte, während der Graf de St. Médard die Pilgerschar mit einem frommen Zitat begrüßte.
»Das nenne ich mir einen gastfreundlichen Herrn, lieber Malachi«, sagte Mutter Hilde, nahm den breiten, feucht und schlapp herunterhängenden Pilgerhut ab und legte ihren Stab und das Bündel ans Fußende eines der Betten inmitten des langen, gewölbten ›Pilgersaals‹, der auf den Innenhof der Burg ging. Tagelang hatten wir nun schon an rauschenden Flüßchen entlang die Ausläufer der Berge im herbstlichen Kleid und dann die grauen, verhangenen Gebirgshöhen erklommen. Gestern hatten wir die ausgedehnten Apfelgärten des Hochtals von St. Médard-en-bas rauhreifbedeckt hinter uns gelassen, und als wir dann die steilen, gewundenen Straßen von St. Médard-en-haut erreichten, war aus dem Nebel strömender Regen geworden, der uns bis aufs Hemd durchnäßte und unsere Gesichter zu Eis erstarren ließ.
»Was habe ich dir gesagt, Blume meines Lebens? Mein alter Name wirkt in der Bruderschaft immer noch Wunder«, sagte Malachi und breitete mit selbstgefälliger Miene seine feuchten Sachen vor dem großen Feuer aus. »Theophilus von Rotterdam muß nicht in der erbärmlichen Dorfherberge zusammen mit hoi polloi nächtigen, Bruder Malachi jedoch hätte gar keine andere Wahl gehabt.«
Rings um uns richteten sich die weniger vornehmen Mitreisenden aus der Gesellschaft des Abtes ein. Hinter einem schweren Wandschirm am Ende des Saales, der nur von einer niedrigen Holztür durchbrochen wurde, lag die Unterkunft für die weiblichen Pilger. Überall im Raum war der Geruch nach feuchter Wolle und das Gebrabbel der Reisenden, was ihm etwas Anheimelndes gab. Als ich mir das Wasser vom Umhang schüttelte, hatte ich schon wieder so ein Gefühl im Magen, als ob wir einen schrecklichen Fehler gemacht hätten. Noch nie hatte ich soviel Heimweh gehabt. Und Gregory konnte ich mir an einem solchen Ort auch nicht vorstellen. Vielleicht war er bereits fort. Vielleicht war er nie hiergewesen. Margaret, Margaret, du bist eine dumme, halsstarrige Frau, da siehst du, was du dir eingebrockt hast. Da stehst du nun halb erfroren und schwanger in einem der häßlichsten Räume der ganzen Christenheit, und deine Kinder und dein warmes Bett hast du verlassen, um Träumen und Phantastereien nachzujagen. Alle haben dir gesagt, du sollst nicht so störrisch sein, hättest du nur auf sie gehört.
»Nein, wie höflich, wie huldvoll dieser fromme Seigneur d'Aigremont. Habt Ihr seine Ringe gesehen? Der macht uns beim Abschied vielleicht noch ein Geschenk.« Der geschwätzige Bruder Anselm ließ sein Bündel in die Ecke fallen. »Lieber als Geld wäre mir natürlich ein netter, trittsicherer Maulesel. Oh, wie konnten diese verräterischen, falschen Priester sich nur so davonmachen! Zweifellos waren sie im Bunde mit dem Teufel, denn der verrät den Trägern des gelben Rades, wie sie Gottes Gerechtigkeit entgehen können.«
Mir war jedoch etwas Seltsames aufgefallen. Seit wir durch das riesige Eisenportal in das Chateau eingezogen waren, gab mein Brennendes Kreuz ununterbrochen ein feines, zorniges Summen von sich, gleichsam wie eine gefangene Wespe. Wenn ich die Hand darauf legte, hörte es auf, doch kaum nahm ich die Hand fort, ging es schon wieder los. Im großen Audienzsaal befürchtete ich schon, jemand würde es bemerken, doch zum Glück fiel es bei dem Lärm des ständigen Kommens und Gehens nicht auf. Aber jetzt, in der Stille unseres Raumes, war es besser zu hören als zuvor, und ich spürte, wie es auf meiner Brust, wo ich es unter meinem Überkleid barg, bebte, als wäre es lebendig.
Die Räume, eigentlich ein langer, steinerner Raum, den man mittels eines mächtigen, geschnitzten, hölzernen Wandschirms, der bis zur Decke reichte, unterteilt hatte, waren durch mehrere Gänge ohne Türen für jedermann zugänglich. Sie glichen eher Fluren, wenn man von den Bettstellen mit den einfachen Pelzdecken und den Kohlebecken absah, die zum Wärmen aufgestellt waren. Von den Türbögen her zog es kalt und traf sich mit dem Zug von den Fenstern, daß die Flammen der Kohlebecken tanzten und flackerten. Doch die Räume waren eine anständige Unterkunft und dicht bei den Räumen von Lady Isolde, der Frau des Grafen, und seinem jungen Sohn und einzigen Erben gelegen. Mir kamen sie ein wenig zu gut für Pilger vor, auch wenn sie nach Meinung der hoffärtigeren Reisegenossen kaum den Ansprüchen genügten.
»Sieh nicht so verdrießlich drein, Margaret«, sagte Bruder Malachi beim Anblick meiner besorgten Miene. »Alles wird wieder gut – warte nur ab. Es hat alles so sein sollen – und bald bist du wieder fröhlich.«
»Da, Malachi, hörst du das?«
»Was?«
»Ein Summen wie von einer Fliege?«
»Eine Fliege? Um diese Jahreszeit? Äußerst seltsame Fliegen haben sie in diesem Teil der Welt.«
Ich legte Stab und Bündel ans Fußende eines der Betten hinter dem Wandschirm. Dann winkte ich Mutter Hilde stumm herbei, fort von den neugierigen Blicken der Männer.
»Hör mal, Mutter Hilde«, flüsterte ich und zog das Brennende Kreuz aus seinem Versteck. Als ich es ihr hinhielt, wurde das wimmernde Summen noch lauter.
»Du lieber Gott«, flüsterte sie, »es summt ja.«
»Und ganz warm ist es auch«, gab ich im Flüsterton zurück. »Es wird schlimmer, wenn ich in die Nähe des Grafen komme. Das kann nur an der Luft liegen, Mutter Hilde. An diesem Ort ist sogar noch die Luft böse.«
»Du hast recht, Margaret.« Mutter Hilde sah sehr ernst aus.
»Warne Bruder Malachi, Hilde, aber laß es nicht diese Plaudertasche Bruder Anselm wissen.«
Ich barg es in der hohlen Hand, und schon schwieg es und wurde kühler.
»So, so, Frauen können wohl nicht anders, sie müssen tratschen, selbst auf Kosten des Abendessens«, verkündete Bruder Anselm etwas spitz, als wir durch die kleine Tür traten.
»So geht es und geht es. Ach, ich weiß auch nicht, warum ich mir diese Bürde aufgehalst habe«, sagte Bruder Malachi laut. »Ich jedenfalls bin hungrig. Und wie ich höre, läßt dieser Herr selbst für so Geringe wie unseren Sim elegant auftischen. Der hat bereits einen Blick in die Küche geworfen, während ihr dahinten getrödelt habt.«
Und tatsächlich, als wir uns umblickten, stand da Sim und sah aus, als wäre er einer Erdspalte entstiegen.
»Auf zum Abendessen, alle miteinander. Ich befürchte, die Reisigen sind uns zuvorgekommen und haben uns die besten Plätze weggeschnappt«, sagte Bruder Malachi.
Doch da täuschte er sich. Man hatte für uns schöne Plätze in der Mitte der Tafel reserviert. Viel zu schön für schlichte Pilger, dachte ich. Das Abendessen war elegant, und die ganze Zeit über spielten uns Musiker auf einer versteckten Galerie auf. Und weil Gesandte vom benachbarten Grafen unter uns weilten, gab es entremets, die einem die Sprache verschlugen: Ein Schiff auf Rädern ganz aus Pastetenteig, und dazu tanzten ganz golden bemalte Knaben. Nach dem Abendessen sahen wir maurische Tänze, und diese Tänzer waren ganz schwarz und wüst bemalt und mit Juwelen und Glöckchen behängt. Als dann die Schragen fortgeräumt waren, bedeckte man den Kastentisch wieder mit einem eleganten, roten Tischtuch, und zur Kurzweil der hohen Herrn aus der Reisegesellschaft des Botschafters, die zu Gast beim Grafen weilten, wurden Spiele aufgebaut. Als wir uns empfahlen, ging die Sonne bereits unter, und man hatte für den Spieltisch Kerzen geholt. Im Schein der rauchenden, gerade angezündeten Fackeln würfelten die Herren eifrig, während sich die Gräfin mit ihren Damen und pucelles auf die andere Seite des Saals zurückgezogen hatte, wo ein Damebrett aufgestellt war. Am Fuße des Tisches spielte ihnen ein Harfenist auf und sang dazu ein süßes, wehmütiges Lied, doch die Worte verstand ich nicht. Während wir uns durch fackelerleuchtete Gänge zu unseren Räumen zurücktasteten, hallten die letzten Töne des Liedes in mir nach, Töne, die beinahe genauso klangen wie das fast unhörbare Summen unter meinem Überkleid.
Am nächsten Morgen, nicht lange nach dem Frühstück, kam der graugesichtige Dominikaner, der wichtigste Berater des Grafen, so schien es, um Malachi zu holen. Sie redeten Latein, darum verstand ich kein Wort, doch mir gefiel der Ton des Mannes nicht, obwohl es Malachi überhaupt nichts auszumachen schien. Aber er redete Malachi mit ›Theophilus‹ an und tat ehrerbietig. Und dann starrte er Sim auf eine Art und Weise an, die mir gar nicht gefiel; es sah so aus, als wollte er den Preis für ein Schwein festsetzen, und dann murmelte er in einem Dialekt etwas, das sich für mich wie ›zu häßlich‹ anhörte.
»Malachi, geht Ihr –« setzte ich in Englisch an, doch Bruder Malachi gebot mir mit einem scharfen Blick Schweigen, und dieser Blick paßte so gar nicht zu ihm, so daß ich ganz verstört war.
Darauf sagte er fröhlich und ebenfalls auf Englisch: »So lebt denn wohl, meine Lieben. Und was auch immer ihr tut, nehmt Sim mit.«
»Ja, natürlich, Malachi«, antwortete Mutter Hilde so gelassen wie nur möglich. In genau dem gleichen Ton pflegte sie zu sagen ›das Kind atmet nicht mehr‹. Wirklich bewundernswert, diese Mutter Hilde. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß sie geradewegs in die Hölle marschiert und dem Teufel sagt, er solle das Feuer ausmachen, das er gerade schürt, denn oben sei es zu warm, und das in eben diesem Ton. Als sie noch meine Lehrmeisterin war, sagte sie immer:
»Margaret, es gibt Zeiten, da kommt es nur auf die Festigkeit an.«
Kurz vor Mittag trieb uns Bruder Malachi in einer Schar von Nichtstuern auf dem Turnierplatz auf, wo wir zusahen, wie die Knappen zu Pferd ausgebildet wurden, und sagte auf Englisch:
»Meine Lieben, wir wollen nach unseren Pferden sehen.«
»Unsere Pferde?« fragte ich. Als ob wir die gehabt hätten.
»Ja, Margaret. Unsere Pferde, die hier in der Nähe im Stall stehen«, wiederholte er fest, während mir Mutter Hilde einen warnenden Blick zuwarf. Wir folgten ihm wortlos.
