Sechzehn

Eine Abmachung ist am Telefon getroffen worden, er weiß nicht welche, doch es beunruhigt ihn. Ihm gefällt das selbstzufriedene, geheimnistuerische Lächeln nicht, das seine Mutter zeigt, das Lächeln, das besagt, daß sie sich in seine Angelegenheiten eingemischt hat.

  Es sind die letzten Tage vor ihrem Wegzug aus Worcester. Es sind auch die besten Tage des Schuljahres, wenn die Prüfungen vorüber sind und nichts zu tun bleibt, als dem Lehrer beim Ausfüllen des Zensurenhefts zu helfen.

  Mr. Gouws liest Listen mit Zensuren vor; die Jungen rechnen sie zusammen, Fach für Fach, dann rechnen sie die Prozentzahlen aus und wetteifern darum, als erster die Hand zu heben. Das Spiel ist, zu erraten, welche Zensuren zu wem gehören. Im allgemeinen kann er seine Zensuren als eine Zahlenreihe erkennen, die sich in Arithmetik zu neunzig und hundert Punkten aufschwingt und in Geschichte und Geographie bis auf siebzig Punkte absinkt.

  In Geschichte und Geographie ist er nicht so gut, weil er das Auswendiglernen haßt. Er haßt es so sehr, daß er das Lernen für Geschichts- und Geographieprüfungen bis zur letzten Minute aufschiebt, bis zur Nacht vor der Prüfung oder sogar zum Morgen der Prüfung. Er haßt sogar den Anblick des Geschichtslehrbuches mit seinem steifen schokoladenbraunen Einband und seiner langen Liste von Ursachen für etwas (die Ursachen für die Napoleonischen Kriege, die Ursachen für den Großen Treck). Seine Verfasser heißen Taljaard und Schoeman. Er stellt sich Taljaard als dünn und vertrocknet vor, Schoeman als beleibt, mit schütterem Haar und Brille; Taljaard und Schoeman sitzen sich an einem Tisch in einem Zimmer in Paarl gegenüber und schreiben übellaunige Seiten und schieben sie sich zu. Er kann sich keinen anderen Grund dafür vorstellen, daß sie ihr Buch in Englisch verfaßt haben, als daß sie den Engelse Kindern eine Lektion erteilen wollten.

  Geographie ist nicht besser – Listen von Städten, von Flüssen, von Produkten. Wenn er aufgefordert wird, die Produkte eines Landes zu nennen, beendet er seine Aufzählung immer mit Fellen und Häuten und hofft, daß er recht hat. Er kennt den Unterschied zwischen Fellen und Häuten nicht, den kennt auch sonst keiner.

  Und was die Prüfungen sonst angeht, so freut er sich nicht gerade auf sie, aber wenn die Zeit gekommen ist, stürzt er sich willig hinein. Er ist ein Prüfungsmensch; wenn es keine Prüfungen gäbe, bei denen er sich hervortun könnte, gäbe es kaum etwas Besonderes an ihm. Prüfungen versetzen ihn in einen Rauschzustand, in dem er vor Erregung zittert und in dem er schnell und selbstbewußt schreibt. Er liebt diesen Zustand nicht um seiner selbst willen, aber es ist beruhigend zu wissen, daß man ihn bei Bedarf nutzen kann.

  Manchmal kann er, wenn er zwei Steine gegeneinanderschlägt, diesen Zustand provozieren, diesen Geruch, diesen Geschmack: Pulver, Eisen, Hitze, ein unablässiges Pochen in den Adern.

  Das Geheimnis hinter dem Telefonanruf und hinter dem Lächeln seiner Mutter offenbart sich in der Vormittagspause, als Mr. Gouws ihn auffordert, noch etwas zu bleiben. An Mr. Gouws Gehabe ist etwas Unnatürliches, eine Freundlichkeit, der er mißtraut.

  Mr. Gouws möchte ihn zum Tee zu sich nach Hause einladen. Stumm nickt er und prägt sich die Adresse ein.

