Vier

Das große Geheimnis seines Schullebens, das Geheimnis, das er keinem zu Hause verrät, besteht darin, daß er römischkatholisch geworden ist, daß er tatsächlich römischkatholisch »ist«.

  Das Thema läßt sich zu Hause schlecht zur Sprache bringen, weil ihre Familie nichts »ist«. Sie sind natürlich Südafrikaner, doch das Südafrikanertum ist ein wenig peinlich, und man spricht deshalb nicht darüber, weil nicht jeder, der in Südafrika lebt, Südafrikaner ist, jedenfalls kein richtiger Südafrikaner.

  Der Religion nach sind sie ganz bestimmt nichts. Nicht einmal in der Familie des Vaters, die viel zuverlässiger und normaler ist als die der Mutter, geht irgendeiner in die Kirche. Er selbst ist nur zweimal im Leben in einer Kirche gewesen: einmal, um getauft zu werden, und einmal, um den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu feiern.

  Die Entscheidung, römisch-katholisch zu »sein«, geschah ganz spontan. Am ersten Morgen in der neuen Schule werden er und die drei anderen neuen Schüler zurückgehalten, während die übrige Klasse zur Morgenandacht in die Aula geführt wird. »Welcher Konfession bist du?« fragt die Lehrerin jeden von ihnen. Er blickt nach rechts und nach links. Wie lautet die richtige Antwort? Was gibt es für Konfessionen zur Auswahl? Ist es wie bei Russen und Amerikanern? Jetzt ist er an der Reihe. »Welcher Konfession bist du?« fragt die Lehrerin. Er schwitzt, er weiß nicht, was er sagen soll. »Bist du evangelisch oder römisch-katholisch oder jüdisch?« fragt sie ungeduldig. »Römisch-katholisch«, sagt er.

  Als die Befragung vorbei ist, wird ihm und einem anderen Schüler, der sich als jüdisch bezeichnet hat, bedeutet, dazubleiben; die zwei, die gesagt haben, sie seien evangelisch, gehen fort zur Andacht.

  Sie warten ab, was passiert. Doch nichts passiert. Die Korridore sind leer, im Gebäude ist es still, es sind keine Lehrer zu sehen.

  Sie schlendern auf den Schulhof, wo sie sich dem Haufen der anderen zurückgebliebenen Jungen anschließen. Es ist Murmelsaison; in der ungewohnten Stille des leeren Hofes, wo Taubenrufe oben in der Luft und von fern Gesang zu hören sind, spielen sie mit Murmeln. Die Zeit verstreicht. Dann läutet es zum Ende der Morgenandacht. Die übrigen Schüler marschieren in Reihen aus der Aula, eine Klasse nach der anderen. Einige scheinen schlechter Laune zu sein. »Jood!« zischt ihn ein Afrikaanerjunge im Vorbeigehen an: Jude! Als sie sich wieder ihrer Klasse anschließen, lächelt keiner.

  Die Episode beunruhigt ihn. Er hofft, daß man ihn und die anderen neuen Schüler noch einmal zurückhält und auffordert, neu zu wählen. Dann kann er, der offensichtlich einen Fehler gemacht hat, sich korrigieren und evangelisch sein. Doch es gibt keine zweite Gelegenheit.

  Zweimal die Woche wiederholt sich die Trennung der Schafe von den Geißböcken. Während Juden und Katholiken sich selbst überlassen bleiben, gehen die evangelischen Christen zur Morgenandacht, singen Kirchenlieder und bekommen eine Predigt zu hören. Als Rache dafür, und als Rache für das, was die Juden Christus angetan haben, fangen die Afrikaanerjungen – groß, brutal, bullig – manchmal einen Juden oder einen Katholiken und boxen ihm in den Bizeps, kurze, tückische Schläge mit den Knöcheln, oder stoßen ihm die Knie in die Eier oder drehen ihm die Arme auf den Rücken, bis er um Gnade fleht. »Asseblief!« wimmert der Junge: Bitte! »Jood!« zischen sie zur Antwort: »Jood! Vuilgoed!« Jude! Dreck!

  Eines Tages nehmen ihn zwei Afrikaanerjungen in der Pause in die Zange und zerren ihn in die entlegenste Ecke des Rugbyfeldes. Einer von ihnen ist sehr groß und fett. Er fleht sie an. »Ek is nie ‘n Jood nie«, sagt er: Ich bin kein Jude. Er bietet ihnen an, daß sie sein Fahrrad benutzen dürfen, bietet ihnen das Fahrrad für den Nachmittag an. Je mehr er plappert, desto breiter grinst der Fette. Das mag er offensichtlich: das Flehen, die Erniedrigung.