»Dort treffen wir vermutlich niemand, der Englisch spricht«, sagte Bruder Malachi und betrachtete ernsthaft die Kruppe eines Pferdes in seiner Box. »Aber man weiß ja nie bei den ganzen Söldnern hier«, fügte er hinzu und ging zur nächsten Box. Während er sprach, starrten wir alle auf den hin- und herwedelnden Schwanz des Pferdes.
»Die hier haben alles, wovon unsereins nur träumen kann. Wunderbare Gerätschaften. Ihren eigenen Glasbläser. Sechs Helfer. Und Messer Guglielmo, welcher der größte Einfaltspinsel Europas sein dürfte, weiß nichts damit anzufangen. Er ist erst halb so weit wie ich. Hält nichts schriftlich fest – das ist seine Schwäche. ›Warum etwas aufschreiben, das nicht geklappt hat?‹ fragt er auch noch. Der Narr! Damit es nicht noch einmal passiert, darum! Außerdem kann man auf etwas stoßen, und dann weiß man nicht mehr, wie man dorthin gelangt ist. Er hat ein Verfahren laufen, welches er seit über einem Jahr bei leichtem Feuer hält. Und zweitausend Eier, die er sechs Monate lang vergraben hat, aus denen wollte er die Quintessenz des Eis herausziehen. Ein starker Stoff, wenn er Erfolg gehabt hätte. Aber pfui! Was für ein Gestank! Ich weiß gar nicht, wieso ihr euch über mich beschwert! Aber was für ein Laboratorium! Philosopheneier jeglicher Größe! Pelikane und Kürbisse, was das Herz begehrt! Eine Aludel, so groß, daß man ein ganzes Zicklein darin sieden könnte! Mit solch einem Laboratorium wäre ich für den Rest meines Lebens ein glücklicher Mensch.«
Irgend etwas war mit Bruder Malachi los. Seine Worte klangen wie gewohnt, seine Stimme jedoch nicht. Wir gingen zur nächsten Box weiter.
»Bücher. Sie haben Bücher, die ich immer haben wollte. Die verbotenen Schriften des Arnold von Villanova. Graecus' Buch der Feuer. ›Ei, da habt Ihr ja auch die Mappae Clavicula‹, sage ich. ›Ja‹, sagt dieser Dominikaner, dieser Höllenhund. ›Wenn Ihr bleiben und sie kopieren möchtet, so seid der Gastfreundschaft meines Herrn versichert.‹ Da wußte ich, daß er nicht die Absicht hatte, uns ziehen zu lassen.« Malachi blickte uns an. Nur ein paar Stunden, und schon wies sein Gesicht tiefe Falten auf. Und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.
»Dann habe ich mich mit Messer Guglielmo unterhalten. Habe herumgeschnüffelt und kritisiert. Danach wußte ich Bescheid. Es war, wie ich vermutet hatte.« Seine Stimme klang gequält. »Sie nehmen das falsche Fixativ. Das, wovon ich dir erzählt habe, Hilde. Häßliche, braune Spritzer überall. Gott allein weiß, wo sie die Knochen vergraben. Dazu schwarze Kerzen. Die hatten sie versteckt, aber ich habe in einer Nische einen Stummel entdeckt, den sie vergessen hatten. Vergib mir, vergib mir, Hilde. Es schien alles so einfach, als mir die Idee dazu kam. Ich hätte weitere Nachforschungen anstellen sollen. Ich hätte es ahnen sollen. Aber anscheinend hat uns meine Sorglosigkeit ins Verderben gestürzt.« Er blickte sie verzagt an, doch ihr starkes Herz ließ sie nicht einen Augenblick im Stich. Sie ergriff seine Hand.
»Mein Platz ist stets bei dir, Malachi. So habe ich es gewollt. Es gibt nichts zu vergeben.« Er sah sie an, als zehrte er von ihrer Kraft, dann holte er ein paar Mal tief Luft.
»Halte sie hin«, sagte sie. »Du weißt doch wie. Darin bist du gut. Die Zeit nutzen wir, um herauszufinden, wo sie Gilbert verstecken. Ei«, lachte sie grimmig, »Sim kann praktisch durch Wände gehen. Und du – du verstehst die ganzen Sprachen hier und hast überall auf der Burg freien Zutritt. Und Margaret und ich – also, Gott wird uns einen Weg zeigen. Das hat er früher auch schon getan. Und – Margaret – jetzt fällt mir ein, gib mir das Kästchen mit dem Ring. Du bringst es nicht übers Herz, ihn zu verschenken, und vielleicht schadet das Gift auch dem Kind. Es könnte doch sein, daß wir Verwendung dafür haben. Fixativ, fürwahr! Wir werden ja sehen, wer hier Fixativ braucht!«
Zwar behandelte man uns während der folgenden Tage gut, doch wir hatten allen Grund, mit unserem Geschick zu hadern. Tagtäglich verschwand Malachi in dem großen, geheimen Laboratorium, und Hilde hörte nicht auf sich zu sorgen, bis sie ihn beim Abendessen wohlbehalten wiedersah. Und weil wir die Sprachen hier nicht verstanden, hörten wir rings um uns nur Gebrabbel und kamen uns zuweilen vor wie im Gefängnis. Gelegentlich sprach jemand das Französisch des Nordens, und dann konnten wir uns verständlich machen. Aber wohin wir auch gingen, immer schien uns jemand zu folgen.
Nach einem Weilchen schaffte es Sim, der stets auf der Suche nach Eßbarem war, Freundschaft mit dem Küchengesinde zu schließen, indem er sich der Zeichensprache bediente und sich nützlich machte. Wir waren ganz außer uns vor Sorge, er könnte verschwinden, doch immer kam er zurück, in der Regel kaute er einen Apfel aus einem der großen Vorratsfässer und erzählte uns, was er schon wieder an Neuem entdeckt hatte. Er war es auch, der uns von den Geheimkammern und den Schreien erzählte, die man des Nachts zuweilen hören konnte, und das so beiläufig, als handelte es sich um eine Bärenhatz.
»Und dann«, sagte er und biß erneut in seinen Apfel, »dann bekreuzigen sie sich und legen übertrieben deutlich den Finger an die Lippen und ziehen ihn quer über die Kehle, so –« und schon wieder biß er zu. »Und wißt ihr auch, wie er sie bekommt? Dieser finstere, alte Ziegenbock in Schwarz läßt sie von weither holen, und wenn sie ihm ausgehen, macht der Graf des Nachts ganz in Schwarz Jagd auf sie wie ein Geist. Klopft mit dem Stiel der Peitsche – die mit dem knöchernen Totenschädel als Griff, welche er immer dabei hat – an die Türen der Bauern, und dann deutet er damit auf ein Kind, das er haben will – selbst Säuglinge in der Wiege sind nicht vor ihm sicher.«
»Wie haben sie dir das alles erzählt, das mit der Farbe und den Säuglingen, wenn sie nicht reden dürfen?«
»So«, sagte er. »Sie zeigen auf etwas Schwarzes und machen so«, und mit ein paar Gebärden schilderte er eine gestiefelte Gestalt im Umhang und von Kopf bis Fuß in Schwarz, die, von Vorreitern umgeben, ein schimmerndes weißes Pferd ritt.
»Und warum sagen sie es nicht dem Bischof? Der würde ihm die Inquisition auf den Hals schicken. Wie können so viele Kinder verschwinden, ohne daß es jemand auffällt?«
»Weil alle Angst vor ihm haben. Er kann hexen und Teufel beschwören. Bei Vollmond reitet er auf der Jagd nach Blut aus wie Satanas persönlich.« Sim fuchtelte mit den Armen, um einen wehenden Umhang anschaulich zu machen, und sprang wie ein galoppierendes Pferd herum und mußte die ganze Zeit über dieses schauerliche Bild grinsen. »Wenn ich wieder daheim bin, erzähle ich alles meinen Freunden. Ich jage ihnen solche Angst ein, daß sie auch nicht mehr wachsen, und dann bleiben wir alle gleich groß«, sagte er zufrieden und setzte sich hin, um seinen Apfel aufzuessen. Wenn Sim einen Apfel verspeist, merkt man, daß er auf der Straße aufgewachsen ist. Er verputzt ihn mit Stumpf und Stiel, so als wäre es der allerletzte.
»Du, Sim, sieh dich vor. Ich möchte nicht, daß dir etwas Gräßliches zustößt«, mahnte Mutter Hilde.
»Oh, sorgt euch nicht um mich. Ich bin zu häßlich, sagen sie. Er mag nur blonde Kinder. Außerdem bin ich flink. Lebt wohl, ich helfe jetzt beim Hühnerrupfen.«
Und Mutter Hilde und ich spazierten wohl auf und ab, insbesondere an offenen Kellerfenstern vorbei, und hofften, etwas zu hören. Einen Fingerzeig, eine Stimme, irgend etwas. Doch der wahrscheinlichste Ort, das Verlies im Bergfried, schien überhaupt kein Fenster zu haben.
»Und nun, Mutter Hilde, was nun? Ich kann wohl kaum wie König Richards Troubadour vor jedem Fenster singen. Damit würde ich mich um diese Jahreszeit verdächtig machen, wenn ich da im Morast herumstehen und in Kellerfenster hineinsingen würde.«
»Es wird sich schon etwas ergeben. Doch da die Rede gerade von Herumschnüffeln ist, was ist eigentlich aus der Weißen Dame geworden, die den Schühchen folgen wollte?«
»Sie hat gesagt, die Überfahrt wäre ihr gar nicht bekommen, und dann wurde sie ganz durchsichtig und blaß und löste sich auf. Wenn einen selbst die Gespenster schon verlassen, Mutter Hilde, dann sitzt man weiß Gott in der Tinte.«
»Damit könntest du recht haben, Margaret, obwohl ich es noch nicht von diesem Standpunkt aus betrachtet habe.« Doch genau in diesem Augenblick stöberte uns eine der Gesellschafterinnen der Gräfin, eine große, dunkelhaarige Dame mit einer grotesken, zweigeflügelten Haube draußen auf den Stufen zum großen Palas auf, wo wir standen und den matschigen Burghof betrachteten.
Sie redete mich in verständlichem Französisch an, das jedoch einen eigentümlichen Akzent hatte.
»Ist die Frau dort bei Euch die berühmte Meisterin der Kräuterarzneien, la Mère Hilde?«
»Freilich«, erwiderte ich, »aber woher wißt Ihr das?«
»Wir haben von Eurem Beichtvater, Bruder Theophilus, gehört, daß sie bei der noblesse in England sehr gefragt ist. Er sagt, sie hat sogar schon die Königin behandelt. Könnt Ihr für uns mit ihr reden?« Oh, schlauer Malachi, er hat etwas vor, dachte ich. Und so entspann sich eine dreiseitige Unterhaltung, durch die Mutter Hilde erfuhr, daß die Gräfin an vielen Gebresten litt und ihr Sohn sich nicht wohl fühlte und man Mutter Hilde bat, ihr aufzuwarten.
Und ehe wir uns versahen, führte man uns in einen großen, runden Raum mit steinernen Wölbungen, den schöne, seidene Wandbehänge zierten. Ein großes Feuer brannte, und das Zimmer war überhitzt und verräuchert, denn das Holz war zu feucht. Am Feuer saß ein bleicher, matter kleiner Junge von zehn Lenzen ganz in eine Pelzdecke gehüllt. Auf seinem dünnen, bräunlichgelben Haar thronte ein großes pelzgefüttertes, hellrotes Barett. Er hatte die sonderbaren, wulstigen roten Lippen seines Vaters, die bei ihm jedoch nur noch ein verblichenes Gelblichrosa zeigten und in einem spitzen, kränklichen Gesichtchen saßen, das an ein nacktes Eichhörnchen erinnerte und ihn seltsam entartet und unnatürlich aussehen ließ. Und wie bei einem Eichhörnchen schienen seine bangen Äuglein fast seitlich am Schädel zu sitzen. Mit dem trübseligen, spitzen Gesicht und dem fliehenden Kinn war er fast das vollendete Ebenbild seiner Mutter, die sich über seinen Stuhl beugte und ihm bei einem Schachspiel mit seinem Lehrer zuschaute. Als sie uns eintreten sah, löste sie sich aus der Gruppe und gab einer anderen Gesellschafterin mit einem ebenso albernen Kopfputz wie die erste Anweisung, uns zu ihr zu führen.