  Er möchte das nicht. Nicht etwa, daß ihm Mr. Gouws unsympathisch ist. Wenn er zu ihm nicht so viel Vertrauen hat, wie er in der vierten Klasse Vertrauen zu Mrs. Sanderson hatte, dann nur, weil Mr. Gouws ein Mann ist, der erste Lehrer, den er gehabt hat, und er ist auf der Hut vor etwas, was von allen Männern ausgeht: eine Unruhe, eine kaum gezügelte Roheit, eine Andeutung von Vergnügen an der Grausamkeit. Er weiß nicht, wie er sich Mr. Gouws oder Männern gegenüber verhalten soll, ob er ihnen keinen Widerstand entgegensetzen und sich um ihre Anerkennung bemühen soll, oder ob er eine Barriere der Förmlichkeit aufrechterhalten soll. Frauen sind einfacher, weil sie freundlicher sind. Aber Mr. Gouws – das kann er nicht leugnen – ist so fair, wie nur denkbar. Sein Englisch ist gut, und er scheint keinen Groll gegen die Engländer oder gegen Jungen aus Afrikaans-Familien, die lieber englisch sein wollen, zu hegen. Während einer seiner vielen Fehlzeiten hat Mr. Gouws die Grammatik der Prädikatsergänzungen durchgenommen. Er hat Mühe, den Lehrstoff der Prädikatsergänzungen aufzuholen. Wenn die Prädikatsergänzungen wie die Redewendungen nicht sinnvoll wären, dann würden die anderen auch Probleme mit ihnen haben. Doch die anderen, oder die meisten von ihnen, scheinen die Prädikatsergänzungen mühelos zu beherrschen. Man kann nicht umhin festzustellen: Mr. Gouws weiß etwas über die englische Grammatik, was er nicht weiß.

  Mr. Gouws macht genauso häufig Gebrauch vom Rohrstock wie jeder andere Lehrer. Aber seine bevorzugte Bestrafung, wenn die Klasse zu lange zu laut gewesen ist, besteht im Befehl, die Stifte hinzulegen, die Bücher zu schließen, die Hände hinterm Kopf zu verschränken, die Augen zu schließen und absolut still dazusitzen.

  Außer den Schritten des die Reihen auf- und abschreitenden Mr. Gouws herrscht vollkommene Stille im Raum. Von den Eukalyptusbäumen um den Schulhof dringt das friedliche Gurren der Tauben. Das ist eine Strafe, die er ewig mit Gleichmut ertragen könnte: die Tauben, das leise Atmen der Jungen um ihn herum.

  Die Disa Road, wo Mr. Gouws wohnt, ist auch in Reunion Park, in dem neuen, nördlichen Zipfel der Siedlung, den er nie erkundet hat. Nicht genug, daß Mr. Gouws in Reunion Park wohnt und auf einem Rad mit breiten Reifen zur Schule fährt – er ist verheiratet mit einer einfachen, dunklen Frau, und was noch erstaunlicher ist, er hat zwei kleine Kinder. Das entdeckt er im Wohnzimmer der Disa Road 11, wo Teekuchen und eine Kanne Tee auf dem Tisch stehen und wo er, wie befürchtet, mit Mr. Gouws allein gelassen wird und eine verzweifelte, gekünstelte Unterhaltung führen muß.

  Es kommt noch schlimmer. Mr. Gouws – der statt Schlips und Jackett jetzt Shorts und Khakisocken trägt – versucht ihm gegenüber so zu tun, als ob sie beide jetzt, wo das Schuljahr vorbei ist und er Worcester bald verlassen wird, Freunde sein können. Er versucht ihm allen Ernstes einzureden, daß sie das ganze Jahr über schon Freunde gewesen sind – der Lehrer und der klügste Junge, der Klassenerste.

  Er wird nervös und steif. Mr. Gouws bietet ihm einen zweiten Teekuchen an, den er ablehnt. »Na los!« sagt Mr. Gouws und lächelt und legt ihn trotzdem auf seinen Teller. Er möchte weg.

  Er hatte aus Worcester weggehen wollen, wenn alles seine Ordnung hatte. Er war bereit gewesen, Mr. Gouws in seiner Erinnerung einen Platz neben Mrs. Sanderson einzuräumen – nicht ganz auf einer Stufe mit ihr, aber ganz nah. Und nun verdirbt es Mr. Gouws. Würde er es nur nicht tun.

  Der zweite Teekuchen liegt ungegessen auf dem Teller. Er will nicht mehr heucheln – er wird stumm und stur. »Mußt du jetzt gehen?« fragt Mr. Gouws. Er nickt. Mr. Gouws steht auf und bringt ihn bis zur Gartentür, die eine Kopie der Tür in der Pappelallee 12 ist und genauso schrill kreischt.