  Der Fette holt etwas aus seiner Hemdtasche hervor, etwas, was allmählich erklärt, warum er in diesen ruhigen Winkel gezerrt worden ist: eine sich windende grüne Raupe. Der Freund dreht ihm die Arme auf den Rücken; der Fette preßt auf seine Kiefergelenke, bis sich sein Mund öffnet, dann stopft er ihm die Raupe in den Mund. Er spuckt sie aus, sie ist schon beschädigt, sondert schon ihre Körpersäfte ab. Der Fette zerquetscht sie und schmiert sie ihm über die Lippen. »Jood!« sagt er und wischt sich die Hände im Gras ab.

  Er hatte sich an diesem schicksalsträchtigen Morgen für römisch-katholisch entschieden wegen Rom, wegen Horatius und seinen beiden Kameraden, die mit Schwertern in der Hand, verzierte Helme auf dem Kopf, unbezähmbaren Mut im Blick, die Brücke über den Tiber gegen die etruskischen Horden verteidigten. Jetzt entdeckt er nach und nach durch die anderen katholischen Schüler, was römisch-katholisch wirklich bedeutet. Römisch-katholisch hat nichts mit Rom zu tun. Römisch-katholische Christen kennen Horatius nicht einmal vom Hörensagen. Römisch-katholische Christen gehen freitagnachmittags zum Katechismus; sie gehen zur Beichte; sie empfangen die Kommunion. Das machen die römisch-katholischen Christen.

  Die älteren katholischen Schüler nehmen ihn beiseite und fragen ihn aus: Ist er zum Katechismus gewesen, ist er zur Beichte gewesen, hat er die Kommunion empfangen? Katechismus? Beichte? Kommunion? Er weiß nicht einmal, was die Worte bedeuten. »Früher in Kapstadt bin ich hingegangen«, weicht er aus. »Wo?« fragen sie. Er kennt keine Kirche in Kapstadt mit Namen, doch sie auch nicht. »Komm am Freitag zum Katechismus«, befehlen sie ihm. Als er nicht erscheint, informieren sie den Priester, daß es in Klasse Drei einen Apostaten gibt. Der Priester schickt eine Botschaft, die sie übermitteln: Er muß zum Katechismus kommen. Er hat den Verdacht, daß sie die Botschaft selbst erfunden haben, doch am nächsten Freitag bleibt er zu Hause und im Bett.

  Die älteren katholischen Schüler machen ihm nun klar, daß sie ihm seine Geschichten, er sei in Kapstadt Katholik gewesen, nicht abnehmen. Aber er ist schon zu weit gegangen, er kann nicht mehr zurück. Wenn er jetzt sagt: »Ich habe mich geirrt, ich bin in Wirklichkeit evangelisch«, ist er blamiert. Und außerdem, auch wenn er die höhnischen Bemerkungen der Afrikaaner und die Verhöre der echten Katholiken ertragen muß, sind die zwei Freistunden pro Woche es nicht wert, freie Zeit, in der er auf den leeren Sportplätzen herumwandern und sich mit den Juden unterhalten kann?

  An einem Samstagnachmittag, als ganz Worcester, von der Hitze betäubt, eingeschlafen ist, holt er sein Fahrrad hervor und fährt zur Dorp Street.

  Für gewöhnlich macht er einen weiten Bogen um die Dorp Street, weil dort die katholische Kirche ist. Doch heute ist die Straße leer, kein Laut ist zu hören außer dem leisen Rauschen des Wassers in den Rinnen. Er fährt gleichgültig vorüber und tut so, als sehe er gar nicht hin.

  Die Kirche ist nicht so groß, wie er sie sich vorgestellt hat. Sie ist ein niedriges, kahles Gebäude mit einer kleinen Statue über dem Säulenvorbau: die Jungfrau, mit verhülltem Haupt und Kind auf dem Arm.

  Er kommt am Ende der Straße an. Er würde gern umdrehen und einen zweiten Blick riskieren, doch er hat Angst, daß er sein Glück überstrapaziert, daß ein Priester in Schwarz auftaucht und ihm Halt gebietet.

  Die katholischen Schüler setzen ihm zu und machen höhnische Bemerkungen, die evangelischen Christen verfolgen ihn, aber die Juden fällen kein Urteil. Die Juden tun so, als würden sie nichts bemerken. Auch die Juden tragen Schuhe. Bei den Juden fühlt er sich fast ein bißchen wohl. Die Juden sind ganz in Ordnung.