»Ich benötige Heilmittel, Arzeneien«, sagte sie, und ihre Stimme wurde dabei zu einem kläglichen Greinen. Sie faßte nach dem juwelenbesetzten Kopfputz, der oben auf ihrem fahlen Rattengesicht saß. »Ich habe Kopfschmerzen, schreckliche Kopfschmerzen. Sie machen mich beinahe blind. Ihr heiligen Pilgerinnen, Ihr müßt mir helfen. Und meine Verdauung. Schmerzen, Schmerzen, versteht Ihr? Ich bin schwach. Und mein Sohn – da seht nur –, er muß kräftiger werden. Er kann diesen Raum nicht verlassen. Er kann nur im heißesten Sommer reisen. Findet ein Heilmittel für ihn, oder heilt ihn mit Euren Gebeten, und ich will meinen Mann bitten, Euch reich zu entlohnen. Ihr zieht ins Heilige Land – nein, nach Compostela, ja? beritten wie Königinnen. Jagdhunde, Reisige, Geld. Alles ist Euer, wenn Ihr ihn so kräftig wie andere Kinder machen könnt.«
»Kennst du den Grund, Mutter Hilde?« fragte ich auf Englisch.
»Sieh dir ihr Wappen auf der Wand an, Margaret. Ich kann zwar keine Wappen lesen, aber ich sehe wenigstens vier Felder mit ziemlich ähnlichen Symbolen. Die Hauptursache ist schwaches Blut. Hohe Familien können sich eine Erlaubnis vom Papst zur Heirat mit sehr nahen Verwandten leisten – sie heiraten zu oft untereinander, und so wird ihr Blut dünn, aber ihre Börse dick. Der andere Grund ist das Böse in diesem Haus. Es saugt diesen Unschuldigen die Kraft aus, obwohl man sie in Unkenntnis läßt.«
»Und sagt ihr«, flüsterte mir die Gräfin auf Französisch zu, damit ihre Dienerinnen nichts mitbekamen, »ich kann keine Kinder mehr bekommen. Mein Gebieter würde mich wieder lieben, wenn ich noch ein Kind hätte. Er hat mich doch einst geliebt. Er hat mir Geschenke gemacht und vor unserer Heirat ein Gedicht auf mich geschrieben. Wenn er mich wieder liebte, würde er mich nicht so alleinlassen. Immer in diesen Räumen eingesperrt, niemals im Freien. Wir reisen auch nie mehr mit ihm. Und wenn mein Gebieter auf dieser Burg weilt, spricht er nie mit mir außer bei Tisch, wenn wir Besucher haben. Er kennt nur noch seine Geschäfte, Nacht für Nacht. Hat keine Zeit für mich. Kein Wort, kein Besuch, kein Beweis seiner Gunst. Und sein Sohn – schaut ihn Euch an! Er verhöhnt das Kind. Wenn Ihr dieses hier nicht heilen könnt, so verschafft mir ein kräftigeres, ich bitt' Euch. Die Mittel kümmern mich nicht – ich muß bei meinem Herrn wieder Gnade finden.«
Während ich übersetzte, untersuchte Mutter Hilde das Kind und machte ta-ta-ta, und es spielte ruhig weiter Schach und schien sie nicht zu hören. Vermutlich hatten die Menschen sein ganzes Leben bei seinem Anblick ta-ta-ta gemacht.
»Ich muß die richtigen Kräuter sammeln«, sagte Mutter Hilde, »sag ihr, daß nicht alle in ihrem Garten wachsen und daß wir außerhalb der Mauer suchen und einen Knaben haben müssen, der uns den Weg weist.« Das kleine Rattengesicht sah entsetzt aus. Und doch geschah es, daß wir bereits am nächsten Tag mit zwei bewaffneten Knechten jenseits der Mauern oberhalb des Dorfes zu den windigen Gebirgspässen wandern durften. Mutter Hilde braut wunderbare Mittel gegen Kopfschmerzen, doch das beste, für das man Weidenrinde braucht, konnte sie hier nicht herstellen, da ihr die Zutaten fehlten. Wir erkundeten die Gegend, doch Gregory fanden wir nicht, obwohl ich überzeugt war, daß er hier irgendwo versteckt wurde.
Unterdes regten sich einige Pilger auf, daß sie vor Einsetzen der schweren, winterlichen Schneefälle nicht mehr über die Berge kamen und schickten eine Abordnung zum Grafen, der sie mit dem brutalen Hinweis abwies, fürstliche Gastfreundschaft sei weitaus besser, als zur Winterszeit die Berge nackt zu überqueren.
Jeden Abend kehrte Malachi mit neuer Kunde aus dem geheimen, alchimistischen Laboratorium zurück.
»Ach, gar nicht zu sagen, wie ermüdend das Nichtstun ist. Ihr kommt wenigstens an die frische Luft, aber was soll ich sagen? Unter der Erde, bei übelsten Gerüchen eingesperrt und zur Unterhaltung nichts als diesen Narrenkönig, Messer Guglielmo, und einen Haufen stummer Dummköpfe, halbnackt wie die Scharfrichter. ›Mein Gott‹, sage ich zu ihnen, ›wie könnt ihr euch nur mit Kupfergefäßen an die Große Arbeit wagen? Die verunreinigen doch den Drachen. Fort mit ihnen. Ich will Glas, ausschließlich Glas. Eures ist nicht dick genug.‹ Darauf macht Messer Guglielmo ein Getue wie ein altes Weib, und der Glasbläser spielt den Gekränkten, und es dauert ein paar Tage, bis alles seine Richtigkeit hat. Darauf nahm ich die größte Aludel und stellte Weingeist her. Ich habe sie so betrunken gemacht, daß sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. ›Das Lebenselixier‹, so sage ich, »richtet Eurem Herrn aus, er soll davon jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Dosis einnehmen. Es verlängert sein Leben um hundert Jahre.‹ Das haben sie getan. Er ist heruntergestiegen und hat mir zugesehen. ›Pfui, unmögliche Gerätschaften‹, sage ich zu ihm. ›Ich brauche Auripigmentum; ohne das kann ich nicht arbeiten.‹ Da wurde er ausfallend. Er ist, glaube ich, hochverschuldet und braucht dringend Geld. ›Meine Gerätschaften sind die besten in sechs Königreichen‹, sagt er, und seine bedrohlichen Hängebacken zittern, ›was nun Auripigmentum angeht, wenn Ihr nicht ohne das auskommen könnt, so reiße ich Euch die Fingernägel einem nach dem anderen aus, bis Ihr es könnt.‹ Uff. Kultiviert, pa!« Bruder Malachi spuckte auf den Boden. »Und beim Mahl soll mir das Essen schmecken, wenn seine Spielleute diese Scheußlichkeiten singen, die er Verse nennt. Wahrlich, Gilbert konnte selbst stockbetrunken bessere machen. Sogar im Schlaf könnte er noch bessere machen.«
»Gregory hat betrunken Verse gemacht?«
»Natürlich, du Dummchen. Man hat ihn in jeder Schenke von Paris bis London gefeiert. Er konnte aus dem Ärmel in jedem Stil dichten. Rondels, Sonnette, alles! Es floß aus ihm heraus wie Wein aus dem Faß! Und fast alle satirisch. Beim Barte des heiligen Dunstan, ein paar waren wirklich lustig! Einmal hat so ein hochwohlgeborener Troubadour ein paar gedungene Schurken ausgeschickt, die sollten ihn auspeitschen, doch wir haben ihn aus der Hintertür hinausgeschmuggelt, wo er in der Hintergasse zum Gedenken an das Ereignis ein Gedicht machte. Wie ich höre, wird es immer noch in übel beleumdeten Studentenkneipen gesungen. ›Warum Dichter geflügelte Füße brauchen‹ hieß es. Dann beschloß er, sich in der Wissenschaft einen Namen zu machen – doch es ergab sich, daß er statt dessen seinen Namen in Verruf brachte. Das war denn doch entmutigend, und da beschloß er, der Ruf, Gott zu sehen, wäre an ihn ergangen, und er wurde zu einem erstklassigen Langweiler. Also, wie er sich mit dir einlassen konnte, das geht über mein Begriffsvermögen – ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein Mann mit einem Fünkchen Verstand, geschweige denn einer wie er, deine Memoiren aufschreibt. Entschuldigung, aber es will mir nicht in den Kopf, daß du Gedanken haben könntest, die das Aufschreiben lohnen.«
»Genau das hat er auch gesagt.«
»Und du hast natürlich geantwortet, daß er unrecht hat.«
»Ja, selbstverständlich.«
»Natürlich, selbstverständlich«, seufzte Bruder Malachi. »Es war also eine himmlische Eingebung.«
»Malachi, wenn du so plapperst, hast du etwas im Sinn. Was genau ist das?« kam Mutter Hilde dazwischen.
»Also, ich glaube nicht, daß er unter dem Bergfried ist.«
»Dann habt Ihr ihn gefunden!« Mein Herz tat einen hoffnungsfrohen Satz.
»Noch nicht ganz. Aber heute bin ich endlich unter den alten Turm gekommen, doch dort lagern sie fast ausschließlich Pökelfleisch und andere Vorräte. Ich habe ihnen gesagt, ich brauche den Schimmel vom Käse. Und dort habe ich festgestellt, daß es unter uns in dem Raum mit dem Alembik, im Neuen Turm, noch einen Keller gibt. Dort gibt es – weh mir – eine Folterkammer – ich habe einen Unseligen schreien hören, dadurch habe ich es herausgefunden – dazu ein paar große Zellen bis oben hin voller häßlicher Folterwerkzeuge und mehrere gräßliche kleine Verliese. Die sind so angeordnet, daß ständig Wasser durch sie fließt, und dort züchtet er Kröten, Skorpione und was dergleichen mehr ist. Sie sind sehr tief und haben oben ein Gitter – er läßt die Menschen einfach nackt ausziehen und zum Giftzeug hinunterwerfen. Zu diesem Zweck gibt es eine Art Flaschenzug, wohl auch, um sie wieder herauszuholen, obwohl das seit Menschengedenken nicht mehr geschehen ist. Sie sagen, die Verliese sind sehr tief, doch nicht sehr groß – an die zwei Ellen in die Breite, sagt jedenfalls Messer Guglielmo. Ich habe ihn betrunken gemacht, und da war des Redens kein Ende. Es scheint, daß ihn die Schreie bei der Arbeit stören, und er glaubt, daß ein artiste wie er für seine Mühen größerer Rücksichtnahme und einer bekömmlicheren Bleibe bedarf.«
»Oh, Malachi, Ihr seid wunderbar; wir haben ihn gefunden!« rief Mutter Hilde. Aber ich fing an zu weinen.
