Fünfzehn

Seine Mutter war ein Jahr auf der Universität, ehe sie den Platz für die jüngeren Brüder räumen mußte. Der Vater ist ausgebildeter Rechtsanwalt; er arbeitet nur deshalb für Standard Canners, weil die Eröffnung einer eigenen Praxis (wie die Mutter ihm sagt) mehr Geld kosten würde, als sie zur Verfügung haben. Obwohl er seinen Eltern Vorwürfe macht, weil sie ihn nicht wie ein normales Kind erzogen haben, ist er stolz auf ihre Bildung.

  Weil sie zu Hause Englisch sprechen, weil er immer der Klassenerste in Englisch ist, hält er sich für einen Engländer.

 Obwohl sein Nachname afrikaans ist, obwohl der Vater mehr Afrikaaner als Engländer ist, obwohl er selbst Afrikaans ohne englischen Akzent spricht, würde er keinen Augenblick als Afrikaaner durchgehen. Sein Afrikaans ist dünn und blutarm; echten Afrikaanerjungen steht eine ganze Welt von Jargonwörtern und Anspielungen zur Verfügung – wovon obszöne Wörter nur ein Teil sind –, zu der er keinen Zugang hat.

  Die Afrikaaner verbindet auch eine gemeinsame Art – sie sind verdrießlich, unversöhnlich und drohen immer gleich, handgreiflich zu werden (für ihn sind sie wie Rhinozerosse, riesig, plump, kraftvoll rempeln sie sich im Vorbeigehen an) –, die er nicht hat und vor der er eigentlich zurückschreckt. Sie setzen ihre Sprache wie eine Keule gegen ihre Gegner ein. Auf der Straße ist es besser, wenn man um Gruppen von ihnen einen Bogen macht; sogar als Einzelwesen haben sie etwas Aufsässiges, Drohendes an sich. Manchmal sucht er beim morgendlichen Appell der Klassen im Schulhof die Reihen der Afrikaanerjungen nach einem ab, der anders ist, der einen Anflug von Weichheit hat; doch es gibt keinen. Undenkbar, daß er jemals unter sie geworfen werden sollte – sie würden ihn zermalmen, seinen Geist töten.

  Doch zu seiner Überraschung stellt er fest, daß er ihnen das Afrikaans nicht allein überlassen will. Er kann sich noch an seinen ersten Besuch auf Voelfontein erinnern, als er vier oder fünf Jahre alt war und überhaupt kein Afrikaans beherrschte.

  Sein Bruder war noch ein Kleinkind und blieb zum Schutz vor der Sonne im Haus; er hatte niemanden als Spielkameraden außer den farbigen Kindern. Mit ihnen machte er Boote aus Samenkapseln und ließ sie die Bewässerungsgräben hinunterschwimmen. Aber er war wie ein stummes Wesen – alles mußte mit Gebärden ausgedrückt werden; manchmal glaubte er, daß er vor lauter Dingen, die er nicht sagen konnte, platzen würde. Dann machte er eines Tages plötzlich den Mund auf und stellte fest, daß er sprechen konnte, leicht und fließend und ohne Pause zum Nachdenken. Er weiß noch, wie er bei seiner Mutter hereinplatzte und brüllte: »He! Ich kann Afrikaans!«

  Wenn er Afrikaans spricht, scheinen plötzlich alle Komplikationen des Lebens von ihm abzufallen. Afrikaans ist wie eine gespenstische zweite Haut, die er überallhin mitnimmt und in die er schlüpfen kann, wodurch er sofort zu einer anderen Person wird, schlichter, fröhlicher, leichtfüßiger.

  Eine Sache, in der ihn die Engländer enttäuschen, wo er ihnen nicht folgen will, ist ihre Verachtung für Afrikaans.

  Wenn sie die Augenbrauen hochziehen und Afrikaans-Wörter hochnäsig falsch aussprechen, als würde man einen Gentleman daran erkennen, daß er Veld mit einem englischen v ausspricht, zieht er sich zurück vor ihnen – sie irren sich, und schlimmer noch, sie machen sich lächerlich. Er hingegen macht keine Zugeständnisse, nicht einmal in der Gesellschaft von Engländern – er spricht die Afrikaans-Wörter aus, wie sie ausgesprochen werden sollten, mit all ihren harten Konsonanten und schwierigen Vokalen.

