Sechs
Obwohl er jeden Samstagnachmittag ins Kino geht, fesseln ihn die Filme nicht mehr so wie damals in Kapstadt, wo ihn Alpträume verfolgten, in denen er unter Fahrstühlen zerquetscht wurde oder von Felsen stürzte, wie die Serienhelden. Er weiß nicht, warum Errol Flynn, der immer gleich aussieht, ob er nun Robin Hood oder Ali Baba spielt, ein großer Schauspieler sein soll. Er hat Verfolgungsjagden zu Pferde satt, die immer das gleiche sind. Die Drei Stooges wirken allmählich einfältig. Und es ist schwer, an Tarzan zu glauben, wenn Tarzan immer von einem anderen gespielt wird.
Der einzige Film, der Eindruck auf ihn macht, ist der, in dem Ingrid Bergman in einen Waggon einsteigt, der mit Pocken infiziert ist, und stirbt. Ingrid Bergman ist die Lieblingsschauspielerin seiner Mutter. Ist denn das Leben so – könnte seine Mutter jederzeit sterben, nur weil sie ein Schild in einem Fenster übersehen hat?
Dann gibt es noch das Radio. Für die Kinderstunde ist er zu groß, doch den Serien bleibt er treu: Superman jeden Tag um fünf (»Up! Up and Away!«), Mandra, der Zauberer um halb sechs. Seine Lieblingsgeschichte ist »Die Schneegans« von Paul Gallico, die der A-Sender auf allgemeinen Wunsch immer wieder ausstrahlt. Das ist die Geschichte einer Wildgans, die den Schiffen den Weg vom Strand von Dünkirchen zurück nach Dover zeigt. Er lauscht mit Tränen in den Augen. Eines Tages möchte er so treu sein wie die Schneegans. Sie bringen Die Schatzinsel in einer Hörspielfassung im Radio, jede Woche eine halbstündige Episode. Er hat sein eigenes Exemplar der Schatzinsel; aber er hat sie gelesen, als er noch zu klein war und die Sache mit dem Blinden und dem schwarzen Fleck nicht verstehen konnte, nicht herausfinden konnte, ob Long John Silver gut oder böse war. Jetzt hat er nach jeder Radiofolge Alpträume, die sich um Long John drehen – um die Krücke, mit der er Menschen umbringt, seine falsche, sentimentale Besorgtheit um Jim Hawkins. Er wünscht sich, Squire Trelawny würde Long John töten, anstatt ihn ziehen zu lassen – er ist gewiß, daß er eines Tages mit seinen halsabschneiderischen Meuterern zurückkommen wird, um Rache zu nehmen, so wie es in seinen Träumen geschieht.
Die Schweizer Familie Robinson ist viel tröstlicher. Er hat eine hübsche Ausgabe des Buches mit farbigen Illustrationen.
Besonders gefällt ihm das Bild von dem Schiff, wie es unter den Bäumen auf Stapel liegt. Das Schiff, gebaut mit Werkzeugen, die von der Familie aus dem Wrack geborgen wurden, soll sie mit allen ihren Tieren wieder nach Hause bringen, wie Noahs Arche. Es ist ein Vergnügen, als gleite man in ein warmes Bad, wenn man die Schatzinsel hinter sich läßt und die Welt der Schweizer Familie betritt. In der Schweizer Familie gibt es keine bösen Brüder, keine mörderischen Piraten; in ihrer Familie arbeiten alle vergnügt zusammen unter der Leitung eines klugen, starken Vaters (die Bilder zeigen ihn mit gewölbtem Brustkasten und langem kastanienbraunen Bart), der von Anfang an weiß, was zu tun ist, um sie zu retten. Er fragt sich nur, warum müssen sie, wenn sie es so gemütlich haben auf der Insel und glücklich sind, überhaupt weg von dort.