»Ach, Malachi, was für ein gräßlicher Ort. Und so kalt. Er muß tot sein. Wir sind zu spät gekommen.«
»Komm, komm, Margaret, nur Mut. Diesen Teil habe ich mir für zuletzt aufgespart. Es scheint, daß der Graf ihm einmal in der Woche, freitags, so hörte ich, höchstpersönlich einen Besuch abstattet und sich nach seinem Ergehen erkundigt. Geht die ganzen Stufen hinunter, riecht an einer Ambrakugel und kommt so wütend wieder zurück, daß er Messer Guglielmo auf dem Weg nach oben anbrüllt. Vergangenen Freitag hat er mit der Ambrakugel nach ihm geworfen und gedroht, ihm die Hände und Füße abzuhacken, wenn er nicht schneller macht.«
»Freitag? Das war erst vor vier Tagen.«
»So ist es, liebes Kind. Doch nun laßt uns Pläne schmieden. Ich habe keine Ahnung, wie ich zu ihm gelangen soll, und ich bin am Ende meiner Tricks, abgesehen von einem. Wenn ich erst Gold hergestellt habe, sind wir verloren, es sei denn, wir machen uns noch in derselben Nacht auf und davon. Ich werde ihm erzählen, daß es nur bei Vollmond getan werden kann – das gibt uns Licht für die Reise bei Nacht und hält ihn noch ein Weilchen hin.«
»Goldmachen? Du hast die ganzen Jahre gewußt, wie man Gold macht?« Mutter Hilde war entgeistert.
»Gewissermaßen, liebes Herz. Das ist immer ein vielschichtiges Problem.«
»Aber – als wir Geld für die Ausbesserung des Daches gebraucht haben, und als –«
»Hilde, mein Schatz. Die Suche nach dem Grünen Löwen ist nicht zum schlichten Dachausbessern gedacht. Es ist eine höhere, geistige Kraft.«
»Eine höhere Kraft?« stotterte Hilde.
»Oh, mein Herzblatt, ich erkläre es dir später. Es ist ein großes Geheimnis, das ich jahrelang gehütet habe, und gewißlich verdienst du es zu wissen. Doch wenn ich versage – nun ja, mir ist es lieber, du behältst den Glauben an meine Kunst.«
»Malachi, du hast doch etwas vor.«
»Natürlich. Habe ich etwa das Gegenteil behauptet? Bereite dich auf eine Flucht bei Vollmond vor, mein Schatz, selbst wenn wir die Mauer mit einem Enterhaken erklimmen müssen.«
»Bei Vollmond, sagt Ihr? Aber das ist ja noch eine Woche hin. Messer Guglielmo, wißt Ihr etwas über dieses Vollmondmärchen? Ich könnte schwören, er hält mich hin.« Die tiefe Stimme des Grafen klang mißtrauisch. Messer Guglielmo jedoch hatte den Stummen den Alembik anvertraut und überließ es ihnen, die Kalzination eines Schwungs Enteneier zu überwachen, derweil er es mit seinem Herrn aufnahm. Das schwindende, winterliche Licht in dem langen, gefliesten Laboratorium war bereits durch rauchende Fackeln ergänzt worden, die in Haltern längs der kahlen Steinwände brannten. Bruder Malachi sah mitgenommen aus, wie er da auf dem kalten Fußboden zu Füßen des Grafen kniete. Er hatte in der Geheimwerkstatt des Sieur d'Aigremont an Gewicht verloren, und das nicht nur wegen des Gestanks. Messer Guglielmos Blick flackerte von seinem Gönner zu seinem Rivalen, er kämmte sich mit den Fingern den wirren, grau und schwarzmelierten Bart und überlegte dabei, was er sagen sollte.
»Nun ja, ich kann nicht leugnen, daß er Ergebnisse vorzuweisen hat. Vorläufige Ergebnisse selbstverständlich. Aber seine Methode ist aus Leyden und auf mancherlei Weise äußerst primitiv. Er bedient sich nicht der klassischen Methode, um die Schwester des Drachen mit Silber zu koagulieren. Das dünkt mich unbedacht – ja, recht unbedacht.«
»Unbedacht?«
»Ja. Eindeutig. Er will nicht das richtige Fixativ verwenden, und so bleibt das Quecksilber flüssig. Und er verläßt sich – hmm – auf Methoden, die keinen höheren Beistand erfordern.«
»Keinen Beistand? Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr diesen Narren ohne Beistand herumtrödeln laßt! Und Ihr«, wandte er sich an den Alchimisten zu seinen Füßen, »wie wollt Ihr, mit Verlaub, das Geheimnis der Geheimnisse ohne die Hilfe übernatürlicher Kräfte ergründen? Nur mit der schwächlichen Kraft des menschlichen Geistes?«
»Mon Seigneur, wer die Kräfte der Beobachtung und Rationalität auf das Studium der Natur anwendet, kann gewaltige Umwandlungen erreichen«, antwortete Bruder Malachi schlicht.
»Ha! Das ist ein Geständnis! Ihr habt keine Opfer gebracht! Keine mächtigen Fixative verwendet! Theophilus von Rotterdam, Ihr habt Euer Spiel mit mir getrieben. Ich will, daß Ihr Euer Verfahren heute abend abschließt, Vollmond hin, Vollmond her, und das mit dem richtigen Fixativ.« Die Wut in der Stimme des Grafen grollte bedrohlich.
Bruder Malachis Augen blickten wie die eines gefangenen Hasen.
»Höchst wohlgeborener Herr, es ist ein armseliger Stoff.«
»Armseliger Stoff? Armselig? Frischeren bekommt Ihr nie wieder, Ihr zartbesaiteter, kleiner Mistkerl. Dafür lasse ich Euch die Zunge herausschneiden.«
Bruder Malachi zitterte, doch seine Stimme blieb fest.
»Ich habe das richtige Fixativ bei mir, doch dazu brauche ich Vollmond –«
»Wo? Zeigt her.« Das Gesicht des Grafen dräute über Malachi wie eine Fratze aus einem Alptraum. Irgendwo, ganz nahe spürte er Messer Guglielmos Bart ängstlich zittern, denn dieser hatte ihm sein spitzes Gesicht genähert, um auch ja alles mitzubekommen. Seine Knie waren kalt und taten weh. Man sollte meinen, daß sie mich für diesen großen Augenblick wenigstens aufstehen lassen, dachte er, öffnete seine Pilgertasche und zog ein winziges Lederbeutelchen hervor.
»Nicht darauf atmen. Es darf kein Gran verlorengehen. Zudem könnte es die Hitze Eures Atems verderben.« Tief unten in dem kleinen Säckchen glänzte ein opalisierendes, rosafarbenes Pulver.
»Mein Gott, er hat es. Das Rote Pulver!« Selbst der giftige Messer Guglielmo wirkte einen kurzen Augenblick ergriffen.
»Ihr habt es also die ganze Zeit gehabt. Verwendet es heute abend, sonst wünscht Ihr noch, Ihr wärt tot.«
»Aber mein Anteil in dem Handel? Woher soll ich wissen, ob Ihr ihn noch immer habt?«
»Zweifelt Ihr an meinem Wort?«
»O nein, niemals. Ich? Ich armer, bescheidener Sucher der Wahrheit, ich sollte das Wort eines Edelmanns anzweifeln? Oh, ausgeschlossen.«
»Fordert mich nicht heraus«, knurrte der Graf. »Humor ist mir zuwider. Und Satire noch mehr. Die Zuflucht von Possenreißern und dem Abschaum der Menschheit. Wollt Ihr sehen, was Euch geschieht, wenn Ihr mir mit Humor kommt?«
»– ehem, jetzt nicht. Später vielleicht.«
»Jetzt ist genau der richtige Moment. Schließlich habe auch ich Sinn für Humor. Von der richtigen Art. Es wird mir, glaube ich, ein Vergnügen sein, Eure Miene zu studieren.« Und mit einem Fingerschnalzen rief er zwei der riesigen, stummen Helfer herbei, die Bruder Malachi an beiden Ellenbogen packten und ihn praktisch hochhoben.
»Messer Guglielmo, ich möchte, daß Ihr auch mitkommt. Ich will Euch zeigen, was mit Leuten geschieht, die mich zum Narren halten. Das wird Euer Hirn beflügeln.« Eine Handbewegung, und schon wurde Bruder Malachi die dämmrige, steinerne Stiege ins Reich der ewigen Finsternis hinuntergeschleppt. Zwei Fackelträger leuchteten ihnen, zwei weitere folgten dem Trupp. So war Bruder Malachi gezwungen, sich die rauchverrußte Decke des engen Ganges anzuschauen und zu überlegen, wieviele solcher Spaziergänge der tropfende Ruß bedeuten mochte.
Schon bald mündete der Gang in einen niedrigen, gewölbten Raum, der sein Licht hauptsächlich von den glühenden Kohlen bezog, die ständig unter einem Kessel mit ranzigem Fett brannten. Neben dem Feuer stand ein Ständer mit Eisenwerkzeugen, wie man sie zum Heizen brauchte: Zangen, Schürhaken und Brandeisen. Bruder Malachi fiel ein kleines Kohlebecken ins Auge, das wie ein niedriger Kasten auf Beinen gebaut war und ungefähr die Höhe eines Schemels hatte. Das, o ja, das hatte er schon einmal gesehen. Ein Lieblingswerkzeug der Inquisition. Er zuckte fast unmerklich zusammen.
»Warum seid Ihr mit Frauen angereist, Theophilus? Wo Ihr so zartbesaitet seid.« Die Stimme des Grafen klang ölig und drohend. Malachi blickte sich unter den scheußlichen Werkzeugen im Raum um: Flaschenzüge an der Decke, eine Streckbank, der spanische Stiefel und eine Reihe anderer Instrumente, deren Zweck nur allzu klar war. Nie im Leben war ihm mulmiger zumute gewesen.
»Ja, zartbesaitet. Seht Euch das hier an. Hübsch und scharf, nicht wahr?« Der Graf blieb vor einer eisernen Jungfrau stehen, an der dunkles Blut klebte. »Drückt seine Hand in die Stacheln – aufpassen, nicht zu fest. Er braucht sie heute abend noch zum Goldmachen.« Man schleifte Bruder Malachi zu dem Apparat und drückte seine rechte Hand auf die Stacheln. »Was haltet Ihr davon, Ihr verweichlichter, feiger, kleiner Wurm?«
»Sie – sie würde meiner zarten Haut nicht gut tun.«
»Oh, ja – Eure zarte Haut, die Ihr Euch auf Euren Wanderungen quer durch Europa zu erhalten gewußt habt. Immer noch humorvoll, wie? Mein Meister kann Humor nicht leiden. Und heute abend bringt Ihr ein Opfer und beschwört ihn, damit er Euch hilft, nicht wahr?« Bruder Malachi wurde aschfahl und sackte zwischen seinen Häschern zusammen.
»Frische Augen und ein frisches Herz, richtig, Messer Guglielmo? Ich habe von der letzten Jagd noch einen Kleinen übrig. Den habe ich fast zu Tode gespielt – er langweilt mich bereits. Was murmelt Ihr da, Theophilus? Gebete? Die helfen hier nicht. Oh, ja – Euer Handel. Das Beste hebe ich mir bis zum Schluß auf.«
Die Stummen holten sich Fackeln aus den Haltern, und dann schlängelte sich die kleine Gruppe in die Tiefe auf einer Treppe, die anscheinend direkt aus dem Felsen herausgeschlagen war. Bruder Malachi spürte, daß von der Decke eiskalte Tropfen auf sein Gesicht fielen und hörte sie aufzischen, wenn sie mit den Fackeln in Berührung kamen. Dann verbreiterte sich der Gang. Hier blieben sie vor ein paar in den Boden eingelassenen Gittern stehen. Verwesungsgestank drang aus ihnen hoch. Der Graf ergriff eine Fackel, ging zum entferntesten Gitter und hielt sie nach unten an die Stäbe. Mit der freien Hand zog er eine Ambrakugel aus dem Beutel an seinem Gürtel und hielt sie sich vor die Nase. Unter dem Gitter war eine heisere Stimme zu hören.