  In seiner Klasse gibt es neben ihm noch mehrere Jungen mit Afrikaans-Familiennamen. In den Afrikaanerklassen andererseits gibt es keine Jungen mit englischen Familiennamen. In der Oberstufe weiß er von einem Afrikaaner Smith, der genauso gut Smit heißen könnte; das ist alles. Das ist schade, aber gut zu verstehen: welcher Engländer würde denn eine Afrikaanerfrau heiraten und eine Afrikaans-Familie haben wollen, wo doch die Afrikaanerfrauen entweder groß und dick sind, einen mächtigen Vorbau und Hälse wie Ochsenfrösche haben oder knochige Vogelscheuchen sind.

  Er dankt Gott dafür, daß seine Mutter Englisch spricht. Aber dem Vater traut er nicht, trotz Shakespeare und Wordsworth und dem Kreuzworträtsel in der Cape Times. Er begreift nicht, warum der Vater sich weiter Mühe gibt, hier in Worcester Engländer zu sein, wo es doch für ihn so einfach wäre, wieder in seine Existenz als Afrikaaner zu schlüpfen. Wenn er seinen Vater mit den Brüdern Scherze über ihre Kindheit in Prince Albert austauschen hört, bekommt er den Eindruck, als unterscheide sich das nicht vom Leben eines Afrikaaners in Worcester. Auch da stehen Prügel und Nacktheit, körperliche Verrichtungen vor anderen Jungen, primitive Nichtachtung der Privatsphäre im Mittelpunkt.

  Der Gedanke daran, zum Afrikaaner gemacht zu werden, mit geschorenem Kopf und ohne Schuhe, läßt ihn verzagen. Es gleicht einer Gefängnisstrafe, einer Verdammung zu einem Leben ohne Privatsphäre. Ohne Privatsphäre kann er nicht leben. Wenn er Afrikaaner wäre, müßte er jede Minute bei Tag und bei Nacht in der Gesellschaft anderer verbringen. Das ist eine Aussicht, die er nicht ertragen kann.

  Er denkt an die drei Tage im Pfadfinderlager zurück, erinnert sich an sein Elend, sein stets frustriertes Verlangen, sich ins Zelt zu schleichen und allein ein Buch zu lesen.

  Eines Samstags schickt ihn der Vater nach Zigaretten. Er hat die Wahl, entweder die ganze Strecke bis zum Stadtzentrum zu radeln, wo es ordentliche Geschäfte mit Schaufenstern und Registrierkassen gibt, oder zum kleinen Afrikaans-Laden beim Eisenbahnübergang zu laufen, der nur aus einem Hinterzimmer in einem Wohnhaus besteht, der einen dunkelbraun gestrichenen Ladentisch und fast nichts in den Regalen hat. Er entscheidet sich für das Nächstgelegene.

  Es ist ein heißer Nachmittag. Im Laden hängen biltong-Streifen von der Decke, und überall sind Fliegen. Gerade will er dem Jungen hinter dem Ladentisch – einem Afrikaaner, älter als er selbst – sagen, daß er zwanzig Springbok ohne Filter haben will, als ihm eine Fliege in den Mund gerät. Er spuckt sie voller Abscheu aus. Die Fliege liegt vor ihm auf dem Ladentisch und kämpft in einer Speichelpfütze.

   »Sies!« sagt einer der Kunden.

  Er will protestieren: »Was soll ich denn machen? Soll ich nicht ausspucken? Soll ich die Fliege runterschlucken? Ich bin bloß ein Kind!« Aber Erklärungen gelten nichts bei diesen gnadenlosen Leuten. Mit der Hand wischt er den Speichel vom Ladentisch und bezahlt für die Zigaretten, umgeben von mißbilligendem Schweigen.

  Bei ihren Erinnerungen an die alten Tage auf der Farm kommen der Vater und seine Brüder wieder einmal auf ihren eigenen Vater zu sprechen. »‘n Ware ou jintlman!« sagen sie, ein richtiger alter Gentleman, ihre Formel für ihn wiederholend, und lachen: »Dis wat hy op sy grafsteen sou gewens het: Ein Farmer und ein Gentleman« – das hätte er gern auf seinem Grabstein gehabt. Am meisten lachen sie darüber, daß ihr Vater weiter Reitstiefel trug, wo doch alle anderen auf der Farm velskoen trugen.