  Wenigstens ist Mr. Gouws vernünftig genug, ihn nicht zum Händeschütteln oder zu etwas anderem Dummen zu animieren.

 

Die Entscheidung, aus Worcester wegzuziehen, hat mit Standard Canners zu tun. Sein Vater hat entschieden, daß seine Zukunft nicht bei Standard Canners liegt, mit denen es abwärts geht, wenn man ihm glauben will. Er wird sich wieder der Anwaltstätigkeit zuwenden.

  Es gibt eine Abschiedsparty im Büro, von der er mit einer neuen Uhr zurückkommt. Kurz darauf macht er sich auf nach Kapstadt, allein, und läßt die Mutter zur Überwachung des Umzuges zurück. Sie heuert eine Firma namens Retief an und handelt aus, daß für fünfzehn Pfund nicht nur der ganze Hausrat, sondern auch sie – im Fahrerhaus – befördert werden.

  Retiefs Männer beladen den Möbelwagen, die Mutter und der Bruder klettern ins Fahrerhaus. Er macht zum Abschied eine letzte Runde durch das leere Haus. Hinter der Haustür ist der Schirmständer, in dem normalerweise zwei Golfschläger und ein Spazierstock stehen, leer. »Die haben den Schirmständer vergessen!« schreit er. »Komm!« ruft die Mutter. »Laß den alten Schirmständer!«

  »Nein!« schreit er zurück und will nicht weichen, bis die Männer den Schirmständer geholt haben. »Dis net ‘n ou stuk pyp«, brummelt Retief – Es ist bloß ein altes Stück Rohr.

  So erfährt er, daß das, was er für einen Schirmständer gehalten hat, nur ein Stück Abflußrohr aus Beton ist, das die Mutter angeschleppt und grün gestrichen hat. Das also nehmen sie mit nach Kapstadt, zusammen mit dem Kissen voller Hundehaare, auf dem Cossack immer geschlafen hat, und der Rolle Maschendraht vom Hühnerauslauf und der Maschine, die Kricketbälle verschießt und dem Holzstock mit dem Morsecode. Wie sich Retiefs Möbelwagen zum Bain’s Kloof Paß hinaufmüht, gleicht er Noahs Arche, weil er die Siebensachen ihres alten Lebens rettet.

 

In Reunion Park haben sie zwölf Pfund monatlich für ihr Haus bezahlt. Das Haus, das sein Vater in Plumstead gemietet hat, kostet fünfundzwanzig Pfund. Es liegt am äußersten Rand von Plumstead und blickt auf eine weite Sandfläche mit Akaziengebüsch, wo die Polizei nur eine Woche nach ihrer Ankunft ein totes Baby in einem Packpapierpäckchen findet.

  Eine halbe Stunde zu Fuß in die andere Richtung befindet sich der Bahnhof von Plumstead. Das Haus selbst ist wie alle Häuser in der Evremonde Road ein Neubau, mit Panoramafenstern und Parkettfußböden. Die Türen sind verzogen, die Schlösser schließen nicht, im Hinterhof ist ein Schutthaufen.

  Nebenan wohnt ein Ehepaar, das frisch aus England gekommen ist. Der Mann wäscht immerzu sein Auto; die Frau, mit roten Shorts und Sonnenbrille, verbringt ihre Tage im Liegestuhl und bräunt sich die langen weißen Beine.

  Die dringendste Aufgabe ist jetzt, Schulen für ihn und seinen Bruder zu finden. Kapstadt ist nicht wie Worcester, wo alle Jungen in die Knabenschule und alle Mädchen in die Mädchenschule gingen. In Kapstadt kann man zwischen verschiedenen Schulen wählen. Aber um in eine gute Schule aufgenommen zu werden, braucht man Beziehungen, und sie haben nur wenige Beziehungen.

  Durch den Einfluß von Lance, des Bruders der Mutter, bekommen sie einen Termin im Rondebosch-Knabengymnasium. Anständig bekleidet mit Shorts, Hemd und Schlips und marineblauem Blazer, der das Emblem der Knabenschule von Worcester auf der Brusttasche hat, sitzt er mit der Mutter auf einer Bank vor dem Büro des Direktors. Als sie an der Reihe sind, werden sie in ein holzgetäfeltes Zimmer voller Fotos von Rugby- und Cricketmannschaften gebeten.