»Da seid Ihr ja wieder, Ihr übler Verseschmied. Was habt Ihr dieses Mal verbrochen?«
»Ich werde Euch meine ›Ode an den Sommer‹ rezitieren.«
»Das Thema ist verbraucht. Stellt Euch der Wahrheit – Ihr habt einfach keine Phantasie.«
»Ihr müßt nur sagen, daß sie gut ist, und schon seid Ihr so frei wie ein Vogel.«
»Ausgeschlossen. Ihr habt noch keine Zeile zuwege gebracht, die nicht abgedroschen ist.«
»Abgedroschen? Ich und abgedroschen? Wißt Ihr nicht, wo Ihr seid, Ihr verwanzter Bänkelsänger?«
»Wie könnte ich das vergessen? In Eurem Verlies – wohin Ihr kommt, um mir den Inhalt Eures Nachtgeschirrs oder die Ergebnisse Eurer dichterischen Darmkrämpfe über den Kopf zu schütten. Kaum ein Unterschied zwischen beiden – stammt offenbar aus der gleichen Öffnung. Holt mich heraus und tretet mir wie ein Mann gegenüber, Ihr Feigling.«
»Ich hole Euch nicht heraus, ehe Ihr nicht wie ein Wurm vor mir auf dem Bauch kriecht, mir die Füße küßt und weint und sagt, daß Ihr nie bessere Verse als meine vernommen habt.«
»So zieht mich denn hoch. Ihr habt genügend Werkzeuge dort oben, daß sich sogar ein Priester dem Teufel verschreibt. Einen Dichter zum Weinen zu bringen dürfte nicht halb so schwer sein.«
»Es soll von Herzen kommen.«
»Ausgeschlossen.«
»Ausgeschlossen? Das glaube ich nicht.« Und der Graf stieß zu wie eine Schlange und gab Bruder Malachi eine gewaltige Ohrfeige. Als dieser aufschrie, ließ er ihn auf das Gitter werfen.
»Wer ist da oben?«
»Gilbert, ich bin's.«
»Theophilus? Du? Was zum Teufel treibst du da oben? Du tropfst ja – hmm, Blut.«
»Ist nur Nasenbluten, Gilbert. Mach dir keine Sorgen.«
»Er ist gekommen, um Euch freizukaufen. Ist das nicht aufmerksam? Doch das Beste kommt noch, Gilbert l'Escolier –«
»De Vilers, Strohkopf.«
»Ihr beharrt also auf der Maskerade, Ihr Schurke? Das ist das allerschlimmste Verbrechen überhaupt – sich für einen Edelmann auszugeben.«
»Ihr müßt es ja wissen.« Die Stimme klang noch rauher, schwächer, doch immer noch trotzig. In der Grube wurde gehustet. Bruder Malachi konnte im Halbdunkel spüren, wie der Graf noch wütender wurde und sein riesiger Leib die Wut wie eine Hitzewelle ausstrahlte.
Verzweifelt flüsterte er in die Grube hinunter: »Gilbert, um Gottes Willen, sag ihm, daß dir seine verfluchten Verse gefallen und komm heraus.«
»Et tu, Theophilus? Aber es stimmt nicht, und darum sage ich es nicht.«
»Du Idiot – und ich gebe im Austausch für einen solchen Dickkopf wie dich auch noch das Geheimnis der Transmutation preis.«
»Den Stein der Weisen? Guter Gott, Theophilus, willst du, daß ihm halb Europa in die Hände fällt? Ich hätte dich für vernünftiger gehalten.«
»Ist er aber nicht«, fuhr die Stimme des Grafen dazwischen, eine vor unterdrückter Wut ganz ölige Stimme. »Doch wie üblich habe ich mir die beste Überraschung bis zum Schluß aufgehoben. Ich bin sicher, Margaret wird Euch von meinem Standpunkt zu überzeugen wissen – Stück für Stück, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Malachi erstarrte vor Entsetzen.
»Ihr habt sie nicht«, kam die Stimme aus der Grube. »Und Ihr bekommt sie auch nicht. Sie ist daheim und in Sicherheit. Zwischen ihr und diesem Ort liegt ein Ozean.«
»Doch nicht mehr lange, Ihr kreischende Dohle. Ich habe sie herbeizaubern lassen. Noch vor dem nächsten Neumond ist sie hier.«
»Unfug.«
»Unfug? Wir werden ja sehen.« Der Graf wandte sich an die Stummen. »Schnappt Euch den schlotternden kleinen Alchimisten da und bringt ihn nach oben. Ich will, daß er heute abend mit seinem Verfahren beginnt. Und schließt ihn ein. Er darf keinen Fuß mehr aus den Geheimkammern setzen, bis er nicht Gold gemacht hat. Wenn er Erfolg hat, so fesselt ihn und bringt ihn zu mir, gleichgültig zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Und – o ja. Verbindet ihm die Augen. Ich möchte kein Risiko eingehen, daß jemandem von außerhalb das Geheimnis dieser Kammern übermittelt wird.« Bruder Malachi gefror bei diesen Worten das Blut in den Adern. Jählings ging ihm auf, daß kein Lebewesen in dem Laboratorium die Vollendung des Großen Werkes überleben sollte.
Als das Pförtnerhorn im steinernen Innenhof widerhallte, rannten die pucelles aus dem Vorzimmer der Gräfin zu den Fenstern und hingen sich hinaus. »Besucher, Besucher!« riefen sie. »Oh, laßt mich sehen!« Schließlich sind Besucher immer ein Hoffnungsstrahl – es könnte sich darunter ein künftiger Ehemann befinden. Mutter Hilde unterdrückte ein Lächeln und zerstieß im Mörser ungerührt Kräuter für einen Umschlag. »Was ist ihr Rang? Könnt ihr das Wappen erkennen?« kamen die aufgeregten Stimmen der Gesellschafterinnen. »Noch nie gesehen«, kam es enttäuscht vom Fenster. »Ein Ausländer – drei Herzmuscheln und ein Drache – nein, ein Löwe.«
Drei Herzmuscheln? Mein Gott! Ich sprang auf, verließ die Feuerstelle und drängte mich zum Fenster durch. Bei dem Anblick unten wollte mir das Herz stehenbleiben. Ein Ritter in voller Rüstung mit hochgeschlagenem Visier, den Pilgermantel hinter den Sattel geschnallt, führte den Zug an, der vom Burgtor in den Innenhof kam. Neben ihm ritt sein Knappe und hinter ihnen sechs Reisige, die eine verhüllte Frau auf einem weißen Zelter begleiteten. Unter ihrem schweren, dunklen Umhang lugte ein leuchtend rotes Kleid hervor. Das Wappen – es gab nicht den geringsten Zweifel. Sir Hugo de Vilers hatte mich am Ende doch noch gefunden! Und als ob das nicht genug wäre, er hatte auch noch meine hochfahrende und nachtragende Schwägerin mitgebracht, damit sie Zeugin meiner Niederlage wurde. Oh, ich täuschte mich nicht – das Kleid hätte ich überall herausgekannt. So nahe am Ziel – und nun war Gregory für immer verloren! Ich konnte mein Zittern nicht verbergen, als ich wieder zu Mutter Hilde zurückkehrte.
Doch jetzt waren die Kemenaten in hellem Aufruhr, denn bei dem Gedanken, daß eine Edelfrau zu Besuch kam, war die Gräfin aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwacht und stöberte fieberhaft in ihren Truhen.
»Endlich einmal eine Dame zur Unterhaltung – Sagt mir, was bedeutet das Wappen? Ich habe es nicht erkannt.« Die Gräfin befragte eine Dienerin, die beim Empfang im Palas etwas mehr gesehen hatte.
»Ein englisches Wappen, Madame.«
»Oh, vielleicht noch ein Gesandter. Vom Heer des englischen Prinzen in Bordeaux?«
»So hat er gesagt, Madame.«
»War die Dame gut gekleidet? Vielleicht kann sie mir über die neueste Mode berichten. Ach, es ist so schwer, mit dem neuesten Stil aufzuwarten, wenn man wie ich auf dem Lande begraben ist.«
»Sie war in Hellrot mit Goldstickereien, Madame.«
»Hellrot, sagst du? Dann tut es dieser alte, braune Samt wohl kaum. Schon ganz abgeschabt. Da sieh nur! Es ist eine Schande, daß der Graf mich nie mehr nach Orleans reisen läßt, damit ich mir Kleider machen lassen kann wie früher, als ich noch in seiner Gunst stand. Hellrot – oh, nicht das Blaue, nein –«
»O ja, die ist richtig. Viel hübscher als hellrot. Ja – die goldene Seide – sag, ist sie zerknittert?«
Und so ging es und ging es, derweil Mutter Hilde und ich am Feuer kauerten und flüsterten, was aber in dem Aufruhr unterging.
Beim Abendessen durfte die Gräfin endlich aus ihren Räumen und gleißte und funkelte, wie sie da unter ihren Damen saß, ihr zur Seite die schöne Besucherin. Sir Hugo war ein schlichter Ritter und nicht einmal Bannerherr, und so saß er viele Plätze tiefer als der edle Gesandte des Grafen von Foix. Man munkelte bereits, daß der Ritter vom englischen Heer in Bordeaux käme und daß die Edelfrau an seiner Seite seine Schwägerin sei, die er hierher begleitet hatte, damit sie eine merkwürdige Bitte des Comte de St. Médard erfülle: Er wollte Lösegeld für ihren Mann nur aus ihrer Hand entgegennehmen.
»Und denkt nur«, sagte der geschwätzige Bruder Anselm, der sowohl in der langue d'oc wie in der langue d'oil zu Hause war, »hier gibt es gar keinen adligen Gefangenen, es sei denn, er ist unten eingesperrt, was ein schrecklicher Bruch ritterlicher Regeln wäre. ›Oh, ausnehmend unritterlich vom Grafen – die Verachtung der ganzen Christenheit würde ihn treffen‹, so sagte ich zum Knecht des Gesandten, und der erwiderte: ›Das meint auch mein Herr, und er hat den Grafen gewarnt, sich die Engländer nicht zu Feinden zu machen, solange sie vor der Haustür stehen, insbesondere da er nicht weiß, mit wem sich sein eigener König verbünden wird. Doch der Graf hat lediglich geknurrt, daß der König von Navarra durch List an der Tafel des französischen Königs gefangen wurde und daß niemand behauptet, der französische König hätte sich unritterlich verhalten. Doch mein Herr hat gesagt, daß der Graf von Foix nicht mit jemandem Frieden schließen kann, der sich den englischen Prinzen zum Feind macht.‹ Ihr merkt, es ist durch und durch merkwürdig. Ei, seht einmal zur Empore hin. Das ist mir eine schöne Ehefrau. Die macht ja dem Gesandten schöne Augen.«
Selbst von meinem Sitzplatz aus, wo ich mich hinter dem dicksten Pilger versteckte, damit man mich nicht entdeckte, konnte ich sehen, wie der Gesandte, dessen Gesicht rot von Trunk und Begierde war, sich unter seinem grauen Schnurrbart lüstern die Lippen nach ihr leckte. Und obwohl sie zum Reden zu weit von ihm entfernt saß, übermittelten ihre Augen ihm Botschaften, die nicht zu übersehen waren. Und wer hätte sie schon übersehen können? Die Blicke aller Männer hingen an dieser strahlenden Schönheit. Unter ihrer perlenbesetzten Haube lugten zarte, goldene Ringellöckchen hervor, und sie errötete niedlich und blickte sittsam auf den Tisch. Unter diesen fahlen, südlichen Gesichtern strahlte sie mit ihrem englischen Weiß und Rosa wie ein Edelstein. Und wann hätte je ein Kruzifix so aufreizend auf einem sich hebenden, schwellenden Busen gelegen, wie ihn ihr eng geschnürtes, tief ausgeschnittenes, hellrotes Mieder offenbarte. Mit dem Kleid hatte ich mich nicht getäuscht. Ich kannte es nur zu gut. Doch so hatte es an Lady Petronilla gewißlich nicht gewirkt. Wer war die Frau, die es trug? Sie schlug die Augen nieder – ich mußte warten, bis sie aufblickte. Und dann starrte ich sie an, daß ich mich fast an meinem Wein verschluckte. War es die Möglichkeit? Aber wer sonst konnte es sein. Es war Cis, die Wäscherin! Was um alles auf der Welt führte sie in diesem Aufzug hierher?