  Trotzdem muß man sich bei den Juden vorsehen. Denn die Juden sind überall, die Juden erobern das Land. Er hört das überall, doch besonders von seinen Onkeln, den zwei unverheirateten Brüdern seiner Mutter, wenn sie zu Besuch sind. Norman und Lance kommen jeden Sommer, wie Zugvögel, wenn auch selten zur gleichen Zeit. Sie schlafen auf dem Sofa, stehen um elf Uhr vormittags auf, wandern stundenlang im Haus herum, halb angezogen, zerzaust. Beide haben Autos; manchmal können sie zu einer Spritztour mit dem Auto überredet werden, doch sie scheinen ihre Zeit lieber mit Rauchen, Teetrinken und Gesprächen über die alten Tage zuzubringen. Dann essen sie zu Mittag, und nach dem Essen spielen sie bis Mitternacht mit jedem, den sie zum Aufbleiben überreden können, Poker oder Rommé.

  Gern hört er zu, wenn die Mutter und die Onkel zum tausendsten Mal die Ereignisse aus ihrer Kindheit auf der Farm durchgehen. Nie ist er glücklicher, als wenn er diesen Geschichten lauscht, dem Necken und Gelächter, das sie begleitet. Seine Freunde stammen nicht aus Familien mit solchen Geschichten. Das hebt ihn heraus: die beiden Farmen im Hintergrund, die Farm der Mutter, die Farm des Vaters und die Geschichten von diesen Farmen. Durch die Farmen hat er Wurzeln in der Vergangenheit; durch die Farmen hat er Substanz.

  Es gibt noch eine dritte Farm: Skipperskloof, bei Williston. Die Familie hat dort keine Wurzeln, es ist eine Farm, in die eingeheiratet wurde. Trotzdem ist auch Skipperskloof wichtig. Alle Farmen sind wichtig. Farmen sind Orte der Freiheit, des Lebens.

  Durch die Geschichten, die Norman und Lance und die Mutter erzählen, huschen jüdische Gestalten, komisch, schlau, aber auch verschlagen und herzlos, wie Schakale. Juden aus Oudtshoorn besuchten jedes Jahr die Farm, um von ihrem Vater, seinem Großvater, Straußenfedern zu kaufen. Sie überredeten ihn, die Wollschafe aufzugeben und nur Strauße zu züchten. Strauße würden ihn reich machen, sagten sie. Dann brach eines Tages der Markt für Straußenfedern zusammen. Die Juden wollten keine Federn mehr kaufen, und der Großvater machte Bankrott. Alle in der Gegend gingen bankrott, und die Juden übernahmen ihre Farmen. So operieren die Juden, sagt Norman: Einem Juden darf man niemals trauen.

  Sein Vater erhebt Einwände. Der Vater kann es sich nicht leisten, die Juden herunterzumachen, da sein Arbeitgeber Jude ist. Standard Canners, wo er als Buchhalter arbeitet, gehört Wolf Heller. Tatsächlich ist es Wolf Heller gewesen, der ihn von Kapstadt nach Worcester gebracht hat, als er seine Arbeit im öffentlichen Dienst verloren hat. Die Zukunft ihrer Familie ist an die Zukunft von Standard Canners gebunden, die Wolf Heller, in den wenigen Jahren seit der Übernahme des Betriebes durch ihn, zu einem Giganten der Konservenindustriewelt gemacht hat. Standard Canners hat großartige Perspektiven, sagt der Vater, für einen studierten Juristen wie ihn.

  Wolf Heller unterliegt also nicht der generellen Kritik an den Juden. Wolf Heller kümmert sich um seine Angestellten. Zu Weihnachten macht er ihnen sogar Geschenke, obwohl Weihnachten den Juden nichts bedeutet.

  Es gehen keine Heller-Kinder in die Schule von Worcester. Wenn es überhaupt Heller-Kinder gibt, dann hat man sie vermutlich nach Kapstadt in die SACS geschickt, eine jüdische Schule in jeder Beziehung, nur nicht dem Namen nach. Es gibt auch keine jüdischen Familien in Reunion Park. Die Juden von Worcester wohnen im älteren, grüneren, schattigeren Stadtteil. Obwohl es jüdische Schüler in seiner Klasse gibt, wird er nie von ihnen nach Hause eingeladen. Er sieht sie nur in der Schule, rückt ihnen in der Zeit der Morgenandacht näher, wenn Juden und Katholiken isoliert und der Wut der evangelischen Christen ausgesetzt sind.

  Doch hin und wieder wird die Befreiung von der Morgenandacht aus unklaren Gründen aufgehoben, und sie werden in die Aula befohlen.

  Die Aula ist immer brechend voll. Ältere Schüler sitzen auf den Stühlen, während sich die Jungen aus den kleinen Klassen auf dem Fußboden zusammendrängen. Die Juden und Katholiken – vielleicht zwanzig insgesamt – bahnen sich zwischen ihnen den Weg, suchen einen Platz. Heimlich greifen Hände nach ihren Knöcheln und versuchen, sie zu Fall zu bringen.

