Zwölf
In Worcester weht immer der Wind, schwach und kalt im Winter, heiß und trocken im Sommer. Nach einer Stunde im Freien hat man feinen roten Staub im Haar, in den Ohren, auf der Zunge.
Er ist gesund, voller Leben und Energie, scheint aber immer erkältet zu sein. Morgens wacht er mit Halsschmerzen und roten Augen auf, niest unbeherrscht, seine Temperatur steigt heftig und fällt dann wieder. »Ich bin krank«, krächzt er seiner Mutter zu. Sie legt ihm den Handrücken auf die Stirn. »Dann mußt du natürlich im Bett bleiben«, seufzt sie.
Ein schwieriger Moment muß noch überwunden werden, der Moment, wenn sein Vater fragt: »Wo ist John?« und die Mutter sagt: »Er ist krank«, und der Vater schnaubt und sagt: »Spielt er wieder mal den Kranken.« Das übersteht er, indem er, so ruhig er kann, daliegt, bis der Vater fort ist und der Bruder fort ist und er es sich schließlich bei einem Lesetag gemütlich machen kann.
Er liest mit großer Geschwindigkeit und völliger Hingabe.
Während seiner Krankheitsanfälle muß seine Mutter zweimal die Woche in die Bücherei, um für ihn Bücher auszuleihen – zwei auf ihre Karte, zwei weitere auf seine. Er selbst meidet die Bücherei, falls es dem Bibliothekar einfallen sollte, Fragen zu stellen, wenn er die Bücher zum Stempeln zurückbringt.
Er weiß, wenn er ein großer Mann sein will, sollte er ernsthafte Bücher lesen. Er sollte wie Abraham Lincoln oder James Watt sein und bei Kerzenschein studieren, während alle anderen schlafen, er sollte sich Latein und Griechisch und Astronomie beibringen. Den Gedanken, ein großer Mann zu sein, hat er nicht aufgegeben; er verspricht sich, daß er bald mit der ernsthaften Lektüre beginnen wird; doch momentan will er nichts als Geschichten lesen.
Er liest alle Krimis von Enid Blyton, alle Geschichten von den Hardy Boys, den jugendlichen Detektiven, alle Kriegsgeschichten über den Jagdflieger Biggles. Aber die Bücher, die ihm am besten gefallen, sind die Geschichten über die Französische Fremdenlegion von P. C. Wren. »Wer ist der größte Schriftsteller auf der Welt?« fragt er den Vater. Sein Vater sagt, Shakespeare. »Warum nicht P. C. Wren?« fragt er.
Sein Vater hat P. C. Wren nicht gelesen und scheint sich trotz seines soldatischen Vorlebens nicht für diese Lektüre zu interessieren. »P. C. Wren hat sechsundvierzig Bücher geschrieben. Wieviele Bücher hat Shakespeare geschrieben?« fragt er herausfordernd und fängt mit der Aufzählung von Titeln an. Der Vater äußert gereizt und abweisend »Aah!«, hat aber keine Antwort parat.
Wenn dem Vater Shakespeare gefällt, dann muß Shakespeare schlecht sein, schlußfolgert er. Trotzdem fängt er an, Shakespeare zu lesen, in der Ausgabe mit den vergilbenden Seiten und ausgefransten Rändern, die sein Vater geerbt hat und die vielleicht sehr wertvoll ist, weil sie so alt ist. Er versucht zu entdecken, warum die Leute sagen, Shakespeare sei groß. Er liest Titus Andronicus wegen des römischen Namens, dann Coriolanus, wobei er die langen Reden überspringt, wie er die Naturbeschreibungen in seinen Bücherei-Büchern überspringt.
Außer Shakespeare besitzt sein Vater noch die Gedichte von Wordsworth und die Gedichte von Keats. Seine Mutter besitzt die Gedichte von Rupert Brooke. Diese Gedichtbände zieren den Kaminsims im Wohnzimmer, zusammen mit Shakespeare, mit der Geschichte von San Michele in einem Lederschuber und mit einem Buch von A. J. Cronin über einen Arzt.
Zweimal versucht er Die Geschichte von San Michele zu lesen, doch es langweilt ihn. Er bekommt nie heraus, wer Axel Munthe ist, ob das Buch wahr oder erfunden ist, ob es von einem Mädchen oder von einem Ort handelt.