Cis saß auf der Empore wie ein leuchtend farbiger Schmetterling genau mitten im Netz des Grafen. Sie flatterte und warf unter den Wimpern Blicke, so als ob sie nicht wüßte, daß ihre Füße im tödlichen Netz festklebten. Dann sahen wir, wie die Gräfin das Wort an sie richtete, doch sie starrte auf ihren Teller und errötete schon wieder, was die Herren in Begeisterung versetzte. Die Gräfin wirkte entmutigt. Sie winkte einer anderen Dame und ließ sie mit der schönen Fremden reden. Erneut dieses niedliche Erröten. Der Gesandte schickte ihr als Gunstbeweis seinen Becher mit Wein, und sie warf ihm unter ihren Wimpern einen dankbar bewundernden Blick zu. Der Graf wölbte bei dem Austausch eine Braue, und seine roten Lippen zuckten, als ob er irgend etwas Ekelhaftes schmeckte. Ich fand, sein Blick verhieß nichts Gutes. Dann richtete er eine Bemerkung an den Mann zu seiner Linken. Ach, wie gern hätte ich gehört, was dort vor sich ging.
Endlich war das Abendessen zu Ende, und dabei hatten Mutter Hilde und ich kaum einen Bissen angerührt. Man räumte die Tische für die abendliche Kurzweil beiseite. Ich mischte mich so unsichtbar wie möglich unter die Schar der Pilger, welche die Lustbarkeiten gern aus der Nähe sehen wollte und schob mich vorsichtig dichter heran, denn ich wollte alles hören, was dort vor sich ging. Es war so ziemlich das Übliche im Stil des Grafen, eine Art prächtiges, kleines Historienspiel, das der Herr von St. Médard selbst eingerichtet hatte und das seinen Kunstsinn und Geschmack vorführen sollte. Zunächst spielten und sangen die Spielleute. Dann kamen Tänzer, dieses Mal als ›Wilde‹ verkleidet und in haarigen Fellen und mit Wolfsmasken, die beim Herumtollen spöttische, unzüchtige Gebärden machten. Ihnen folgten ganz in Seide gekleidete Jünglinge, die etwas sehr Symbolisches darstellten, und verfolgten die Wilden mit Stäben, um die sie Seidenbänder gewunden hatten. Dem Gesandten war es gelungen, einen Platz neben Cis zu ergattern. Sie machte sich das zunutze, und ihre Hand stahl sich zu seinem Schoß. Seine Hand wiederum schien irgendwo hinter ihr zu verschwinden, wo man sie nicht mehr sehen konnte. Als Pagen die Trompete bliesen und damit etwas ganz Besonderes ankündigten, beugte sich der Graf zu Hugo auf Cis' anderer Seite und sagte laut und vernehmlich:
»Die nächste Schöpfung ist von mir; sagt mir, was Ihr davon haltet.«
Nun folgte ein albernes Liedchen über den Sommer. Die Worte reimten sich irgendwie, aber wenn ich auch wenig von Dichtkunst verstehe, so weiß ich doch, daß etwas Gesungenes klapper-di-klapp wie Pferdegetrampel gehen muß und nicht von Trab zu Galopp wechseln darf oder als ob das Pferd jählings lahmt. Und, o du liebe Zeit, da flöteten doch wahrhaftig Hirten, und Maiden tanzten und Vögel zwitscherten, doch alles irgendwie falsch, wobei ich jedoch nicht zu sagen gewußt hätte, wieso. Nach dem Lied gab es ein höfliches Gemurmel, denn schließlich hatte jedermann die Worte des Grafen mitbekommen.
»Nun?« fragte der Graf. Sir Hugo rutschte unbehaglich hin und her.
»Also, ich kann mit Poesie nicht viel anfangen. Ich bin eben Soldat. Ich mag Jagdhörner – ha! Das ist Musik für mich! Aber ich fand es sehr schön. Ja, vor allem die Stelle mit den Vögeln, wo sie ›tirili,tirila‹ singen. Da bin ich mir wie auf der Schneehundjagd vorgekommen.«
Die Züge des Grafen entspannten sich. Er wußte, wann ein Kompliment von Herzen kam.
»Und Ihr würdet das Thema nicht etwas – abgedroschen finden?« fragte er in bedeutsamem Ton. Wieso, das ahnte ich nicht.
»Abgedroschen? Wieso denn? Kommt der Sommer nicht jedes Jahr? Derlei nutzt sich doch nicht ab! Ich selber kann vom Sommer gar nicht genug bekommen. Meine liebste Jahreszeit!«
»Gesprochen wie ein Edelmann!« rief der Graf, und dann beugte er sich vor und seine Augen glühten. »Doch nicht wie ein Bruder des übel beleumdeten, schurkischen Kerls, der in meinem Verlies sitzt. Entweder Ihr seid ein Hochstapler, Sir Hugo, oder aber jener Mann, den Ihr freikaufen wollt, ist einer. Ich ziehe Letzteres vor.«
»Ein Hochstapler! Ich soll den weiten Weg gemacht haben, um einen Hochstapler auszulösen?«
»Denkt Ihr etwa, ich sperre einen Edelmann ins Verlies? Welches Spiel treibt Ihr, Sir Hugo – oder besser, welches treibt Euer Herr in Bordeaux? Und wer ist der jämmerliche Verseschmied, den ich in meinem Verlies habe?«
»Wie könnt Ihr es wagen, mich zu beleidigen? Mein Auftrag ist ein Ehrendienst, und ich will meinen lang vermißten Bruder Sir Gilbert de Vilers auslösen, dessen Lösegeld Ihr nach der Belagerung von Verneuil aufgekauft habt und den Ihr bei Eurer Ehre freilassen müßt.«
»Wollt Ihr mich etwa herausfordern, Ihr englischer Piepmatz? In der Schlacht und im Turnier hat mich noch niemand geschlagen. Seht mich an, ich bin der Comte de St. Médard!« Und damit entfaltete der Graf die mächtigen Gliedmaßen und stand dräuend über Hugo: um eineinhalb Haupteslänge größer als alles im Raum und doppelt so schwer, lauter feste Muskeln unter den Speckwülsten.
»Ich beleidige Euch keineswegs, Ihr beleidigt das Ritterideal«, erwiderte Hugo, und die Röte stieg ihm den Hals hoch. »Ich sage hier, vor diesen edlen Gästen und Zeugen, daß ich ein Mann von Ehre und in friedlicher Absicht gekommen bin.« Der Gesandte des Grafen von Foix neben ihm wirkte jetzt auf höchst interessante Weise mit Cis verflochten. Vielleicht kam es daher, daß sich sein Bart versehentlich im kunstvollen Filigran ihres Kreuzes verfangen hatte, doch wer weiß.
»Friedlich? Wieso friedlich? Offenbart Euch jetzt, oder stellt Euch mir morgen auf dem Turnierplatz.« Alles starrte sie jetzt an. Selbst der Gesandte hatte seine verlorengegangene Hand wiedergefunden und merkte auf.
»Ihr habt einen Boten nach England geschickt und gefordert, daß das Lösegeld für meinen Bruder von der weißen Hand Margarets, seiner Frau, bezahlt werden müsse. Und ich habe dem Kerl da – dem Dominikaner mit dem grauen Gesicht – eine Antwort mitgegeben des Inhalts, daß wir in Eure Bedingungen einwilligen – und da sind wir. Und wo bleibt unser Willkomm? Warum habt Ihr uns nicht ehrenvoll aufgenommen? Nichts als Beleidigungen, die eines christlichen Ritters nicht würdig sind.«
»Das soll ich gesagt haben?« Der Graf drehte sich um und warf der finsteren Kreatur, die neben ihm stand, einen argwöhnischen Blick zu.«
»Eine Vision, Herr. Eine Halluzination. Teil des Beschwörungszaubers«, murmelte der Mönch eiligst.
»Oh. Aha. So ist das. Nun, Sir Hugo, das also ist die schöne Margaret, die Inspiration des Dichters?« Er betrachtete Cis mit neu erwachtem Interesse, dann warf er einen schiefen Blick in die Runde, so als bedauerte er das Beisein so vieler Zeugen.
»So ist es. Und gekommen, sein Lösegeld persönlich zu zahlen. Und da wir Eure Bedingungen erfüllt haben, seid Ihr als Edelmann verpflichtet, es anzunehmen.«
»Kommt her«, bedeutete der Graf Cis. Sie blickte sittsam zu Boden. »Spricht sie etwa kein Französisch?« fragte der Graf neugierig.
»Darauf verstehen sich nur wenige Frauen in England«, sagte Sir Hugo unerschrocken.
»Die noblesse sehr wohl. Das ist eigenartig«, sagte der Graf.
»Sie hat das Geld in die Familie gebracht.«
»Doch so fromm und schüchtern. Ideal für meine Zwecke.«
»Was immer Ihr im Sinn habt, Ihr müßt meinen Bruder freigeben.«
»Euren Bruder? Da habe ich so meine Zweifel. Ein großer, dunkelhaariger, knochiger Bursche, der schlechte Gedichte schreibt?«
»Gedichte? Ich wußte gar nicht, daß er Gedichte macht. Hört sich ganz nach ihm an, nur die Gedichte nicht. Denkt über Gott und derlei Zeugs nach – aber Gedichte? Nun gut, möglich ist es. Er trug den gleichen Siegelring –« Und Sir Hugo streckte ihm die Hand hin.
»Den gleichen? Nein. Er hatte überhaupt keinen Ring. Wahrscheinlich gestohlen. Aber würdet Ihr sagen, daß er störrisch ist?«
»Störrisch wie Satanas.«
»Und hat er die Angewohnheit, seine Beleidigungen als Wahrheit auszugeben?«
»Das ist er, wie er leibt und lebt.«
»Dann ist er es, den ich gefangen halte. Doch Ihr könnt keine Brüder sein. Es sei denn, Eure Mutter hätte mit einem Stallknecht geschlafen.«
»Ihr beleidigt die Herrin, meine Mutter! Bei Gott, habt Ihr das gehört, Ihr Herren? Die Herrin, meine Mutter, war so rein wie Schnee!«
»Zügelt Eure Hand, englischer Laffe, es sei denn, Ihr wollt morgen sterben. Der Sieur d'Aigremont erschlägt Euch nämlich mit einem Hieb.« Der Gesandte beugte sich vor, um ein eventuell drohendes Blutvergießen zu verhindern. Der Graf lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte Sir Hugo mit dem Anflug eines Lächelns, als wäre dieser ein törichtes Tier, das am Köder einer aufgestellten Falle schnuppert.
»Sagt der lieblichen Margaret, daß ich Euch noch nicht töte. Zuerst soll sie etwas zu sehen bekommen. Fray Joaquin, den Brief, bitte.« Fray Joaquin zog ein gefaltetes Papier mit gebrochenem Siegel aus seinem Habit und reichte es seinem Herrn, der es entfaltete und Sir Hugo damit vor der Nase herumwedelte.