  Die Fragen des Direktors sind alle an die Mutter gerichtet: wo sie wohnen, was der Vater macht. Dann kommt der Augenblick, auf den er gewartet hat. Aus ihrer Handtasche holt sie das Zeugnis, das belegt, daß er der Klassenerste war, und das ihm deshalb alle Türen öffnen sollte.

  Der Direktor setzt seine Lesebrille auf. »Du warst also der Klassenerste«, sagt er. »Gut, gut! Aber hier wird es dir nicht so leicht gemacht werden.«

  Er hatte gehofft, daß man ihn prüfen würde, ihn nach der Jahreszahl der Schlacht am Blood River fragen würde, oder, noch besser, ihm einige Kopfrechenaufgaben stellen würde.

  Aber das ist schon alles, das Gespräch ist vorbei. »Ich kann nichts versprechen«, sagt der Direktor. »Wir setzen seinen Namen auf die Warteliste, und dann müssen wir hoffen, daß jemand zurücktritt.«

  Sein Name wird in drei Schulen auf die Warteliste gesetzt, erfolglos. Der Klassenerste in Worcester zu sein, ist offensichtlich nicht gut genug für Kapstadt.

  Die letzte Zuflucht ist die Katholische St.-Joseph-Schule. St. Joseph hat keine Warteliste – sie nehmen jeden, der ihre Gebühren zu zahlen bereit ist, die für Nichtkatholiken zwölf Pfund im Vierteljahr betragen.

  Was ihnen, ihm und seiner Mutter, nachdrücklich klargemacht wird, ist, daß in Kapstadt verschiedene Klassen von Menschen verschiedene Schulen besuchen. Die St.-Joseph-Schule ist zuständig für, wenn nicht die unterste, so doch die zweitunterste Klasse. Daß sie es nicht geschafft hat, den Sohn in eine bessere Schule hineinzubringen, verbittert die Mutter, regt ihn jedoch nicht auf. Er ist sich nicht sicher, welcher Klasse sie angehören, wo sie hingehören. Im Moment reicht es ihm, einfach über die Runden zu kommen. Die Gefahr, in eine Afrikaanerschule geschickt und gezwungen zu werden, wie ein Afrikaaner zu leben, hat abgenommen – nur das zählt. Er kann sich entspannen. Er muß sich nicht einmal weiter als Katholiken ausgeben.

  Die echten Engländer besuchen keine Schule wie St. Joseph.

  Aber auf den Straßen von Rondebosch kann er sie jeden Tag sehen, unterwegs zu ihren Schulen oder auf dem Nachhauseweg, kann ihr glattes blondes Haar und den goldenen Teint bewundern, ihre Sachen, die nie zu klein oder zu groß sind, ihr ruhiges Selbstvertrauen. Sie hänseln sich unbefangen, ohne die Roheit und Plumpheit, die er kennt. Er hat nicht den Ehrgeiz, sich zu ihnen zu gesellen, doch er beobachtet sie und versucht, sich etwas abzugucken.

  Die Jungen vom Diözesan-College, die am britischsten von allen sind und sich nicht einmal herablassen, zu Rugbyoder Cricketmatchs gegen St. Joseph anzutreten, wohnen in ausgesuchten Vierteln, von denen er, da sie weit entfernt von der Bahnstrecke liegen, nur hört und die er nie betritt: Bishopscourt, Fernwood, Constantia. Sie haben Schwestern, die Schulen wie Herschel und St. Cyprian besuchen und die sie liebenswürdig behüten und beschützen. In Worcester hat er kaum ein Mädchen angeschaut – seine Freunde schienen immer Brüder zu haben, keine Schwestern. Jetzt bekommt er zum ersten Mal die Schwestern der englischen Jungen zu sehen, so goldblond, so schön, daß er nicht glauben kann, daß sie von dieser Welt sind.

 

Um pünktlich 8.30 Uhr in der Schule zu sein, muß er 7.30 Uhr aus dem Haus gehen: eine halbe Stunde Fußweg zum Bahnhof, fünfzehn Minuten Bahnfahrt, fünf Minuten zu Fuß vom Bahnhof zur Schule, und ein Polster von zehn Minuten, falls es Verspätungen gibt. Weil er aber Angst vorm Zuspätkommen hat, geht er schon um sieben aus dem Haus und ist um acht in der Schule. Dort kann er im gerade vom Hausmeister aufgeschlossenen Klassenzimmer an seinem Tisch sitzen, den Kopf auf die Arme legen und warten.