Er besitzt noch ein drittes Buch, Scott von der Antarktis. Captain Scott ist einer seiner unbestrittenen Helden – deshalb hat er das Buch geschenkt bekommen. Es enthält Fotos, darunter eins von Scott, wie er in dem Zelt sitzt und schreibt, in dem er später erfroren ist. Er schaut sich die Fotos oft an, aber mit dem Lesen kommt er nicht weit – das Buch ist langweilig, es erzählt keine Geschichte. Ihm gefällt nur das Stück über Titus Oates, den Mann mit den Erfrierungen, der in die Nacht hinausging, weil er seine Kameraden nicht aufhalten wollte. Er ging hinaus in Schnee und Eis und kam um, still, ohne Aufsehen. Er hofft, daß er eines Tages Titus Oates gleichen kann.
Einmal im Jahr kommt der Zirkus Boswell nach Worcester. Alle in seiner Klasse gehen hin; eine Woche lang ist nur vom Zirkus die Rede und von nichts sonst. Sogar die farbigen Kinder gehen hin, auf ihre Art – sie drücken sich stundenlang draußen vor dem Zelt herum, hören der Band zu, linsen durch Ritzen.
Sie nehmen sich vor, am Samstagnachmittag zu gehen, wenn der Vater Cricket spielt. Die Mutter macht es zu einem Ausflug für sie drei. Doch an der Kasse hört sie erschrocken von den hohen Samstagnachmittags-Preisen: zwei Pfund sechs Shilling für Kinder, fünf Pfund für Erwachsene. Sie hat nicht genug Geld dabei. Sie kauft Eintrittskarten für ihn und seinen Bruder. »Geht rein, ich warte hier«, sagt sie. Er mag nicht, doch sie besteht darauf.
Drinnen im Zelt ist er unglücklich, hat an nichts Spaß; er vermutet, daß es seinem Bruder auch so geht. Als sie nach Ende der Vorstellung herauskommen, ist sie noch da. Selbst Tage danach wird er den Gedanken daran nicht los: Wie die Mutter geduldig in der glühenden Dezemberhitze wartet, während er im Zirkuszelt sitzt und königlich unterhalten wird.
Ihre blinde, überwältigende, aufopfernde Liebe für sie beide, ihn und seinen Bruder, doch für ihn besonders, beunruhigt ihn.
Er wünschte, sie würde ihn nicht so lieben. Sie liebt ihn bedingungslos, daher muß er sie auch bedingungslos lieben – das ist die Logik, die sie ihm aufzwingt. Es wird ihm nie gelingen, all die Liebe, mit der sie ihn überschüttet, zurückzugeben. Der Gedanke an ein Leben, gebeugt unter der Schuldenlast von Liebe, irritiert ihn und macht ihn so wütend, daß er sie nicht küssen will, sich nicht von ihr anfassen läßt.
Wenn sie sich schweigend und verletzt abwendet, verhärtet er ganz bewußt sein Herz gegen sie und weigert sich, nachzugeben.
Manchmal, wenn sie verbittert ist, führt sie lange Selbstgespräche, vergleicht ihr Leben in der trostlosen Siedlung mit dem Leben, das sie vor ihrer Ehe geführt hat und das sie als ununterbrochene Folge von Partys und Picknicks schildert, von Wochenendbesuchen auf Farmen, von Tennis und Golf und Spaziergängen mit ihren Hunden. Sie spricht mit flüsternder Stimme, bei der nur die Zischlaute hervortreten; er und sein Bruder in ihren Zimmern spitzen die Ohren, und sie muß das wissen. Das ist noch ein Grund, warum der Vater sie eine Hexe nennt – weil sie Selbstgespräche führt und Beschwörungen ausstößt.
Das idyllische Leben in West-Viktoria wird durch Fotos aus den Alben bestätigt: seine Mutter, die mit anderen Frauen in langen weißen Kleidern mit Tennisschlägern an einem Ort herumsteht, der aussieht, als befände er sich mitten im Veld, seine Mutter mit dem Arm um den Hals eines Hundes, eines Schäferhundes.