»Nun, was bedeutet das, Sir Hugo?«
»Mir? Ich kann nicht lesen. Bittet den Priester, daß er ihn entziffert.«
»Gebt ihn Lady Margaret.« Cis nahm ihn, hielt ihn verkehrt herum und starrte sittsam zu Boden.
»Bittet sie, ihn vorzulesen, Sir Hugo.«
»Vorlesen?« Sir Hugo erbleichte. »Was steht darin?«
»Das ist der Brief von der wahren Margaret, den Euer Möchtegern-Bruder bei sich trug. Mir scheint, daß die Margaret hier ihn nicht lesen kann. Ich glaube, Ihr wollt mich betrügen, Sir Hugo. Ich will die Margaret, die diesen Brief geschrieben hat, sonst habt Ihr die Bedingungen nicht erfüllt, oder?«
»Nun, ah – hmm – die Margaret – diese Margaret ist die Base jener Margaret. Und jene Margaret – die ist sehr krank. Gebrochenes Herz. Auf der Schwelle des Todes. Konnte nicht reisen. Also hat diese Margaret gesagt, sie geht mit. Sie sehen genau gleich aus, und ehem, Ihr habt doch gerade gesagt, Ihr wollt Margaret haben – da ist sie, und wir haben damit Eure Bedingungen erfüllt.«
»Dann ist die da also auch eine Margaret. Das erklärt alles. Der Narr hat sich bei der Beschwörung nicht genau genug ausgedrückt«, sagte der Graf bei sich und drehte sich zu dem Dominikaner um, der neben ihm immer noch katzbuckelte. »Fray Joaquin«, fauchte er, »Ihr verdammter Stümper, das sollt Ihr mir büßen.« Dann richtete er das Wort wieder an Sir Hugo. »Keine Margaret, kein Freikauf. Zieht heim und bringt mir die richtige Margaret, Engländer.«
»Das ist ganz und gar unfair. Ihr habt meine Mutter beleidigt, meine Margaret beleidigt, und nun wollt Ihr meinen Bruder nicht freigeben. Wir treffen uns morgen auf dem Turnierplatz.«
»Auf dem Turnierplatz? Gut. Mit Eurer gütigen Erlaubnis werde ich Euch auf eine Weise töten, die einem Ritter wohl ansteht. Doch ich gehe nur Eurer Mutter wegen in die Schranken. Für die Sache mit der untergeschobenen Margaret sollte ich Euch in meinem kleinen Zimmer unten in Einzelteile zerlegen. Was den Mann angeht, den Ihr Euren Bruder zu nennen beliebt, so schlage ich eine kleine Kurzweil vor. Ihr habt Euren Spaß gehabt, jetzt will ich meinen. Die Margaret hier – die Base oder was auch immer sie ist, soll, da die wahre Margaret nicht anwesend ist, mit mir um ihn spielen. Sie darf das Spiel wählen.« Er winkte in Richtung der Spiele, die auf dem roten Tuch des Kastentisches für die abendliche Kurzweil aufgebaut worden waren. »Wenn sie gewinnt, schwöre ich bei meiner Ehre als Edelmann vor allen Zeugen hier, daß er als freier Mann mit ihr ziehen darf. Wenn ich gewinne, behalte ich ihn und auch sie für meine Zwecke, wie auch immer die geartet sein mögen.« Ein unangenehmes Lächeln verzog die Mundwinkel des Grafen, und seine Augen funkelten im Fackelschein. Die Gesellschaft hatte Feuer gefangen und schob sich näher. Das hier war ein königlicher Spaß. Ein Leben für eine Frau: Stoff für ein chanson de geste. Die Schachfiguren standen auf dem Silber- und Ebenholzbrett bereit; dazu warteten Dame, Backgammon und andere Spiele. Hugo musterte den Tisch. Selbst ihm war klar, daß der Graf sein Spiel mit ihm trieb. Schach? Als ob Cis jemals Zeit gehabt hätte, die Spiele der Edelleute zu erlernen. Und welche Frau konnte schon einen Mann schlagen?
»Ganz und gar fair, wenn auch recht unüblich.« Der Gesandte betrachtete Cis' rosigen Busen erneut und lächelte etwas wehmütig, und in seiner Stimme schwang Bedauern mit. »Ihr habt keinen Beweis, daß der Mann hier sein Bruder und nicht ohnedies ein Betrüger ist. Einen Gemeinen braucht Ihr nicht freizugeben. Und die Frau – bezaubernd –«
»Schwört Ihr darauf?« fragte Sir Hugo sehr langsam, denn er brauchte Zeit zum Nachdenken.
»Ich schwöre«, sagte der Graf und legte die Hand aufs Herz. »Holt die Reliquien.« Hugo fing an zu schwitzen.
»Angenommen, ich stimme nicht zu.«
»Nicht zustimmen? Zu etwas, das ganz und gar fair ist, in meinem eigenen Haus? Damit beleidigt Ihr mich. Ich sehe es nicht gern, daß man mich beleidigt. Wer weiß, wozu ich fähig wäre?« Und dann legte er lässig die Hand auf die Reliquie und schwor. Er lächelte bei dem Anblick, wie Hugo der Schweiß am Hals hinunterrann.
»Möge die liebliche Margaret nun vortreten und ihr Spiel wählen.«
»Ja«, rief ich laut und löste mich aus der Gruppe der Pilger im Winkel des Palas. Die Angst beflügelte meinen Geist; ich hatte etwas auf dem Tisch gesehen, das mir Mut machte, Würfel nämlich: Mehrere Sätze aus Ebenholz und Elfenbein. Die aus Elfenbein sahen genau wie meine aus. Und so steckte ich mir die Würfel aus meiner Pilgertasche in den Ärmel und trat beherzt vor die großen Herrn. Sir Hugo fiel die Kinnlade herunter, und er starrte mich an, als hätte er einen Geist gesehen. »Margaret«, flüsterte er.
»Was ist das?« fragte der Graf und wölbte die Brauen. »Noch mehr Margarets? Welche seid Ihr?« Der Dominikaner neben ihm wirkte eigentümlich erleichtert, warum, das ahnte ich nicht.
»Ich bin Margaret de Vilers, Ehefrau von Gilbert de Vilers, und gekommen, Euch beim Wort zu nehmen.« Ein Murmeln ging durch die Gesellschaft im Rittersaal. »Entzückend. Was für ein Spaß. Ist das ein Spiel? Vielleicht hat er alles im voraus geplant. Wie originell.«
»Ach, wirklich? Er hat gesagt, Ihr würdet Euch sehr ähnlich sein. Wem soll ich nun glauben?« Vermutlich sah ich nicht so prächtig wie Cis aus, so ganz in Schwarz und mit meinem braunen Pilgermantel und meinem breiten Pilgerhut auf dem Rücken. »Angenommen, ich will die andere Margaret?« fuhr er mit seiner ausdruckslosen, drohenden Stimme fort. Ich konnte sehen, wie der Gesandte des Grafen von Foix verärgert die Lippen schürzte.
»Sie ist keinesfalls die wahre Margaret, und sie ist mit niemandem verheiratet, ganz zu schweigen mit Gilbert de Vilers. Wenn sie spielt, verstoßt Ihr gegen Euren Eid. So geht es nicht.« Der Gesandte war es wieder zufrieden.
»Falls Ihr wirklich die wahre Margaret seid.«
»Das bin ich, und ich kann es beweisen. Jener Brief. Wenn er ihm tatsächlich gehört hat, so kann ich Euch sagen, was darin steht. Und das Siegel. Es ist seines. Es stammt von diesem Ring, den er mir als Ehering gegeben hat.« Ich hielt die Hand hoch.
»Und wer, Sir Hugo, ist das nun?«
»Margaret de Vilers, die Frau meines Bruders«, sagte er matt.
»Die, welche zu krank zum Reisen war?«
»Ich bin genesen«, sagte ich, »und jetzt laßt mich das Spiel wählen.«
»Also Schach, kleine Margaret, die nicht richtig schreiben kann?« Noch nie hatte eine nette Bemerkung so drohend geklungen.
»Für Schach bin ich zu dumm. Ich will würfeln. Gott wird mir dabei die Hand führen.« Kaum zu glauben, daß ich früher nicht so hätte lügen können. Aber wenn Gott nicht wollte, daß ich gewann, er hätte mir wohl kaum die falschen Würfel zugespielt, oder?
Der Sieur d'Aigremont grinste eigenartig siegesgewiß. »Welche?« fragte er.
»Die da«, sagte ich und zeigte auf ein Trio, das meinem aufs Haar glich. Er schob die anderen beiseite, und man brachte einen Sitz an den Tisch, so daß ich ihm genau gegenüber sitzen konnte. Ich nahm Platz, und da hörte ich, wie das bedrohliche Summen des Brennenden Kreuzes immer lauter wurde und beinahe schon wie ein verzweifeltes Wimmern klang.
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte er.
»Wohl eine Fliege«, erwiderte ich. Ich spürte, wie Leiber sich näherschoben und sich alles bemühte, einen Blick auf das seltsame Spiel zu erhaschen.
»Welches Spiel wünscht Ihr? Hasard?«
»Ich – Hasard kann ich nicht. Ich habe noch nie gewürfelt.« Ein eigentümlicher Seufzer stieg aus der Menge auf. »Laßt uns einfach um die höchste Zahl spielen.«
»Aux plus points? Wie Ihr wünscht, Madame. Nur einen Wurf?«
»Einverstanden«, sagte ich. Bei mir dachte ich, es ist weniger gefährlich, wenn ich die Würfel nur einmal vertauschen muß.
»Und wir treffen vor diesen hohen Herrn die Vereinbarung, daß der höchste Wurf gewinnt?« Sein Lächeln war eindeutig höllisch.
»Ja.«
Er nahm die Würfel, spielte angelegentlich damit herum, dann schüttelte er sie in der hohlen Hand und ließ sie auf das Würfelbrett rollen, das zwischen uns auf dem Tisch lag.
»Achtzehn«, sagte er, als sie ausgerollt waren. Ich spürte die Hitze, welche die Leiber rings um uns ausstrahlten. »Das könnt Ihr nicht übertreffen, Madame.«
»Wenn es Gott gefällt, so kann ich gleichziehen.« Er griff mit einer schwungvollen Geste nach den Würfeln und reichte sie mir. Mein Herz hämmerte, wollte mir schier aus dem sterblichen Leib springen. Ruhig Blut, Margaret, ruhig, dachte ich bei mir. Ich beugte den Kopf über die Würfel, als wollte ich beten, und vertauschte sie mit meinen eigenen, so wie Master Kendalls Schatten es mich gelehrt hatte und wie es die Geldwechsler tun. Ich warf die Würfel und sah zu, wie sie über das Brett kollerten. Die eng gedrängten Zuschauer atmeten einhellig auf.
»Gleichstand«, sagte ich. »Was jetzt, Monsieur?«
»Noch ein Spiel. Einverstanden?« fragte er die Gesellschaft.
»Ja, ja, weiter«, wurde rings um den Tisch gemurmelt. Ich merkte, wie Gesichter sich näherschoben und mir fremde Menschen in den Nacken atmeten. Dann streckte er die Hand aus und nahm mir meine Würfel weg. O Gott, was nun? Ich war wohl doch nicht zur Falschspielerin berufen. Vorher hatte alles so einfach ausgesehen – das war jähling anders geworden! Ich spürte, wie mir der Schweiß in Bächen den Hals und Rücken hinunterlief. Ich beobachtete seine Hände. Wieder fuchtelte er angelegentlich damit herum. Warte – war da nicht etwas? Das waren doch meine Würfel, die da in seinem Ärmel verschwanden. Das war am Winkel seines Armes zu erkennen. Er hatte sie gegen seine eigenen ausgetauscht! Wenn er wieder die gleiche Punktzahl wirft, dachte ich, dann weiß ich Bescheid. Sie klapperten beim Fallen: sechs und noch einmal sechs. Der dritte schien Kante zu sein, doch dann legte auch er sich richtig hin. Eine vier.