Eines Tages kommt der Vater mit der Wordsworth-Ausgabe in sein Zimmer. »Die Gedichte solltest du lesen«, sagt er und zeigt ihm Gedichte, die er mit Bleistift angekreuzt hat. Einige Tage später kommt er wieder und will mit ihm über die Gedichte sprechen. »Der tönende Wasserfall verfolgte mich wie eine Leidenschaft«, zitiert der Vater. »Das ist große Dichtkunst, nicht wahr?« Er murmelt etwas, will seinen Vater nicht anblicken, will nicht auf sein Spiel eingehen. Es dauert nicht lange, bis der Vater aufgibt.
Sein abweisendes Benehmen tut ihm nicht leid. Er kann nicht erkennen, wie Poesie in das Leben seines Vaters hineinpaßt; er argwöhnt, daß es nur Schau ist. Wenn die Mutter sagt, sie hätte ihr Buch nehmen und sich in die Dachkammer schleichen müssen, um dem Gespött ihrer Schwestern zu entkommen, glaubt er ihr. Aber den Vater, der heute außer der Zeitung nichts liest, kann er sich nicht als Jungen vorstellen, der Gedichte liest. Er kann sich den Vater in diesem Alter nur Späße machend, lachend und heimlich hinterm Gebüsch Zigaretten rauchend vorstellen.
Er beobachtet den Vater beim Zeitunglesen. Er liest schnell, nervös, blättert durch die Seiten, als suche er etwas, das nicht da ist, er raschelt mit den Seiten und schlägt sie geräuschvoll um. Wenn er mit der Lektüre fertig ist, faltet er die Zeitung klein zusammen und widmet sich dem Kreuzworträtsel.
Auch die Mutter verehrt Shakespeare. Sie hält Macbeth für Shakespeares größtes Stück. »Wenn der Meuchelmord aussperren könnt’ aus seinem Netz die Folgen«, schnurrt sie herunter und hält inne; »und nur Gelingen aus der Tiefe zöge«, fährt sie fort und nickt mit dem Kopf, um das Versmaß einzuhalten. »Alle Wohlgerüche Arabiens würden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen«, fügt sie hinzu. Macbeth war das Stück, das in der Schule behandelt wurde; der Lehrer stand immer hinter ihr und zwickte sie in den Arm, bis sie den ganzen Monolog aufgesagt hatte. »Kom nou, Vera!« sagte er immer – »Weiter!« – und kniff sie, und sie brachte dann noch ein paar Worte heraus.
Obwohl die Mutter so dumm ist, daß sie ihm nicht bei den Hausaufgaben der Klasse Vier helfen kann, ist ihr Englisch makellos, besonders, wenn sie schreibt, das versteht er nicht.
Sie gebraucht die Worte im richtigen Sinn, ihre Grammatik ist tadellos. Sie ist in der Sprache heimisch, das ist ein Bereich, wo sie nicht verunsichert werden kann. Wie ist das gekommen? Ihr Vater war Piet Wehmeyer, ein eindeutiger Afrikaans-Name. Im Fotoalbum sieht er in seinem kragenlosen Hemd und dem breitkrempigen Hut wie jeder gewöhnliche Farmer aus. Im Uniondale-Bezirk, wo sie zu Hause waren, gab es keine Engländer; die Nachbarn schienen alle Zondagh geheißen zu haben. Ihre Mutter war eine geborene Marie du Biel, mit deutschen Eltern, die keinen Tropfen englischen Bluts in den Adern hatten. Doch als sie Kinder bekam, gab sie ihnen englische Namen – Roland, Winifred, Ellen, Vera, Norman, Lancelot – und sprach mit ihnen zu Hause Englisch.
Wo konnten die beiden, sie und Piet, nur Englisch gelernt haben?
Das Englisch des Vaters ist fast genauso gut, obwohl in seinem Akzent mehr als eine Spur Afrikaans hörbar ist und er »thirty« wie »thutty« ausspricht. Der Vater blättert ständig in der Taschenausgabe des »Oxford English Dictionary«, wenn er seine Kreuzworträtsel löst. Er scheint jedes Wort darin wenigstens ungefähr zu kennen, auch jede Redewendung. Die verrückteren Wendungen spricht er mit Vergnügen aus, als präge er sie sich ein: pitch in (einspringen), come a cropper (auf die Nase fallen).
Er selbst kommt bei Shakespeare nur bis zum Coriolanus.