  In Alpträumen liest er die Uhrzeit falsch ab, verpaßt Züge, verläuft sich. In seinen Alpträumen weint er in hilfloser Verzweiflung.

  Die Brüder De Freitas sind die einzigen, die noch vor ihm da sind. Ihr Vater, ein Gemüsehändler, setzt sie im Morgengrauen, wenn er mit seinem zerbeulten blauen Lastwagen unterwegs zum Salt-River-Großmarkt ist, an der Schule ab.

  Die Lehrer an der St.-Joseph-Schule gehören dem Maristen-Orden an. Diese Brüder in ihren ernsten schwarzen Soutanen und weißen Stehkragen sind für ihn besondere Menschen. Ihre geheimnisvolle Aura beeindruckt ihn: das Geheimnis ihrer Herkunft, das Geheimnis der Namen, die sie abgelegt haben.

  Er mag es nicht, wenn Bruder Augustine, der Crickettrainer, zu den Trainingsstunden wie ein normaler Mensch in weißem Hemd und schwarzen Hosen und Cricketschuhen kommt.

  Besonders mißfällt ihm, wenn Bruder Augustine als Schlagmann an der Reihe ist und sich einen Schutz, ein »Suspensorim«, in die Hose schiebt.

  Er weiß nicht, was die Brüder machen, wenn sie nicht unterrichten. Zu dem Flügel des Schulgebäudes, wo sie schlafen, essen und ihr Privatleben führen, ist der Zutritt verboten; er hat nicht den Wunsch, da einzudringen. Er würde gern glauben, daß sie dort ein strenges Leben führen, um vier Uhr früh aufstehen, Stunden im Gebet zubringen, genügsam essen, ihre eigenen Socken stopfen. Wenn sie sich schlecht benehmen, tut er sein Bestes, um sie zu entschuldigen. Wenn zum Beispiel Bruder Alexis, der fett und unrasiert ist, unzivilisiert einen fahren läßt und in der Afrikaans-Stunde einschläft, erklärt er sich das, indem er sagt, Bruder Alexis ist ein intelligenter Mann, für den das Unterrichten unter seiner Würde ist. Wenn Bruder Jean-Pierre plötzlich als Aufseher im Schlafsaal der jüngeren Schüler abgelöst wird und das von Geschichten begleitet wird, daß er was mit kleinen Jungen hatte, dann verdrängt er diese Geschichten einfach. Für ihn ist es unvorstellbar, daß geistliche Brüder sexuelle Bedürfnisse haben und ihnen nicht widerstehen sollten.

  Da nur wenige der Brüder Englisch als Muttersprache sprechen, hat man einen katholischen Laien für die Englischstunden eingestellt. Mr. Whelan ist Ire – er haßt die Engländer und verbirgt seine Abneigung gegenüber Protestanten kaum. Er bemüht sich auch nicht um korrekte Aussprache der Afrikaans-Namen und bringt sie mit abschätzig geschürzten Lippen hervor, als wären sie heidnisches Kauderwelsch.

  Die meiste Zeit des Englischunterrichts geht mit Shakespeares Julius Cäsar drauf, und Mr. Whelans Methode ist dabei, den Jungen Rollen zuzuteilen und sie ihren Text dann laut vorlesen zu lassen. Sie machen auch Übungen aus dem Grammatiklehrbuch und schreiben jede Woche einen Aufsatz.

  Sie bekommen dreißig Minuten, um ihren Aufsatz zu schreiben, bevor sie ihn abliefern müssen; in den verbleibenden zehn Minuten liest und zensiert Mr. Whelan alle Aufsätze, da er nichts davon hält, Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Seine zehnminütigen Benotungsverfahren sind zu einer Attraktion geworden, und die Jungen schauen mit bewunderndem Lächeln zu. Einen blauen Stift schreibbereit in der Hand, durchforstet Mr. Whelan den Stapel von Aufsätzen.

  Wenn er am Ende seiner Vorstellung die Aufsatz-Hefte auf einen Stoß ausrichtet und sie dem Aufsichtsschüler zum Austeilen gibt, hört man kurz gedämpften, ironischen Beifall.