»War das dein Hund?« fragt er.
»Das ist Kim. Er war der beste, treuste Hund, den ich je gehabt habe.«
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Er hat vergiftetes Fleisch gefressen, das die Farmer für die Schakale ausgelegt hatten. Er starb in meinen Armen.«
In ihren Augen stehen Tränen.
Nachdem sein Vater in dem Album auftaucht, gibt es keine Hunde mehr. Dafür sieht er sie beide bei Picknicks mit Freunden jener Tage oder seinen Vater mit dem flotten Schnurrbärtchen und dem kecken Blick, wie er an der Motorhaube eines altmodischen schwarzen Autos lehnt. Dann kommen die Bilder von ihm selbst, Dutzende davon, angefangen mit dem Bild eines ausdruckslosen, pausbäckigen Babys, das von einer dunklen Frau mit eindringlichem Blick der Kamera entgegengestreckt wird.
Auf allen diesen Fotos, sogar auf denen mit dem Baby, wirkt seine Mutter mädchenhaft auf ihn. Ihr Alter ist ein Geheimnis, das ihn unaufhörlich fesselt. Sie will es ihm nicht verraten, sein Vater gibt vor, es nicht zu wissen, sogar ihre Geschwister scheinen Verschwiegenheit gelobt zu haben. Während ihrer Abwesenheit durchsucht er die Papiere im untersten Fach ihrer Frisierkommode und hält Ausschau nach einer Geburtsurkunde, doch ohne Erfolg. Durch eine Bemerkung, die ihr entschlüpft ist, weiß er, daß sie älter ist als der Vater, der 1912 geboren wurde; doch wieviel älter? Er legt 1910 als ihr Geburtsjahr fest. Das heißt, sie war dreißig, als er geboren wurde, und ist jetzt vierzig. »Du bist vierzig!« sagt er ihr eines Tages triumphierend und lauert auf Zeichen, daß er recht hat.
Sie lächelt geheimnisvoll. »Ich bin achtundzwanzig«, sagt sie.
Sie haben am gleichen Tag Geburtstag. An ihrem Geburtstag wurde er geboren. Das bedeutet, wie sie ihm gesagt hat, wie sie jedem sagt, daß er ein Geschenk Gottes ist.
Er nennt sie nicht Mutter oder Mama, sondern Dinny. Auch der Vater und sein Bruder nennen sie so. Woher kommt dieser Name? Keiner scheint es zu wissen; aber ihre Geschwister nennen sie Vera, deshalb kann er nicht aus der Kindheit stammen. Er muß aufpassen, damit er sie nicht vor Fremden Dinny nennt, wie er sich auch hüten muß, seine Tante und seinen Onkel einfach nur Norman und Ellen zu nennen, statt Onkel Norman und Tante Ellen. Doch wenn er wie ein gutes, gehorsames, normales Kind Onkel und Tante sagt, ist das nichts, verglichen mit den Umständlichkeiten von Afrikaans.
Afrikaaner haben Angst, einen Älteren mit du anzureden. Er äfft die Sprache seines Vaters nach: »Mammie moet ‘n kombers oor Mammie se kniee trek anders word Mammie kond« – Mami muß eine Decke über Mamis Knie legen, sonst wird es Mami kalt. Er ist froh, daß er kein Afrikaaner ist und nicht so reden muß wie ein ausgepeitschter Sklave.
Seine Mutter beschließt, einen Hund anzuschaffen. Schäferhunde sind die besten – die klügsten, die treusten Hunde, aber sie finden keinen Schäferhund, den sie kaufen können. Sie entscheiden sich also für einen Welpen, halb Dobermann, halb sonst was. Er besteht darauf, daß er ihm einen Namen geben kann. Er würde ihn gern Barsoi nennen, weil er ihn zum russischen Hund machen will, aber weil es kein echter Barsoi ist, nennt er ihn Kosak. Keiner versteht das.