Abgesehen von der Sportseite und den Comics langweilt ihn die Zeitung. Wenn er sonst nichts zu lesen hat, liest er in den grünen Büchern. »Bring mir ein grünes Buch!« ruft er der Mutter von seinem Krankenbett aus zu. Die grünen Bücher sind die Bände von Arthur Mees Enzyklopädie für Kinder, die mit ihnen gereist sind, solange er denken kann. Er hat sie schon sehr oft durchgenommen; als er noch klein war, hat er Seiten herausgerissen, mit Buntstiften darin herumgekrakelt, den Einband kaputt gemacht, so daß die Bände nun mit äußerster Vorsicht behandelt werden müssen.
Er liest nicht wirklich in den grünen Büchern – der Stil, in dem sie verfaßt sind, macht ihn ungeduldig, er ist zu überschwenglich und kindisch, ausgenommen die zweite Hälfte von Band 10, der Index, der voll sachlicher Informationen steckt. Aber er verweilt lange bei den Abbildungen, besonders den Fotos von Marmorstatuen, nackten Männern und Frauen mit Tuchfähnchen um die Lenden. Glatte, schlanke Marmormädchen bevölkern seine erotischen Träume.
Das Überraschende an seinen Erkältungen ist, wie schnell sie vorübergehen oder scheinbar vorübergehen. Um elf hat das Niesen aufgehört, ist der Brummschädel verschwunden, es geht ihm gut. Er hat genug vom verschwitzten, unangenehm riechenden Schlafanzug, von den muffigen Decken und der durchgelegenen Matratze, von den feuchten Taschentüchern überall. Er steht auf, zieht sich aber nicht an – das hieße, sein Glück zu sehr auf die Probe stellen. Er gibt acht, daß er sich nicht draußen zeigt, damit ihn kein Nachbar oder jemand, der vorbeikommt, verrät, und spielt mit dem Meccano-Baukasten oder ordnet Briefmarken in sein Album, fädelt Knöpfe auf oder flicht Kordeln aus übriggebliebenen Wollsträngen. Seine Schublade ist voller geflochtener Kordeln, die zu nichts taugen, außer zu Gürteln für den Morgenmantel, den er nicht besitzt. Wenn die Mutter in sein Zimmer kommt, versucht er, so elend wie nur möglich auszusehen, und wappnet sich gegen ihre spitzen Bemerkungen.
Alle verdächtigen ihn, daß er nur schauspielert. Er kann seine Mutter nie davon überzeugen, daß er wirklich krank ist; wenn sie seinen Bitten nachgibt, tut sie es unwillig und nur, weil sie ihm nichts abschlagen kann. Seine Schulkameraden halten ihn für einen Weichling und ein Muttersöhnchen.
Doch die Wahrheit ist, daß er oft morgens aufwacht und um Luft ringt; Niesanfälle schütteln ihn minutenlang, bis er keucht und weint und sterben möchte. Diese Anfälle sind nicht gespielt.
Die Vorschrift besagt, daß man eine schriftliche Entschuldigung vorweisen muß, wenn man in der Schule gefehlt hat. Er kennt den Standardbrief seiner Mutter auswendig: »Entschuldigen Sie bitte Johns Fernbleiben gestern. Er hatte eine starke Erkältung, und ich hielt es für ratsam, daß er im Bett bleibt. Hochachtungsvoll.« Mit einem flauen Gefühl gibt er diese Briefe ab, die seine Mutter als Lügen schreibt und die als Lügen gelesen werden.
Wenn er zum Ende des Schuljahres die Tage seiner Abwesenheit zusammenzählt, hat er fast jeden dritten Tag gefehlt. Und trotzdem ist er immer noch Klassenerster. Er schlußfolgert daraus, daß nicht wichtig ist, was im Klassenzimmer vor sich geht. Er kann alles jederzeit zu Hause nachholen. Wenn es nach ihm ginge, würde er das ganze Jahr über fehlen und nur zu den Prüfungen erscheinen.
Seine Lehrer erzählen nichts, was nicht schon im Lehrbuch steht. Er blickt deshalb nicht auf sie herab, die anderen Jungen auch nicht. Ja, es gefällt ihm nicht, wenn immer mal wieder die Unwissenheit eines Lehrers deutlich wird. Wenn er könnte, würde er seine Lehrer beschützen. Aufmerksam lauscht er jedem ihrer Worte. Aber er lauscht weniger, um zu lernen, als um nicht beim Tagträumen erwischt zu werden (»Was habe ich gerade gesagt? Wiederhole, was ich gerade gesagt habe«), damit er nicht vor die Klasse treten muß und erniedrigt wird.
Er ist davon überzeugt, daß er anders, daß er etwas Besonderes ist. Warum er auf der Welt ist, weiß er noch nicht.