  Die Mutter, die ihnen zuhört, schnaubt zornig. »Vergeßt nicht, welche Angst ihr vor ihm hattet«, sagt sie. »Ihr habt euch nicht getraut, in seiner Gegenwart eine Zigarette anzuzünden, selbst als ihr erwachsene Männer wart.«

  Sie sind verlegen, sie haben nichts darauf zu erwidern – sie hat deutlich einen wunden Punkt angesprochen.

  Sein Großvater, der mit den Gentleman-Allüren, besaß einst nicht nur die Farm und zur Hälfte das Hotel und eine Gemischtwarenhandlung in Fraserburg Road, sondern noch ein Haus in Merweville mit einem Fahnenmast davor, an dem er zum Geburtstag des Königs den Union Jack hißte.

  »‘n Ware ou jintlman en ‘n ware ou jingo!« sagen die Brüder noch – ein richtiger alter Hurrapatriot! Wieder lachen sie.

  Die Mutter schätzt sie richtig ein. Sie hören sich an wie Kinder, die hinter dem Rücken des Vaters ungezogene Dinge sagen. Mit welchem Recht machen sie sich denn über ihren Vater lustig? Wenn er nicht gewesen wäre, würden sie überhaupt kein Englisch sprechen – sie wären wie ihre Nachbarn, die Botes und die Nigrinis, dumm und schwerfällig, ohne ein anderes Gesprächsthema als Schafe und das Wetter.

  Wenigstens fliegen Scherze in einem Sprachmischmasch hin und her, und es wird gelacht, wenn die Familie zusammenkommt; während die Atmosphäre sofort ernst und schwer und trist wird, wenn die Nigrinis oder die Botes zu Besuch kommen. »jfa-nee«, sagen die Botes und seufzen. »Ja-nee«, sagen die Coetzees und hoffen inständig, daß ihre Gäste bald wieder verschwinden.

  Und was ist mit ihm? Wenn der von ihm verehrte Großvater ein Hurrapatriot war, ist er selber auch einer? Kann ein Kind ein Hurrapatriot sein? Er steht gerade, wenn im Kino God Save the King gespielt wird und auf der Leinwand der Union Jack weht. Bei Dudelsackmusik läuft ihm ein Schauer über den Rücken, wie auch bei Wörtern wie stalwart (standhaft) und valorous (tapfer). Sollte er das geheimhalten, diese seine Sympathie für England?

  Er kann nicht verstehen, warum so viele Menschen aus seiner Umgebung England hassen. England ist Dünkirchen und der Luftkampf um Großbritannien. England bedeutet, daß man seine Pflicht tut und sein Schicksal annimmt, still und ohne Aufsehen. England ist der Junge im Kampf um Jütland, der bei seinen Kanonen blieb, während das Deck unter ihm brannte.

  England ist Sir Lancelot vom See und Richard Löwenherz und Robin Hood mit seinem Langbogen aus Eibenholz und seinem Lincoln-grünen Anzug. Was haben die Afrikaaner Vergleichbares? Dirkie Uys, der sein Pferd ritt, bis es tot umfiel. Piet Retief, der von Dingaan zum Narren gehalten wurde. Und dann die Voortrekkers, die Rache übten, indem sie Tausende Zulus niederschossen, die keine Gewehre hatten, und noch stolz darauf waren.

  In Worcester gibt es eine anglikanische Kirche und einen Pfarrer mit grauem Haar und einer Pfeife, der auch als Pfadfinderführer fungiert und den einige der englischen Jungen in seiner Klasse – die echten englischen Jungen, mit englischen Familiennamen und Wohnungen im alten, grünen Teil von Worcester – familiär Pater nennen. Wenn die Engländer so reden, verstummt er. Da ist die englische Sprache, die er mit Leichtigkeit beherrscht. Da ist England und alles, wofür England steht, dem er ergeben zu sein glaubt. Aber es wird deutlich mehr verlangt, ehe man als echter Engländer akzeptiert wird: es gibt Prüfungen, und er weiß, daß er einige davon nicht bestehen wird.