Die Leute denken, er hieße kossak, Brotbeutel, was sie komisch finden.
Kosak entpuppt sich als verstörter, undisziplinierter Hund, der sich in der Nachbarschaft herumtreibt, Gärten zerwühlt, Hühner jagt. Eines Tages läuft ihm der Hund bis zur Schule hinterher. Nichts, was er versucht, kann ihn davon abhalten: wenn er schreit und Steine wirft, läßt der Hund die Ohren hängen, kneift den Schwanz ein und schleicht sich fort; doch sobald er das Fahrrad wieder besteigt, läuft er ihm erneut hinterher. Schließlich muß er ihn am Halsband nach Hause zerren und das Fahrrad mit der anderen Hand schieben.
Wütend kommt er zu Hause an und weigert sich, in die Schule zurückzukehren, weil er zu spät kommen würde.
Kosak ist noch nicht ausgewachsen, als er das zermahlene Glas frißt, das jemand für ihn ausgelegt hat. Die Mutter verordnet ihm Abführmittel und versucht, das Glas so auszuschwemmen, doch ohne Erfolg. Am dritten Tag, als der Hund nur noch still daliegt und keucht und nicht einmal mehr ihre Hand lecken will, schickt sie den Sohn in die Apotheke nach einem neuen Mittel, das ihr jemand empfohlen hat. Er rennt hin und wieder zurück, doch er kommt zu spät. Das Gesicht seiner Mutter verhärmt und verschlossen, sie nimmt ihm nicht einmal die Flasche ab.
Er hilft dabei, Kosak in eine Decke gewickelt hinten im Garten zu begraben. Über dem Grab errichtet er ein Kreuz, auf das er den Namen »Kosak« malt. Er will nicht, daß sie sich wieder einen Hund anschaffen, nicht wenn sie so sterben müssen.
Der Vater spielt Cricket für Worcester. Auch darauf könnte er sich eigentlich etwas einbilden, auch darauf könnte er stolz sein. Sein Vater ist Rechtsanwalt, was fast so gut ist wie Arzt; im Krieg war er Soldat; früher hat er in der Rugby-Liga von Kapstadt gespielt; jetzt spielt er Cricket. Aber in jedem Fall gibt es eine ärgerliche Einschränkung. Er ist Rechtsanwalt, praktiziert aber nicht mehr. Er war Soldat, aber nur Obergefreiter. Er hat Rugby gespielt, doch nur für die zweite Mannschaft von Gardens, und Gardens kann man vergessen, sie sind im Großen Pokalwettbewerb immer am Ende der Tabelle. Und jetzt spielt er Cricket, für die zweite Mannschaft von Worcester, für die sich keiner interessiert.
Sein Vater ist Werfer, nicht Schlagmann. Mit seiner Ausholbewegung stimmt etwas nicht, wodurch er keinen richtigen Schlag zustande bringt; außerdem wendet er die Augen ab, wenn der Ball mit hoher Geschwindigkeit kommt.
Seine Aktivitäten als Schlagmann beschränken sich offenbar darauf, das Schlagholz nach vorn zu schlagen und, wenn der Ball daran abprallt, einen gemächlichen Lauf zu machen.
Verantwortlich dafür, daß sein Vater als Schlagmann nichts taugt, ist natürlich seine Kindheit in der Karoo, wo es kein richtiges Cricket gab und keine Gelegenheit, es zu lernen.
Bowlen ist etwas anderes. Es ist eine Begabung: Werfer werden geboren, nicht gemacht.
Sein Vater bowlt langsame rechts drehende Bälle. Manchmal werden gegen ihn sechs Läufe erzielt; manchmal verliert der Schlagmann, wenn er den Ball langsam auf sich zusegeln sieht, den Kopf, holt wild aus und wird ausgeschlagen. Das scheint die Methode seines Vaters zu sein: Geduld, List.
