Drei

Aus der Stellung seines Vaters im Haushalt ist er nie schlau geworden. Es ist ihm eigentlich nicht klar, mit welchem Recht er überhaupt da ist. In einem normalen Haushalt ist der Vater das Oberhaupt, das gibt er gern zu – das Haus gehört ihm, Frau und Kinder leben unter seinem Regiment. Doch in ihrem Fall, und das trifft auch auf den Haushalt der beiden Schwestern seiner Mutter zu, bilden die Mutter und die Kinder das Zentrum, während der Mann nicht mehr als ein Anhängsel ist, einer, der zur Haushaltskasse beiträgt wie zum Beispiel ein zahlender Mieter.

  So weit seine Erinnerung reicht, hat er sich als Prinz des Hauses gefühlt und seine Mutter als seine fragwürdige Gönnerin und besorgte Beschützerin – besorgt und fragwürdig, weil, wie er weiß, ein Kind eigentlich nicht Herr im Hause sein sollte. Wenn er auf jemanden eifersüchtig sein könnte, dann nicht auf den Vater, sondern auf den jüngeren Bruder. Denn seine Mutter fördert auch seinen Bruder – sie fördert ihn, und weil sein Bruder klug ist, doch nicht so klug wie er selbst, und auch nicht so kühn oder unternehmungslustig, zieht sie ihn sogar vor. Ja, seine Mutter scheint immer die Fittiche über ihn zu breiten, bereit, Gefahren abzuwenden; während sie bei ihm nur irgendwo im Hintergrund ist, abwartet und lauscht, bereit, auf seinen Ruf hin zu ihm zu eilen.

  Er will, daß sie sich ihm gegenüber genauso verhält wie seinem Bruder gegenüber. Doch er wünscht sich das als Zeichen, als Beweis, nichts weiter. Er weiß, daß er einen Wutanfall bekäme, wenn sie ihn jemals bemuttern würde.

  Er treibt sie immer wieder in die Enge und fordert, daß sie gesteht, wen sie mehr liebt, ihn oder seinen Bruder. Stets weicht sie der Falle aus. »Ich liebe euch beide gleich«, behauptet sie lächelnd. Selbst mit seinen genialsten Fragen (Was wäre, wenn zum Beispiel im Haus ein Feuer ausbrechen würde und sie nur einen von ihnen retten könnte?) gelingt es ihm nicht, sie einzufangen. »Beide«, sagt sie – »ich würde euch ganz bestimmt beide retten. Aber es wird kein Feuer ausbrechen.« Obwohl er sich über sie lustig macht, weil sie so nüchtern denkt, respektiert er doch ihre hartnäckige Treue.

  Seine Wutausbrüche gegenüber seiner Mutter gehören zu den Dingen, die er vor der Welt draußen sorgfältig verborgen halten muß. Nur sie vier wissen, welche Zornesausbrüche er ihr zumutet, wie geringschätzig er sie behandelt. »Wenn deine Lehrer und Freunde wüßten, wie du mit deiner Mutter sprichst…«, sagt der Vater und droht ihm bedeutungsvoll mit dem Finger. Er haßt seinen Vater deswegen, weil er so deutlich den schwachen Punkt in seiner Rüstung sieht.

  Er will, daß der Vater ihn schlägt und in einen normalen Jungen verwandelt. Und gleichzeitig weiß er, wenn sein Vater es wagen würde, ihn zu schlagen, dann würde er nicht ruhen, bis er sich gerächt hätte. Wenn ihn sein Vater schlüge, würde er überschnappen – besessen werden, wie eine in die Enge getriebene Ratte, die hin und her springt und die giftigen Zähne fletscht, zu gefährlich, um sich ihr zu nähern.

  Zu Hause ist er ein unleidlicher Despot, in der Schule ein Lamm, zahm und fromm, in der zweiten Reihe von hinten sitzend, in der unauffälligsten Reihe, so daß niemand ihn beachtet, und vor Angst ganz starr, wenn das Prügeln losgeht. Durch das Führen dieses Doppellebens hat er sich die Last der Hochstapelei aufgeladen. Kein anderer muß so etwas ertragen, nicht einmal sein Bruder, der höchstens eine ängstliche, fade Imitation von ihm ist. Im Grunde genommen hat er den Verdacht, daß sein Bruder eigentlich normal ist. Er steht ganz allein da. Von keiner Seite kann er Hilfe erwarten. Er muß sich selbst darum kümmern, daß er die Kindheit irgendwie hinter sich bringt, die Familie und die Schule, und ein neues Leben erreicht, in dem er nichts mehr vortäuschen muß.