  Mr. Whelans Vorname ist Terence. Er trägt eine braune Motorradlederjacke und einen Hut. Wenn es kalt ist, behält er den Hut auf, sogar drinnen. Er reibt die blassen weißen Hände aneinander, um sie zu erwärmen; er hat das blutleere Gesicht eines Leichnams. Was er in Südafrika macht, warum er nicht in Irland ist, weiß keiner. Das Land und alles, was hier geschieht, scheint ihm zu mißfallen.

  Für Mr. Whelan schreibt er Aufsätze über den Charakter von Mark Anton, über den Charakter von Brutus, über Sicherheit im Straßenverkehr, über Sport, über die Natur. Die meisten seiner Aufsätze sind langweilige, mechanische Übungen; doch gelegentlich spürt er beim Schreiben eine plötzliche Erregung, und die Feder fliegt über die Seite. In einem seiner Aufsätze lauert ein Straßenräuber im Versteck an der Landstraße. Sein Pferd schnaubt leise, sein Atem dampft in der kalten Nachtluft.

  Ein Mondstrahl fällt wie ein Säbelhieb über sein Gesicht; er hat die Pistole unter dem Mantelaufschlag, um das Pulver trocken zu halten.

  Der Straßenräuber macht keinen Eindruck auf Mr. Whelan.

  Seine blassen Augen eilen über die Seite, sein Stift stößt herab: 6 1/2. 6 1/2 ist die Zensur, die er fast immer für seine Aufsätze bekommt; nie mehr als 7. Schüler mit englischen Namen bekommen 7 1/2 oder 8. Trotz seines komischen Familiennamens bekommt ein Junge, der Theo Stavropoulos heißt, 8, weil er gut gekleidet ist und zur Sprecherziehung geht.

  Tony wird immer die Rolle des Mark Anton zugeteilt, was bedeutet, daß er »Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an« lesen muß, die berühmteste Rede im Stück.

  In Worcester ist er in einem Zustand der Besorgnis, doch auch der Erregung zur Schule gegangen. Ja, er konnte jederzeit als Lügner entlarvt werden, mit schrecklichen Konsequenzen.

  Aber die Schule war faszinierend: jeder Tag schien neue Offenbarungen von Grausamkeit, Schmerz und Haß zu bringen, die hinter der banalen Oberfläche der Dinge wüteten.

  Was da vor sich ging, war unrecht, wußte er, sollte eigentlich nicht geschehen; und er war zu jung, zu kindisch und verletzlich für das, was ihm zugemutet wurde. Trotzdem ergriff ihn die Leidenschaft und die Wut jener Tage; er war entsetzt, aber er wollte auch unbedingt mehr erleben, alles erleben, was es zu erleben gab.

  In Kapstadt hat er dagegen bald das Gefühl, daß er seine Zeit verschwendet. Die Schule ist nicht mehr der Ort, wo große Gefühle zur Schau getragen werden. Es ist eine zusammengeschrumpfte kleine Welt, ein mehr oder weniger moderates Gefängnis, in dem er genausogut Körbe flechten als sich der Schulroutine unterwerfen könnte. Kapstadt macht ihn nicht klüger, sondern dümmer. Bei dieser Erkenntnis steigt Panik in ihm auf. Wer er auch wirklich ist, das wahre »Ich«, das sich aus der Asche seiner Kindheit erheben sollte, kann nicht geboren werden, wird unterdrückt und gehemmt.

  Dieses Gefühl ist am deprimierendsten im Unterricht von Mr. Whelan. Es gibt viel mehr, was er schreiben kann, als Mr. Whelan je zulassen wird. Das Schreiben für Mr. Whelan bedeutet nicht, daß er seine Flügel ausprobiert; im Gegenteil, es ist, als wenn er in sich zusammenkriecht, sich so klein und harmlos macht, wie er nur kann.

  Er hat nicht den Wunsch, über Sport (mens sana in corpore sano) oder Sicherheit im Straßenverkehr zu schreiben, diese Themen sind für ihn so langweilig, daß er sich die Worte abringen muß. Er möchte nicht einmal über Straßenräuber schreiben; er hat so ein Gefühl, daß die Mondstrahlen, die auf ihre Gesichter fallen, und die weißen Knöchel der Hände, mit denen sie ihre Pistolenknäufe umklammern, sie mögen einen noch so großen Eindruck machen, nicht von ihm stammen, von irgendwo anders herkommen und schon abgenutzt sind. Was er schreiben würde, wenn er könnte, wenn es nicht Mr. Whelan lesen würde, wäre etwas Dunkleres, etwas, das, wenn es erst einmal aus seiner Feder zu fließen begänne, sich unkontrolliert über die Seite ausbreiten würde wie vergossene Tinte. Wie vergossene Tinte, wie Schatten, die über eine stille Wasserfläche huschen, wie Blitze, die über den Himmel zucken.