Der Trainer für die Mannschaften von Worcester ist Johnny Wardle, der im nördlichen Sommer Cricket für England spielt.
Es ist ein Glücksfall für Worcester, daß Johnny Wardle sich entschlossen hat hierherzukommen. Als Vermittler wird Wolf Heller genannt, Wolf Heller und sein Geld.
Er steht mit seinem Vater hinter dem Übungsnetz und schaut zu, wie Johnny Wardle für die erste Schlagmannschaft bowlt.
Wardle, ein unauffälliger kleiner Mann mit spärlichem rotblonden Haar, soll ein langsamer Werfer sein, aber als er Anlauf nimmt und den Ball schleudert, ist er erstaunt, wie schnell der Ball ist. Der Schlagmann an der Linie erwischt den Ball ziemlich leicht und schlägt ihn vorsichtig ins Netz. Ein anderer bowlt, dann ist wieder Wardle an der Reihe. Wieder schlägt der Schlagmann den Ball behutsam fort. Der Schlagmann gewinnt nicht, doch auch der Werfer nicht.
Als der Nachmittag um ist, geht er enttäuscht nach Hause. Er hatte einen größeren Abstand zwischen dem Werfer für England und den Schlagmännern für Worcester erwartet. Er hatte erwartet, daß er Zeuge einer geheimnisvolleren Kunst werden und erleben würde, wie der Ball seltsame Dinge in der Luft und nach dem Aufsetzen tut, wie er fliegt und Rückspin und Drall bekommt, wie es bei tollen langsamen Werfern nach den Cricket-Büchern, die er liest, der Fall sein soll. Er hatte keinen geschwätzigen kleinen Mann erwartet, der sich nur dadurch hervortut, daß er Bälle mit Drall so scharf bowlt, wie er selbst es bei seinen am schärfsten gebowlten Bällen schafft.
Vom Cricket erwartet er mehr, als Johnny Wardle zu bieten hat. Cricket muß Horatius und den Etruskern gleichen, oder Hektor und Achilles. Wenn Hektor und Achilles nur zwei Männer wären, die mit Schwertern aufeinander losgingen, wäre an der Geschichte nichts Besonderes. Aber sie sind nicht bloß zwei Männer, sie sind große Helden, ihre Namen haben einen legendären Klang. Er ist froh, als Wardle zum Ende der Spielzeit aus der englischen Cricket-Mannschaft ausscheidet.
Wardle bowlt natürlich mit einem Lederball. Er kennt sich mit dem Lederball nicht aus; er und seine Freunde spielen mit einem sogenannten Korkball aus einer harten grauen Masse, der die Steine, von denen die Säume eines Lederballes zerfetzt werden, nichts anhaben können. Als er hinter dem Netz steht und Wardle zuschaut, hört er zum ersten Mal das seltsame Pfeifen eines Lederballs, der durch die Luft fliegt, auf den Schlagmann zu.
Dann bekommt er seine erste Chance, auf einem richtigen Cricketfeld zu spielen. Ein Match zwischen zwei Mannschaften der Grundschule wird für einen Mittwochnachmittag anberaumt. Richtiges Cricket bedeutet richtige Tore oder Wickets, ein richtiges Spielfeld, und man muß nicht darum kämpfen, daß man als Schlagmann drankommt.
Er ist an der Reihe. Ein Polster am linken Bein, das Schlagholz seines Vaters in der Hand, das viel zu schwer für ihn ist, geht er hinaus zur Spielfeldmitte. Er wundert sich, wie groß das Feld ist. Es ist ein großartiger und einsamer Ort – die Zuschauer sind so weit weg, daß sie ebensogut nicht vorhanden sein könnten.