  Die Kindheit, steht in der Enzyklopädie für Kinder, ist eine Zeit der unschuldigen Freude, die man in den Wiesen zwischen Butterblumen und Häschen verbringt oder am Kamin, in ein Märchenbuch vertieft. Das ist eine Sicht auf die Kindheit, die ihm völlig fremd ist. Nichts was er in Worcester, zu Hause oder in der Schule, erlebt, bringt ihn auf den Gedanken, daß die Kindheit etwas anderes ist als eine Zeit, in der man die Zähne zusammenbeißen und durchhalten muß.

  Weil es keine Wölflingsgruppe in Worcester gibt, bekommt er die Erlaubnis, sich den Pfadfindern anzuschließen, obwohl er erst zehn ist. Für die Aufnahme bereitet er sich peinlich genau vor. Mit seiner Mutter geht er zum Spezialgeschäft, um die Uniform zu kaufen: den steifen olivbraunen Filzhut und das silberne Hutabzeichen, Khakihemd und -shorts und Strümpfe, Ledergürtel mit Pfadfinderschnalle, grüne Achselklappen, grüne Strumpfabzeichen. Er schneidet sich einen fünf Fuß langen Stock von einer Pappel, schält die Rinde ab und bringt einen Nachmittag damit zu, das gesamte Morse- und Winkeralphabet mit einem erhitzten Schraubenzieher in das weiße Holz zu brennen. Zu seinem ersten Pfadfindertreffen geht er mit seinem Stock, den er an einer grünen Kordel, die er selbst aus drei Stricken geflochten hat, über der Schulter trägt. Er schwört mit dem zweifingrigen Gruß und ist der bei weitem am makellosesten ausstaffierte der neuen Pfadfinder, der »Grünschnäbel«.

  Er stellt fest, daß es bei den Pfadfindern genau wie in der Schule darum geht, Prüfungen zu bestehen. Für jede bestandene Prüfung bekommt man ein Abzeichen, das man sich auf das Hemd näht.

  Die Prüfungen werden in einer vorbestimmten Reihenfolge abgelegt. Die erste Prüfung besteht im Knotenknüpfen: der Kreuzknoten und der doppelte Kreuzknoten, der Verkürzungsstek, der Palstek. Er besteht die Prüfung, doch nicht mit Auszeichnung. Es ist ihm nicht klar, wie man diese Pfadfinder-Prüfungen mit Auszeichnung bestehen, wie man sich hervortun kann.

  Die zweite Prüfung ist für ein Waldarbeiter-Abzeichen. Man verlangt dabei von ihm, daß er ein Feuer anzündet, ohne Papier und mit nicht mehr als drei Streichhölzern. Auf dem nackten Boden neben der anglikanischen Kirche schichtet er an einem Winterabend mit einem kalten Wind seinen Haufen aus Zweigen und Rindenstücken, und dann zündet er unter den Blicken seines Scharführers und des Gruppenführers seine Streichhölzer eins nach dem anderen an. Jedesmal kommt kein Feuer zustande – jedesmal bläst der Wind die winzige Flamme aus. Der Gruppenführer und der Scharführer gehen fort. Sie sprechen die Worte: »Du hast nicht bestanden« nicht aus, deshalb ist er unsicher, ob er wirklich durchgefallen ist. Was, wenn sie sich zu einer Beratung zurückziehen und zum Schluß kommen, daß die Prüfung wegen des Windes ungültig ist? Er wartet auf ihre Rückkehr. Er wartet darauf, daß ihm das Waldarbeiter-Abzeichen trotzdem überreicht wird. Doch nichts geschieht. Er steht neben seinem Haufen Zweige, und nichts geschieht.