  Mr. Whelan hat auch die Aufgabe, die nichtkatholischen Schüler von Klasse Sechs zu beschäftigen, während die katholischen Schüler Katechismusunterricht haben. Er soll eigentlich das Lukas-Evangelium mit ihnen lesen. Statt dessen hören sie immer wieder von Parnell und Roger Casement und der Niedertracht der Engländer. Aber einige Tage lang kommt Mr. Whelan mit der Cape Times in der Hand in die Klasse und kocht vor Wut über die neuesten Greueltaten der Russen in ihren Satellitenstaaten. »In ihren Schulen haben sie Atheismusstunden eingeführt, wo die Kinder gezwungen werden, auf das Kruzifix zu spucken«, donnert er. »Die ihrem Glauben treu bleiben, werden in berüchtigte Gefangenenlager gesteckt. Das ist die Realität des Kommunismus, der die Frechheit hat, sich die Religion vom Menschen zu nennen.«

  Durch Bruder Otto hören sie von der Verfolgung der Christen in China. Bruder Otto ist nicht wie Mr. Whelan – er ist still, errötet leicht, muß dazu überredet werden, Geschichten zu erzählen. Aber seine Geschichten haben größere Autorität, weil er wirklich in China gewesen ist. »Ja, ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagt er in seinem unbeholfenen Englisch, »Menschen in einer winzigen Zelle eingesperrt, so viele, daß sie keine Luft mehr bekamen und gestorben sind. Ich habe es gesehen.«

  Ching-Chong-Chinamann, nennen die Jungen Bruder Otto hinter seinem Rücken. Für sie ist das, was Bruder Otto über China oder Mr. Whelan über Rußland erzählt, nicht realer als Jan van Riebeeck oder der Große Treck. Doch weil Jan van Riebeeck und der Treck auf dem Lehrplan von Klasse Sechs stehen und der Kommunismus nicht, kann, was in China und Rußland vor sich geht, ignoriert werden. China und Rußland sind nur Vorwände, um Bruder Otto oder Mr. Whelan zum Erzählen zu bringen.

  Er für sein Teil ist beunruhigt. Er weiß, daß die Geschichten seiner Lehrer Lügen sein müssen, aber ihm fehlen die Mittel, es zu beweisen. Er ist unzufrieden, daß er wie gebannt dasitzen und ihnen zuhören muß, aber zu schlau, um zu protestieren oder sogar Einwände zu erheben. Er hat die Cape Times gelesen und weiß, was mit Gleichgesinnten passiert. Er möchte nicht denunziert und geächtet werden.

  Wenn Mr. Whelan auch beileibe nicht begeistert davon ist, den Nichtkatholiken die Heilige Schrift nahezubringen, kann er doch die Evangelien nicht ganz vernachlässigen. »Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den anderen auch dar«, liest er aus dem Lukas-Evangelium vor. »Was will Jesus damit sagen? Will er sagen, daß wir nicht mutig unsere Sache vertreten sollen? Will er sagen, daß wir Weichlinge sein sollen? Natürlich nicht. Aber wenn ein Rowdy zu dir kommt und eine Schlägerei anzetteln will, sagt Jesus: Laß dich nicht provozieren. Es gibt bessere Möglichkeiten, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, als durch Handgreiflichkeiten.«

  »Denn wer da hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, von dem wird genommen, auch was er meint zu haben. – Was will Jesus damit sagen? Will er damit sagen, der einzige Weg, Erlösung zu erlangen, besteht darin, allen Besitz zu verschenken? Nein. Wenn Jesus gewollt hätte, daß wir in Lumpen herumlaufen, hätte er das gesagt. Jesus spricht in Gleichnissen. Er sagt uns, daß die unter uns, die wahrhaft glauben, den Himmel zum Lohn erhalten, während auf die Ungläubigen ewige Höllenpein wartet.«

  Er fragt sich, ob Mr. Whelan sich bei den Brüdern erkundigt – besonders bei Bruder Odilo, der die Schulfinanzen verwaltet und das Schulgeld einsammelt –, ehe er den Nichtkatholiken diese Lehrsätze verkündet. Mr. Whelan, der Laienlehrer, glaubt eindeutig, daß Nichtkatholiken Heiden sind, verdammt.