  Der Dominee ist schon auf dem Podium, ein blasser junger Mann im schwarzen Anzug und mit weißem Schlips. Er predigt mit hoher, eintöniger Stimme, die langen Vokale dehnt er, und seine Aussprache ist überdeutlich. Wenn die Predigt vorbei ist, müssen sie sich zum Gebet erheben. Wie verhält sich ein Katholik richtig während eines evangelischen Gebets? Schließt er die Augen und bewegt die Lippen, oder tut er so, als wäre er gar nicht da? Er kann keinen von den echten Katholiken sehen; er blickt ausdruckslos und läßt die Augen schielen.

  Der Dominee setzt sich. Die Gesangbücher werden ausgeteilt; jetzt ist Gesang an der Reihe. Eine der Lehrerinnen tritt vor, um zu dirigieren. »Al die veld is vrolik, al die voeltjies sing«, singen die kleinen Schüler. Dann erheben sich die älteren Schüler. »Uit die blou van onse hemel«, singen sie mit ihren tiefen Stimmen, stramm stehend, den Blick geradeaus: die Nationalhymne, ihre Nationalhymne. Vorsichtig, ängstlich, fallen die Jüngeren ein. Über sie gebeugt, mit den Armen wedelnd, als schaufle sie Federn, versucht die Lehrerin sie aufzurichten, zu ermuntern. »Ons sal antwoord op jou roepstem, ons sal offer wat jy vra«, singen sie: Wir werden deinem Ruf folgen.

  Endlich ist es vorbei. Die Lehrer steigen vom Podium, zuerst der Direktor, dann der Dominee, dann alle übrigen. Die Jungen verlassen nacheinander die Aula. Eine Faust stößt ihn in die Nieren, ein kurzer, schneller Schlag, keiner sieht es. »Jood!« flüstert eine Stimme. Dann ist er draußen, er ist frei, er kann wieder frische Luft atmen.

  Trotz der Drohungen der echten Katholiken, trotz der über ihm schwebenden Möglichkeit, daß der Priester seine Eltern besucht und ihn entlarvt, ist er dankbar für die Inspiration, die ihn Rom wählen ließ. Er ist der Kirche dankbar, die ihm Unterschlupf gewährt; er bedauert nichts, wünscht sich nicht, kein Katholik mehr zu sein. Wenn Christ sein bedeutet, Kirchenlieder zu singen und Predigten anzuhören und danach herauszukommen und Juden zu quälen, dann hat er kein Verlangen, Christ zu sein. Es ist nicht seine Schuld, wenn die Katholiken von Worcester katholisch sind, ohne römisch zu sein, wenn sie nichts von Horatius und seinen Kameraden wissen, die die Brücke über den Tiber verteidigen (»Tiber, Vater Tiber, zu dem wir Römer beten«), nichts von Leonidas und seinen Spartanern, die den Paß bei Thermopylae verteidigen, von Roland, der den Paß gegen die Sarazenen verteidigt. Nichts Heroischeres kann er sich ausmalen, als einen Paß zu verteidigen, nichts Edleres, als sein Leben für andere zu opfern, die später über dem Leichnam weinen werden. So würde er gern sein: ein Held. Damit sollte der wahre römisch-katholische Glauben zu tun haben.

  Es ist ein Sommerabend, kühl nach dem langen, heißen Tag.

  Er ist im Park, wo er mit Greenberg und Goldstein Cricket gespielt hat: Greenberg, der ein solider Schüler ist, aber kein guter Cricketspieler; Goldstein, der große braune Augen hat und Sandalen trägt und ziemlich flott ist. Es ist spät, halb acht ist längst vorbei. Der Park ist leer, abgesehen von ihnen. Sie müssen ihr Spiel abbrechen – es ist zu dunkel, um den Ball zu sehen. Also fechten sie Ringkämpfe aus, als wären sie wieder kleine Kinder, rollen im Gras herum, kitzeln sich, lachen und kichern. Er steht auf, holt tief Luft. Eine Woge des Glücks durchströmt ihn, er denkt: »Nie bin ich glücklicher im Leben gewesen. Ich würde gern immer mit Greenberg und Goldstein Zusammensein.«

  Sie trennen sich. Es stimmt. Er würde gern immer so leben, mit seinem Fahrrad durch die breiten und leeren Straßen von Worcester fahren, in der Dämmerung eines Sommertages, wenn man alle anderen Kinder hereingerufen hat und nur er noch unterwegs ist, wie ein König.