Er vermutet, daß er kein Artus oder Alexander sein wird, die schon zu Lebzeiten verehrt wurden. Ihn wird man erst würdigen, wenn er tot ist.
Er wartet auf seine Berufung. Wenn der Ruf kommt, wird er bereit sein. Ohne Zögern wird er ihm folgen, auch wenn er in den Tod gehen müßte, wie die britischen Kavalleristen der Light Brigade, die im Krimkrieg gegen russische Kanonen anritten.
Den Maßstab, an dem er sich mißt, ist der des VC, des Viktoria-Kreuzes. Nur die Engländer haben das VC. Die Amerikaner haben es nicht, zu seiner Enttäuschung auch die Russen nicht. Die Südafrikaner haben es ganz sicher nicht.
Es entgeht ihm nicht, daß VC die Initialen seiner Mutter sind.
Südafrika ist ein Land ohne Helden. Wolraad Woltemade würde vielleicht zu den Helden zählen, wenn er nicht so einen ulkigen Namen hätte. Immer wieder ins stürmische Meer hinauszuschwimmen, um unglückliche Seeleute zu retten, ist bestimmt mutig; aber wer war denn mutig, der Mann oder das Pferd? Bei dem Gedanken an Wolraad Woltemades Schimmel, der sich standhaft erneut in die Wellen stürzt (ihm gefällt der verstärkte Nachdruck von standhaft), hat er einen Kloß im Hals.
Vic Toweel kämpft gegen Manuel Ortiz um den Weltmeistertitel im Bantamgewicht. Der Kampf findet an einem Samstagabend statt; er bleibt lange auf, um mit seinem Vater die Rundfunkreportage zu hören. In der letzten Runde stürzt sich Toweel, schon blutend und erschöpft, auf seinen Gegner. Ortiz schwankt; die Menge rast, die Stimme des Reporters ist heiser vom Schreien. Die Kampfrichter verkünden ihr Urteil: Südafrikas Viccie Toweel ist der neue Weltmeister. Er und der Vater schreien vor Begeisterung und fallen sich in die Arme. Er weiß nicht, wie er seiner Freude Ausdruck geben soll. Unwillkürlich packt er die Haare des Vaters und zieht mit aller Kraft daran. Sein Vater fährt zurück und sieht ihn seltsam an.
Tagelang sind die Zeitungen voll Bilder vom Kampf. Viccie Toweel ist ein Nationalheld. Was ihn angeht, so schwindet die Begeisterung rasch. Er ist immer noch glücklich, daß Toweel Ortiz geschlagen hat, aber er fragt sich allmählich, warum.
Was bedeutet ihm Toweel? Warum sollte er sich nicht frei für Toweel oder Ortiz beim Boxsport entscheiden können, wie er sich beim Rugby für die Hamiltons oder die Villagers entscheiden kann? Ist er verpflichtet, Anhänger von Toweel zu sein, diesem häßlichen kleinen Mann mit den krummen Schultern, der großen Nase und den winzigen glänzend-schwarzen Äuglein, weil Toweel (trotz seines komischen Namens) Südafrikaner ist? Müssen Südafrikaner andere Südafrikaner unterstützen, auch wenn sie die gar nicht kennen?
Der Vater ist keine Hilfe. Der Vater äußert nie etwas Überraschendes. Ausnahmslos sagt er vorher, daß Südafrika gewinnen wird, oder daß Western Province gewinnen wird, sei es beim Rugby, beim Cricket oder bei einem anderen Sport.
»Was denkst du, wer wird gewinnen?« fordert er den Vater am Tag vor dem Spiel Western Province gegen Transvaal heraus.
»Western Province, haushoch«, antwortet der Vater wie ein Automat. Sie hören sich die Reportage vom Spiel im Radio an, und Transvaal gewinnt. Der Vater ist ungerührt. »Nächstes Jahr gewinnt Western Province«, sagt er; »wart’s nur ab.«
Es scheint ihm einfältig, zu glauben, Western Province werde gewinnen, nur weil man aus Kapstadt stammt. Es ist besser, man glaubt, Transvaal gewinnt, und ist dann positiv überrascht, wenn es nicht so kommt.
In seiner Hand spürt er immer noch, wie sich das Haar seines Vaters angefühlt hat – grob, kräftig. Das Gewaltsame seiner Handlung erstaunt und verstört ihn. Er hat sich noch nie soviel Freiheit dem Vater gegenüber herausgenommen. Er möchte lieber nicht, daß es noch einmal passiert.