  Die Brüder selber sind dagegen recht tolerant.

  Sein innerer Widerstand gegen Mr. Whelans Bibelstunden geht tief. Er ist sich sicher, daß Mr. Whelan keinen Schimmer davon hat, was die Gleichnisse Jesu wirklich bedeuten.

  Obwohl er selbst Atheist ist, schon immer gewesen ist, hat er das Gefühl, Jesus besser zu verstehen als Mr. Whelan. Ihm ist Jesus nicht sympathisch – er bekommt zu leicht Wutanfälle –, aber er ist bereit, ihn zu tolerieren. Wenigstens hat Jesus nicht behauptet, Gott zu sein, und ist gestorben, ehe er Vater werden konnte. Das ist Jesu Stärke; so behält Jesus seine Macht.

  Doch es gibt einen Abschnitt im Lukas-Evangelium, den er nicht gern hört. Wenn sie dahin kommen, erstarrt er, verschließt die Ohren. Die Frauen kommen am Grab an, um Jesu Leichnam zu salben. Jesus ist nicht da. Statt dessen finden sie zwei Engel. »Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten?« fragen die Engel. »Er ist nicht hier; er ist auferstanden.« Er weiß, wenn er seine Ohren öffnen würde und die Worte zu sich dringen ließe, dann würde er auf seinen Stuhl klettern und einen Triumphschrei ausstoßen müssen. Er müßte sich für alle Zeiten lächerlich machen.

  Er hat nicht das Gefühl, daß Mr. Whelan ihm persönlich übel will. Trotzdem ist die beste Punktzahl, die er je in Englischprüfungen bekommt, die 70. Mit 70 kann er nicht Erster in Englisch werden, bevorzugte Schüler schlagen ihn mit Leichtigkeit. Auch in Geschichte und Geographie, die ihn mehr denn je langweilen, ist er nicht besonders gut. Nur die guten Noten, die er in Mathematik und Latein erreicht, bringen ihn mit Müh und Not an die Spitze, vor Oliver Matter, dem Schweizer Jungen, der Klassenerster gewesen ist, ehe er kam.

  Jetzt, da er in Oliver auf einen würdigen Gegner gestoßen ist, wird sein alter Schwur, immer ein Zeugnis als Klassenerster nach Hause zu bringen, zu einer Sache der eisernen persönlichen Ehre. Obwohl er seiner Mutter nichts davon erzählt, bereitet er sich auf den unerträglichen Tag vor, den Tag, an dem er ihr gestehen muß, daß er der Zweite ist.

  Oliver Matter ist ein freundlicher, lächelnder, mondgesichtiger Junge, dem es bei weitem nicht so viel auszumachen scheint, der Zweite zu sein, wie ihm. Jeden Tag messen er und Oliver Matter sich im Wettkampf der schnellen Antworten, den Bruder Gabriel durchführt, indem er die Jungen in einer Reihe aufstellt, die er abschreitet und dabei Fragen stellt, die in fünf Sekunden beantwortet werden müssen, wobei jeder, der eine Antwort schuldig bleibt, ans Ende der Reihe geschickt wird. Wenn die Runde vorbei ist, stehen immer entweder er oder Oliver an der Spitze.

  Dann kommt Oliver eines Tages nicht mehr zur Schule. Nach einem Monat ohne Erklärung gibt Bruder Gabriel etwas bekannt. Oliver ist im Krankenhaus, er hat Leukämie, alle müssen für ihn beten. Mit gesenkten Häuptern beten die Jungen. Da er nicht an Gott glaubt, betet er nicht, bewegt nur die Lippen. Er denkt: Alle werden glauben, ich möchte, daß Oliver stirbt, damit ich Erster sein kann.

  Oliver kommt nie wieder. Er stirbt im Krankenhaus. Die katholischen Schüler nehmen an einer Sondermesse für den Frieden seiner Seele teil.

  Die Bedrohung ist gewichen. Er atmet leichter; doch die alte Freude daran, Erster zu werden, ist verdorben.