Er nimmt seine Position auf dem gewalzten Streifen mit einer darübergebreiteten grünen Kokosmatte ein und erwartet den Ball. Das ist Cricket. Man bezeichnet es als Spiel, doch für ihn ist es wirklicher als sein Zuhause, wirklicher sogar als die Schule. Bei diesem Spiel gibt es keine Mogelei, keine Gnade, keine zweite Chance. Diese anderen Jungen, deren Namen er nicht kennt, sind alle gegen ihn. Sie sind sich nur einig darin, ihm den Spaß am Spiel sobald wie möglich zu nehmen. Wenn er ausgeschieden ist, werden sie nicht ein Fünkchen Bedauern spüren. In der Mitte dieser riesigen Arena muß er sich bewähren, einer gegen elf, und keiner beschützt ihn.
Die Feldspieler stellen sich auf. Er muß sich konzentrieren, doch etwas irritiert ihn und geht ihm nicht aus dem Sinn: Zenos Paradox. Ehe der Pfeil sein Ziel erreicht, muß er die Hälfte der Strecke bewältigen; ehe er die Hälfte bewältigt, muß er ein Viertel der Strecke bewältigen; ehe er ein Viertel bewältigt… Verzweifelt versucht er, nicht mehr daran zu denken; doch die bloße Tatsache, daß er nicht mehr daran zu denken versucht, regt ihn noch mehr auf.
Der Werfer nimmt Anlauf. Die letzten beiden Schritte hört er besonders deutlich. Es folgt eine Pause, in der nichts als das unheimliche Zischen des Balles zu vernehmen ist, der auf ihn zugeflogen kommt. Hat er sich dafür entschieden, als er sich fürs Cricketspiel entschieden hat: immer und immer wieder auf die Probe gestellt zu werden, bis er versagt? Auf die Probe gestellt von einem Ball, der unpersönlich, gleichgültig, erbarmungslos auf ihn zu kommt und nach der Lücke in seiner Verteidigung sucht, und das schneller, als er denkt, zu schnell, als daß er seine Verwirrung loswerden, sich konzentrieren und richtig entscheiden könnte, was zu tun sei. Und mitten in diesen Gedankengängen, mitten in dieser Kopflosigkeit ist der Ball da.
Er macht zwei Läufe, schlägt in einem Zustand der Konfusion, und später der Verzweiflung. Das Spiel entläßt ihn mit noch weniger Verständnis für die selbstverständliche Art von Johnny Wardle, zu spielen und dabei die ganze Zeit über zu schwatzen und zu scherzen. Ist das auch die Art der anderen berühmten englischen Cricketer: Len Hutton, Alec Bedser, Denis Compton, Cyril Washbrook? Er kann das nicht glauben.
Das wahre Cricket kann man nur schweigend spielen, glaubt er, schweigend und erwartungsvoll, mit klopfendem Herzen und trockenem Mund.
Cricket ist kein Spiel. Es ist das Leben, wie es wirklich ist.
Wenn es, wie die Bücher behaupten, eine Charakterprobe ist, dann ist es eine Probe, von der er nicht weiß, wie er sie bestehen soll, doch auch nicht, wie er sie umgehen kann. Am Wicket wird das Geheimnis, das er sonst bewahren kann, gnadenlos untersucht und aufgedeckt. »Laß sehen, woraus du gemacht bist«, sagt der Ball, als er pfeifend durch die Luft auf ihn zu fliegt. Blindlings, kopflos, schlägt er das Schlagholz nach vorn, zu früh oder zu spät. Am Schlagholz und an den Beinpolstern vorbei findet der Ball seinen Weg. Er ist ausgeschieden, er hat die Probe nicht bestanden, man hat ihn bloßgestellt, ihm bleibt nichts weiter übrig, als seine Tränen zu verstecken, sein Gesicht zu verbergen und zurückzutrotten, begleitet vom mitleidigen, einstudiert-höflichen Applaus der anderen Jungen.