  Keiner erwähnt die Sache wieder. Das ist die erste Prüfung in seinem Leben, die er nicht bestanden hat.

  Jede Juniferien fährt die Pfadfindertruppe in ein Zeltlager. Er ist nie von seiner Mutter weg gewesen, abgesehen von einer Woche, die er mit vier Jahren im Krankenhaus zugebracht hat. Doch er ist entschlossen, mit den Pfadfindern zu fahren.

  Sie bekommen eine Liste mit Sachen, die sie mitbringen sollen. Dazu gehört eine Zeltplane. Die Mutter hat keine Zeltplane, sie weiß nicht einmal genau, was eine Zeltplane ist. Sie gibt ihm dafür eine rote Luftmatratze. Im Lager entdeckt er, daß alle anderen Jungen richtige khakifarbene Zeltplanen haben. Seine rote Matratze isoliert ihn sofort von den anderen. Er bringt es auch nicht fertig, sich über einer stinkenden Erdgrube zu entleeren.

  Am dritten Tag des Zeltlagers gehen sie im Breede-Fluß schwimmen. Obwohl er und sein Bruder und ihr Cousin, als sie in Kapstadt wohnten, oft mit dem Zug nach Fish Hoek fuhren und dort ganze Nachmittage lang über die Felsen kletterten, Sandburgen bauten und in den Wellen herumplanschten, kann er nicht richtig schwimmen. Jetzt, als Pfadfinder, muß er über den Fluß und wieder zurück schwimmen.

  Er haßt Flüsse, weil sie so schmutzig-trüb sind, weil ihm der Schlamm zwischen den Zehen durchquillt, weil er auf rostige Blechbüchsen und Scherben treten könnte; er zieht weißen Seesand vor. Doch er stürzt sich hinein und paddelt wild spritzend irgendwie hinüber. Am anderen Ufer klammert er sich an eine Baumwurzel, findet einen Fußhalt und steht bis zur Taille in trübem braunen Wasser, mit klappernden Zähnen.

  Die anderen Jungen machen kehrt und machen sich auf den Rückweg. Er bleibt allein zurück. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich wieder ins Wasser zu werfen.

  In der Mitte des Flusses ist er erschöpft. Er hört zu schwimmen auf und versucht, Grund zu finden, doch der Fluß ist zu tief. Sein Kopf taucht unter die Wasseroberfläche. Er versucht, wieder hochzukommen und zu schwimmen, aber die Kraft reicht nicht aus. Er geht ein zweites Mal unter.

  Er hat eine Vision: seine Mutter sitzt auf einem Stuhl mit hohem, geradem Rücken und liest den Brief, der von seinem Tod berichtet. Der Bruder steht neben ihr und liest über ihre Schulter mit.

  Das nächste, was er mitbekommt, ist, daß er am Ufer liegt und sein Scharführer, der Michael heißt und den er aus Schüchternheit nie angesprochen hat, breitbeinig über ihm steht. Er schließt die Augen und ihm ist wohl zumute. Er ist gerettet.

  Noch Wochen danach denkt er an Michael, wie Michael sein Leben riskiert hat, in den Fluß gesprungen ist und ihn gerettet hat. Jedesmal denkt er dann, wie wunderbar es doch ist, daß Michael es bemerkt hat – ihn bemerkt hat, bemerkt hat, daß er am Ende war. Verglichen mit Michael (der in Klasse sieben geht und alle Abzeichen hat, außer den höchsten, und bald Königspfadfinder sein wird) ist er unbedeutend. Es wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn Michael ihn nicht untergehen gesehen hätte, ja, ihn nicht einmal vermißt hätte, bis alle wieder im Lager waren. Dann wäre Michaels Aufgabe einfach gewesen, den Brief an die Mutter zu schreiben, den kühlen, förmlichen Brief, der so anfing: »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen…«

  Von diesem Tag an weiß er, daß etwas Besonderes an ihm ist. Er hätte sterben sollen, doch er ist nicht gestorben. Trotz seiner Unwürdigkeit ist ihm ein zweites Leben geschenkt worden. Er war tot und ist doch lebendig.

  Von dem Vorfall im Zeltlager verrät er der Mutter kein Sterbenswörtchen.