»Sechzehn«, sagte die Menge aufseufzend. Und ehe er sie nehmen und so tun konnte, als würde er sie mir reichen, während er sie gegen die seinen austauschte – besser gesagt, die meinen – legte ich die Hand darauf.
»Ich bin an der Reihe«, sagte ich, schnappte sie mir und warf rasch. Als sie rollten, schien sich das Tuch zu bewegen.
»Ebenfalls sechzehn«, sagte ich, derweil er im Gesicht rot anlief.
»Noch eine Runde, alles auf einen Wurf.« Sein Gesicht war vor Wut ganz aufgedunsen, doch als er nach Zustimmung heischend in die Runde blickte, nahm ich seine falschen Würfel und ließ statt dessen den ersten Satz aus meinem Ärmel gleiten.
»Eure Würfel, Monsieur.« Ich reichte sie ihm. Unterdes war ich so verängstigt, daß ich nicht mehr wußte, ob es nun ein guter Satz oder ein schlechter war. Aber eines wußte ich, der Satz, den ich ihm gerade abgenommen hatte, mußte falsch sein, die Punktzahl war einfach zu hoch.
»Rührt sie nicht an. Ich nehme sie mir selber«, fauchte er.
Argwöhnte er etwas? Ich riß die Augen weit auf und bemühte mich, wie das Abbild gekränkter Unschuld auszusehen. »Lehnt Euch nicht gegen den Tisch. Ihr ruckelt an dem Brett.« Er wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Dann blickte er mich mit schmal gewordenen Augen an und nahm die Würfel. Dieses Mal bekam ich nicht mit, ob er sie nun mit dem versteckten Satz vertauschte oder mit denen warf, die ich ihm gegeben hatte. Der Wurf machte einen Halbkreis, der erste Würfel lag still – eine Sechs. Einen Augenblick rollte der nächste dicht an der Kante aus, die Menge seufzte auf. Eine Zwei. Und dann eine Drei.
Ich holte mir die Würfel vom Brett. »Gott steh mir bei«, sagte ich und bekreuzigte mich. Dann wischte ich mir die schweißbedeckte Stirn mit dem Ärmel und vertauschte die Würfel erneut. Noch nie im Leben hatte ich solch eine Fingerfertigkeit entwickelt. Wer meine Stickereien kennt, würde sich wundern, wie ich das überhaupt fertigbrachte. Zuweilen scheint mir, daß wir nur in Todesangst zu Höchstform auflaufen. Dieser Satz muß ihm gehören, dachte ich, und wenn, dann spielt er falsch, dann gewinne ich, und wenn er ehrlich spielt, dann –
»Achtzehn!« schallte es laut durch den großen Saal. »Lady Margaret hat ihren Ehemann freigekauft!« – »Nein, was für eine Liebesgeschichte!« seufzte jemand – ich glaube, es war die Gräfin.
Selbst der unsägliche Hugo sprang über den Tisch und schlug mir auf den Rücken. »Gut gemacht, Margaret!« brüllte er. »Wacker gespielt!«
Doch der Graf war rot vor Zorn. Seine Hängebacken bebten, als kollerte ein Hahn, und er röhrte wie ein Bulle. »Ruhe, Ruhe, oder ich erschlage euch allesamt!« Seine Hand fuhr zum Dolch in seinem Gürtel.
»Wie ungehobelt. Ungemein ungehobelt«, murmelte der Gesandte. »Ganz und gar nicht wie mein edler Herr. Gaston Phoebus ist ein Mann von Ehre, vornehmlich am Spieltisch, so wie es sich für einen Edelmann geziemt.«
Das überhörte der Graf und rollte mit den Augen. Er drehte sich um und spuckte Hugo seine Wut ins Gesicht. »Ihr da, Engländer. Vergeßt nicht, daß ich morgen auf Euch treffe. Bis auf den Tod. Und Ihr – Ihr habt gewonnen, Madame de Vilers. Jedoch –«
»Ich will ihn auf der Stelle frei haben. Und zwei Pferde. Morgen früh brechen wir auf.«
Seine Stimme wurde bedrohlich sanft. »So sagt an, was ist seine Freiheit ohne einen Geleitbrief wert?«
Ich zuckte zusammen. Welches Spiel spielte er jetzt?
»Wie wollt Ihr wohl wieder nach Haus kommen? Nicht mit dem Schiff. Um diese Jahreszeit verläßt kein Schiff mit Ziel Norden mehr Bayonne. Oder wollt Ihr etwa Aquitanien durchqueren und nach Guyenne, ins Hauptquartier des englischen Prinzen, reisen? Der hat sich für den Winter zurückgezogen, und zwischen ihm und uns liegen nur noch Söldner, und seid versichert, die schneiden englischen Reisenden genauso rasch die Kehle durch wie allen anderen Nationen. Nein, meine Liebe. Es gibt kein Entkommen. Ihr müßt durch mein Gebiet und dann durch neutrale Länder nach Norden, durch Foix, Burgund und jene Länder, die der Krieg noch verschont hat. Ich bin ein mächtiger Mann: Mit meinem Brief und Siegel gelangt Ihr nach Norden und in Sicherheit. Ohne diese seid Ihr so gut wie tot.«
»Ich – darauf wäre ich nie gekommen.« Das war kein Angebot, das war eine Drohung. Nie würden wir lebend aus seinen Bergen herauskommen. Darauf hatte er nicht geschworen, also konnten ihm die Zeugen das auch nicht anlasten.
»Ihr müßt mich verstehen. Ich verspüre keine Zuneigung für Euren Mann. Ich zähle ihn zu meinen persönlichen Feinden. Laßt uns also die Bedingungen, zu denen Ihr meinen Geleitbrief bekommt, in meinen Gemächern aushandeln, heute um Mitternacht. Kommt allein.«
»Aber –«
»Ist Euch noch nicht aufgegangen, daß er mit Euch schlafen will? Wieso sonst wohl die Scharade mit den Würfeln? Los, holt Euch den Brief, dumme Gans, und sowie ich mich mit ihm auf dem Feld der Ehre geschlagen habe, sind wir alle frei«, zischte mir Hugo auf Englisch ins Ohr.
»Hugo, Eure schmutzige Phantasie geht mit Euch durch. Das gehört sich nicht. Und mehr noch, er hat ganz eindeutig vor, Euch zu töten. Keiner von uns soll hier lebend herauskommen – und wenn er nicht bei dem hohen Gesandten da Eindruck machen wollte, er wäre es um einiges direkter angegangen. Seht Ihr denn nicht, wie riesig er ist? Der macht Hackfleisch aus Euch.«
»Pa, das habt Ihr wieder einmal in die falsche Kehle gekriegt. Er ist ein Ritter und an ritterliche Regeln gebunden. Außerdem ist er älter als ich und völlig verfettet. Große Männer sind immer unbeholfen – der fällt um wie ein von Pionieren angegrabener Turm. Aber wie, glaubt Ihr, soll er den Geleitbrief noch unterzeichnen, wenn ich ihn besiegt habe? Was ist Euch lieber? Gilbert, der Hahnrei, oder Gilbert, der Leichnam? Außerdem wird es Euch gefallen. Tut es doch den meisten Frauen. Nun sagt schon ja, bigotte kleine Närrin.« Oh, was konnte mich dieser Hugo aufbringen. Dumm wie Bohnenstroh und hilfreich wie ein gesprungener Krug. Wer würde mir helfen? Ich muß ihn hinhalten. Mir wird schon etwas einfallen. Vielleicht kann ich ihn überlisten oder um Erbarmen flehen. Und so wandte ich mich an den Grafen.
»Als erstes möchte ich diesen Geleitbrief sehen. Erst dann stimme ich einer Unterredung zu. «Ich blickte ihm ins aufgedunsene Gesicht, doch hinter die Fassade des Wüstlings vermochte ich nicht zu schauen.
»Nicht übel, nicht übel. Schade, daß sie kein Mann ist. Sie würde einen guten Diplomaten abgeben«, hörte ich den Gesandten zu einem seiner Reisegefährten sagen.
»Aber natürlich doch. Ich lasse ihn hier schreiben. Und Ihr erhaltet ihn unterzeichnet und dazu noch diesen Ring von meinem Finger, nachdem Ihr mich in meinen Gemächern aufgesucht habt«, erwiderte der Graf. Sein ausdrucksloser, überheblicher Ton gefiel mir nicht.
»Und ich möchte ihn in anständigem Französisch haben – nicht in Latein oder irgend etwas, das ich nicht lesen kann.«
»Schlau, schlau, diese Frau«, hörte ich jemanden hinter mir. »So hat der König einst ein Todesurteil geschickt – Tod dem Überbringer, in Latein. Der arme Teufel ist nie dahintergekommen.«
»Abgemacht, abgemacht –« bedeutete er mir lässig. »Fray Joaquin, holt Feder und Papier.« Als sein schwarzer Schatten im Umhang davonwieselte, spürte ich den Blick des Grafen auf mir, als wollte er in mein Innerstes schauen. Ein gruseliges Gefühl, so als zöge er mich in Gedanken nackt aus. Kein Laut, außer den Atemzügen der Menschen, war im Raum zu hören. Und dann, in dieser gräßlichen Stille, spürte ich es. Tief in meinem Schoß rührte sich etwas zum ersten Mal. Nein, ich täuschte mich nicht. Das Kind bewegte sich. Genüßlich, wonnevoll, wie ein Schwimmer zur Sommerszeit.
Wie kannst du in diesem Augenblick nur so fröhlich sein? fragte ich es bei mir.
»Jauchz«, antwortete es und kugelte sich noch einmal. Jauchz, dachte ich und konnte das tanzende Licht vor meinem inneren Auge sehen.
»Jauchz«, wiederholte das Kleine und drehte sich erneut. Im Hintergrund monotones Gerede. Monotones Französisch und Schreibgeräusche.
Hast du keine Angst vor dem Tod? Womöglich sterben wir, sagte ich zu ihm.
»Jauchz, jauchz«, sagte das Kleine und kugelte sich.
Du dummes Ding, hast du denn keinen Funken Verstand? schimpfte ich.
Jemand rüttelte mich am Arm.
»Ihr Brief, Madame, da ist er«, sagte Fray Joaquin.
»Gebt her. Ich muß ihn lesen.«
»Da liegt er, Madame«, sagte der Graf und zeigte auf das Papier auf dem Spieltisch. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, daß sich sein Doppelkinn vorwölbte, und trug die fleischige, breite Nase hoch. In seinen Nasenlöchern wuchsen borstige, schwarze Haare. Oh, häßlich, dachte ich und erschauerte, denn es durchfuhr mich kalt.
»Ohne Siegel ist er wertlos, wie Ihr wißt«, setzte er hinzu. »Ich siegele ihn und gebe Euch diesen Ring nach – unserer privaten Abmachung heute nacht. Ihr versteht? Wenn ich mich zurückziehe, erwarte ich Euch dort –«
Ich hielt es nicht länger aus. Ich stopfte mir das Papier vorn ins Kleid und drängte mich weinend durch das Gewühl.
»Gut – der Anfang ist gemacht«, hörte ich ihn sagen, während ich entfloh. Auf dem Flur schallte rauhes Gelächter hinter mir her.